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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Halt im Stahlgewitter

Franz Wer­fels 1929 erschie­ne­ner Roman »Bar­ba­ra oder die Fröm­mig­keit« behan­delt die Ent­wick­lung des Offi­ziers­sohns und spä­te­ren Schiffs­arz­tes Fer­di­nand von der Kind­heit bis zum Zeit­punkt sei­ner ärzt­li­chen Appro­ba­ti­on. In der Erin­ne­rung des Arz­tes ent­steht das Bild einer Epo­che, die mit dem Ersten Welt­krieg eine unab­seh­ba­re Kata­stro­phe durch­läuft und sich in der dar­auf­fol­gen­den Revo­lu­ti­on erfolg­los zu restau­rie­ren versucht.

Anfangs erzählt der Roman, wie Fer­di­nand als Kind aus einer unglück­li­chen, früh schei­tern­den Ehe nur in der Kin­der­frau Bar­ba­ra Rück­halt fin­det. Ohne sie wäre er ver­lo­ren, mit ihr hat er den leben­den Beweis für eine zuver­läs­si­ge und auf­op­fe­rungs­be­rei­te Lie­be. Die­ser Gegen­satz wird von dem Roman in den Welt­hin­ter­grund der Hand­lung pro­ji­ziert: Die Welt der Eltern ist die Welt der gesell­schaft­lich bestim­men­den Kräf­te, sie ver­dient kein Ver­trau­en, wirkt sich in allem, was in ihr geschieht, zer­stö­re­risch auf den Ein­zel­nen aus. Die from­me Kin­der­frau dage­gen reprä­sen­tiert das ein­fa­che Volk, mehr noch den ein­zel­nen macht­lo­sen Men­schen, der mit der rich­ti­gen Hal­tung zum Leben ande­ren Halt und Schutz bie­ten und damit Vor­bild sein kann.

Am Ende des Romans steht ein letz­tes Opfer der geal­ter­ten Kin­der­frau: Sie schenkt Fer­di­nand einen hohen Geld­be­trag in Gold­mün­zen, den sie ihrem müh­se­li­gen Dasein abge­trotzt hat. Die Ant­wort Fer­di­nands dar­auf ist zwei Mal gro­tesk: Erst kehrt er, nach­dem er den Schatz erhal­ten hat, von einem Spa­zier­gang nicht zurück in das Haus der Gebe­rin, die dort mit einem Mit­tag­essen auf ihn war­tet, son­dern fährt ohne Abschied nach Wien zurück. Danach – vie­le Jah­re spä­ter – wirft er von dem Schiff, auf dem er eine Arzt­stel­le beklei­det, den Schatz ins Meer, in der Annah­me, Bar­ba­ra sei in ihrem fer­nen Bau­ern­dorf ver­stor­ben und das, den Schatz zu ver­sen­ken, erfül­le den tie­fe­ren Wil­len der Gebe­rin, indem das Geld nun kei­nem pro­fa­nen, womög­lich unge­rech­ten Zweck mehr zufal­len kann.

Die Aus­sa­ge der Gro­tes­ke mag sein: Fer­di­nand hat am Ende genü­gend Cha­rak­ter ent­wickelt, um nicht kon­ven­tio­nell, son­dern selbst­be­stimmt mit sei­ner Umge­bung zu inter­agie­ren. Den Abschied von Bar­ba­ra brau­chen weder sie noch er, da bei­de ein­an­der nicht mehr ver­lie­ren kön­nen, son­dern für immer ver­bun­den blei­ben. Der Schatz steht für hei­li­ge Wer­te, die Bar­ba­ra ver­kör­pert und an ihr Inte­rims-Mün­del wei­ter­reicht. Inso­fern bewirkt das Gold, ana­log dem Rhein­gold der Nibe­lun­gen­sa­ge, am Mee­res­grund eine Ver­söh­nung mit der Welt und hebt den Fluch auf, zu dem es in Men­schen­hän­den unaus­weich­lich wür­de. Was aller­dings auch bei sol­cher Les­art befrem­det, ist, dass »Fröm­mig­keit« – ein The­ma, das der Roman sich mit sei­nem Titel auf­gibt – hier nicht Men­schen dient oder nützt. Fröm­mig­keit ist viel­mehr ein Frei­raum, den in sich selbst zu ent­decken, zu ent­fal­ten, zu fül­len, weni­gen Aus­nah­me­men­schen gelingt, unge­fähr ent­spre­chend der Goe­the­schen’ Selig­prei­sung des­je­ni­gen, der »sich vor der Welt /​ ohne Hass ver­schließt«. Nach den Stür­men des Welt­kriegs, nach den nicht weni­ger see­len­be­dro­hen­den Was­ser­glas­tur­bu­len­zen der Wie­ner Revo­lu­ti­on – bei­des zusam­men bil­det den Roman­in­halt – ist das nicht wenig. Vor allem ist es das Eige­ne, das Fer­di­nand sich durch alle Stür­me hin­durch bewahrt und am Ende an Gott adres­siert, mit dem die kirch­li­che Kon­ven­ti­on ihn nicht ver­bin­den konn­te: »jene jähen, unbe­greif­li­chen Begei­ste­run­gen, die ihn zu man­cher Zeit auf offe­ner Stra­ße, in sei­nem Zim­mer, in einem Lokal, auf Park­we­gen, ja selbst unter Men­schen anpack­ten, sei­nen Kör­per schüt­tel­ten und herr­li­che Trä­nen­stür­ze her­vor­trie­ben. Wie weit war er jetzt von die­sen geheim­nis­vol­len Begei­ste­run­gen ent­fernt! Und doch wie­der­hol­te sein Sinn immer­fort: Ich müss­te eigent­lich beten!«

Aus dem Refu­gi­um sol­cher Fröm­mig­keit, scheint es, kommt die Klar­heit, mit der Fer­di­nand – und noch mehr der Erzäh­ler – über hun­der­te Sei­ten zuerst die öster­rei­chisch-deut­sche Kriegs­ma­schi­ne und anschlie­ßend die anar­chi­stisch-bol­sche­wi­sti­sche Revo­lu­ti­on in Wien ana­ly­siert. »Bar­ba­ra« ist ein Schlüs­sel­ro­man. Über das ent­spre­chen­de Figu­ren­pro­gramm und sei­nen gei­stes­ge­schicht­li­chen Hin­ter­grund, über Otto Gross’ matri­ar­cha­li­schen Urkom­mu­nis­mus, über Egon Erwin Kischs iro­nisch-prag­ma­ti­sche Ope­ret­ten­re­vol­te, über Franz Bleis revo­lu­tio­nä­ren Katho­li­zis­mus und ande­re im »Säu­len­saal« ali­as Café Cen­tral ent­wickel­te Welter­lö­sungs­kon­zep­te ist viel geschrie­ben wor­den, des­halb soll hier im Ein­zel­nen nichts hin­zu­ge­fügt wer­den. Durch­gän­gig beein­druckt die Schär­fe des Wer­fel­schen Blicks auf Ideen und ihre Ver­tre­ter, denen er bio­gra­fisch