Franz Werfels 1929 erschienener Roman »Barbara oder die Frömmigkeit« behandelt die Entwicklung des Offizierssohns und späteren Schiffsarztes Ferdinand von der Kindheit bis zum Zeitpunkt seiner ärztlichen Approbation. In der Erinnerung des Arztes entsteht das Bild einer Epoche, die mit dem Ersten Weltkrieg eine unabsehbare Katastrophe durchläuft und sich in der darauffolgenden Revolution erfolglos zu restaurieren versucht.
Anfangs erzählt der Roman, wie Ferdinand als Kind aus einer unglücklichen, früh scheiternden Ehe nur in der Kinderfrau Barbara Rückhalt findet. Ohne sie wäre er verloren, mit ihr hat er den lebenden Beweis für eine zuverlässige und aufopferungsbereite Liebe. Dieser Gegensatz wird von dem Roman in den Welthintergrund der Handlung projiziert: Die Welt der Eltern ist die Welt der gesellschaftlich bestimmenden Kräfte, sie verdient kein Vertrauen, wirkt sich in allem, was in ihr geschieht, zerstörerisch auf den Einzelnen aus. Die fromme Kinderfrau dagegen repräsentiert das einfache Volk, mehr noch den einzelnen machtlosen Menschen, der mit der richtigen Haltung zum Leben anderen Halt und Schutz bieten und damit Vorbild sein kann.
Am Ende des Romans steht ein letztes Opfer der gealterten Kinderfrau: Sie schenkt Ferdinand einen hohen Geldbetrag in Goldmünzen, den sie ihrem mühseligen Dasein abgetrotzt hat. Die Antwort Ferdinands darauf ist zwei Mal grotesk: Erst kehrt er, nachdem er den Schatz erhalten hat, von einem Spaziergang nicht zurück in das Haus der Geberin, die dort mit einem Mittagessen auf ihn wartet, sondern fährt ohne Abschied nach Wien zurück. Danach – viele Jahre später – wirft er von dem Schiff, auf dem er eine Arztstelle bekleidet, den Schatz ins Meer, in der Annahme, Barbara sei in ihrem fernen Bauerndorf verstorben und das, den Schatz zu versenken, erfülle den tieferen Willen der Geberin, indem das Geld nun keinem profanen, womöglich ungerechten Zweck mehr zufallen kann.
Die Aussage der Groteske mag sein: Ferdinand hat am Ende genügend Charakter entwickelt, um nicht konventionell, sondern selbstbestimmt mit seiner Umgebung zu interagieren. Den Abschied von Barbara brauchen weder sie noch er, da beide einander nicht mehr verlieren können, sondern für immer verbunden bleiben. Der Schatz steht für heilige Werte, die Barbara verkörpert und an ihr Interims-Mündel weiterreicht. Insofern bewirkt das Gold, analog dem Rheingold der Nibelungensage, am Meeresgrund eine Versöhnung mit der Welt und hebt den Fluch auf, zu dem es in Menschenhänden unausweichlich würde. Was allerdings auch bei solcher Lesart befremdet, ist, dass »Frömmigkeit« – ein Thema, das der Roman sich mit seinem Titel aufgibt – hier nicht Menschen dient oder nützt. Frömmigkeit ist vielmehr ein Freiraum, den in sich selbst zu entdecken, zu entfalten, zu füllen, wenigen Ausnahmemenschen gelingt, ungefähr entsprechend der Goetheschen’ Seligpreisung desjenigen, der »sich vor der Welt / ohne Hass verschließt«. Nach den Stürmen des Weltkriegs, nach den nicht weniger seelenbedrohenden Wasserglasturbulenzen der Wiener Revolution – beides zusammen bildet den Romaninhalt – ist das nicht wenig. Vor allem ist es das Eigene, das Ferdinand sich durch alle Stürme hindurch bewahrt und am Ende an Gott adressiert, mit dem die kirchliche Konvention ihn nicht verbinden konnte: »jene jähen, unbegreiflichen Begeisterungen, die ihn zu mancher Zeit auf offener Straße, in seinem Zimmer, in einem Lokal, auf Parkwegen, ja selbst unter Menschen anpackten, seinen Körper schüttelten und herrliche Tränenstürze hervortrieben. Wie weit war er jetzt von diesen geheimnisvollen Begeisterungen entfernt! Und doch wiederholte sein Sinn immerfort: Ich müsste eigentlich beten!«
Aus dem Refugium solcher Frömmigkeit, scheint es, kommt die Klarheit, mit der Ferdinand – und noch mehr der Erzähler – über hunderte Seiten zuerst die österreichisch-deutsche Kriegsmaschine und anschließend die anarchistisch-bolschewistische Revolution in Wien analysiert. »Barbara« ist ein Schlüsselroman. Über das entsprechende Figurenprogramm und seinen geistesgeschichtlichen Hintergrund, über Otto Gross’ matriarchalischen Urkommunismus, über Egon Erwin Kischs ironisch-pragmatische Operettenrevolte, über Franz Bleis revolutionären Katholizismus und andere im »Säulensaal« alias Café Central entwickelte Welterlösungskonzepte ist viel geschrieben worden, deshalb soll hier im Einzelnen nichts hinzugefügt werden. Durchgängig beeindruckt die Schärfe des Werfelschen Blicks auf Ideen und ihre Vertreter, denen er biografisch näherstand als sein Protagonist und die er zugleich kälter und schonungsloser zergliedert als dieser.
Was noch mehr als das beeindruckt, sind aber die Schilderungen des militaristischen Klimas vor Ausbruch des Weltkriegs und der Kriegsmaschinerie, die anschließend den Krieg entfesselt und führt. Als Sohn eines hohen k. & k. Offiziers rückt Ferdinand in privilegierter Stellung ein. Was ihn erwartet, was dann vier Jahre lang seine totalitäre Erfahrung ist, hat er jedoch mit allen Teilnehmern gemeinsam: ein sinnloses Massensterben, das die Kämpfenden in einen Zustand vollkommener Ohnmacht versetzt, sie der Willkür der Befehlshaber und der umständehalber blühenden Niedertracht der Kameraden aussetzt. Aus heutigem Abstand denkt man an Literatur, die Ähnliches bietet, an Remarques »Im Westen nichts Neues« oder Tollers »Die Wandlung«. Das relativiert die Beschreibungen aber nicht, im Gegenteil. Mein Eindruck ist, dass wir mit dem Abstand eines Jahrhunderts, einer für die meisten ununterbrochenen Abwesenheit von Kriegserfahrungen, noch viel mehr solche Literatur bräuchten. Kaum hatte die millionenfache Mordserie damals begonnen, war für die Teilnehmer nichts mehr so, wie es noch kurz vorher gewesen war. Alle Erwartungen an das Leben und die Mitmenschen, inklusive die Kultur als Grundlage, auf der Erwartungen gehegt werden, lösten sich auf und ließen nichts übrig, woran der Einzelne festhalten konnte. Zuallererst aufgelöst in die giftgashaltige Luft über den Schützengräben hatten sich die Parolen, mit denen man in den Krieg geschickt worden war, von Vaterland, Kaisertum, Tradition, Soldatenehre und dem sonstigen Ideologieplunder der Belle Époque. Übrig blieb das Grauen. Was sollte ein Mensch noch von sich halten, woran noch glauben, der es erlebte? Ferdinands katholischer, bis zum späteren Wahnsinn kluger Freund Alfred drückt es so aus: »Wenn in einem Menschen der Mensch zertreten wird, so wird auch Gott in ihm zertreten. Gott stirbt. Es ist nicht wahr, dass Leiden und Prüfung den Glauben stärken. Im Gegenteil! In mir wenigstens ist schon seit neun Monaten Gott verschmachtet. Erst jetzt wieder beginne ich ihn leise zu spüren. Wie kann denn eine Menschheit, in der man die Menschheit und somit die Gottheit zertritt, an Gott glauben? Sie ist sein Massengrab!«
Und die Zeiten sind wieder da, frisch »gewendet« und »freiheitlich« umdekoriert. Man ruft wieder zum Krieg und bemüht dafür »Werte«, deren gleichzeitiges Dahinsiechen mit propagandistischer Lautstärke überdeckt wird. »Demokratie«, »Freiheit«, »Menschenrechte« sollen verteidigt werden gegen einen östlichen »Feind«, der so einsam über seinen Untertanen thront wie die Führungskräfte des Westens über ihren und der mit hohlen Phrasen militärischen Gehorsam einfordert: »Vaterland«, »Neues Reich«, »starker Führer«. Einen Vergleich zwischen den jeweils propagierten Werten will ich nicht ziehen. Die angenommene Überlegenheit der westlichen birgt die Zusatzgefahr, der entsprechenden Kriegstrommel umso bereitwilliger zu lauschen. Doch beide Seiten trommeln in den Untergang. Schon die Vorbereitung auf den Krieg, eine noch nie dagewesene Aufrüstung – in Zeiten globaler Krisen und des drohenden Klimakollapses – besiegelt den Hungertod und die Vertreibung von Hunderten Millionen Menschen weltweit. Papst Franziskus nannte Regierungen »wahnsinnig«, die zwei Prozent des BIP für das Militär ausgeben. Sein Nachfolger Leo IV. hält Kurs: »Angesichts des aktuellen dramatischen Szenarios eines stückweisen Dritten Weltkriegs, wie es Papst Franziskus wiederholt festgestellt hat, wende ich mich an die Großen dieser Welt und wiederhole diesen weiterhin aktuellen Appell: Nie wieder Krieg!«
Als teilnehmender Beobachter der Revolution in Wien, als Vertrauter ihrer wichtigsten Anführer wird Werfels Protagonist irre an den Ideen, mit denen da eine neue Welt auf die Trümmer der alten gebaut werden soll. Was er nicht tut, ist zu den alten Werten, zu den alten Mächten zurückkehren. Am Ende heißt es: »Der Sohn des Obersten hatte den Herrscher und seinen Staat niemals geliebt, denn der Staat war ihm ein harter, liebloser Vorgesetzter gewesen: Militärschule, Major Krispin, der Klassenfeldwebel, das Alumnat, schlechte Ernährung, ärarische Kleider, Gefängnisleben, neuerdings Kaserne, Krieg, Unterstände, Todesurteile, (…) Spitalsgestank – das alles war der Staat. Er verdiente kein liebendes Angedenken.« Anders als Joseph Roth, der in den Revolutionsjahren seine Artikel mit »der rote Joseph« unterschrieb, 1929 aber bereits mit einem k. & k. monarchistischen Standpunkt experimentierte, blieb Werfel den Mächten der Vergangenheit abhold. Hinter der Großmacht Österreich wollte er später eine Idee gelten lassen, die »Reichsidee« einer Welt für alle, für jegliches Herkommen oder Hinwollen. Anders als Thomas Mann, der im »Zauberberg« das Spiel der Ideologien so unterhaltsam wie tiefgründig aufgeführt hatte, um es dann mit Hans Castorp in den Schlamm des aufziehenden Weltkriegs zu werfen, sah und hörte der Autor von »Barbara« auch nach dem Krieg noch hin, welche Ideen vorgebracht, welche Wege gewiesen wurden, um das Trauma der westlichen Zivilisation zu überwinden. Am Ende bezog er den Standpunkt einer radikalen Skepsis. Vor allem die menschlichen Defizite der handelnden Personen brachten ihn von einer weiteren Teilnahme an der Revolution, vom weiteren Glauben an sie ab. Biografisch eine Rolle in dieser Entwicklung spielte Alma Gropius, verwitwete Mahler, seine Geliebte, die er zwei Jahre nach Veröffentlichung von »Barbara« heiratete, die schon während ihres Honeymoons mit Werfel, eben 1918/19 in Wien, ihre konterrevolutionäre Überzeugung druckvoll gegenüber dem Geliebten vertrat.
So bleibt es in »Barbara« bei dem einzigen Halt, den der Protagonist in seinem Leben findet – und das schon als Kind. Den er über die Kriegsjahre und die Revolutionswirren hinweg im Hinterkopf behält, ohne dass er oder die Handlung diesen Haltepunkt jemals ansteuern würden. Dieser Punkt, dieser Halt ist eine selbstlos liebende, arbeitsame und unaufwändig fromme Frau vom Lande – Barbara. Zur negativen Bilanz, die der Roman aus dem Pomp der aufparadierten Parolen und Ideologien zieht, gehört an seinem Ende Ferdinands Unfähigkeit, die von Barbara empfangene Gabe in adäquater Form weiterzugeben. Er versenkt das Gold im Meer – statt anderen Bedürftigen damit zu helfen so, wie ihm damit geholfen wurde. Seinen Arztberuf übt er auf einem Luxusliner aus, dessen Passagiere im schlimmsten Fall gleichzeitig seekrank und erkältet sind – eine Tätigkeit, die er im Selbstgespräch als sinnlos erkennt.
»Barbara oder die Frömmigkeit« zu lesen, lohnt sich umso mehr, als die darin aufgeworfene Frage nach der Frömmigkeit, nach einem Gott und einem den Menschen gefälligen, einem sich selbst und anderen »förderlichen« Leben am Ende unbeantwortet an die Leserin und an den Leser weitergereicht wird.
Franz Werfel, Barbara oder die Frömmigkeit. Roman, Frankfurt/Main 1996, Fischer Tb, 716 S., 22 €.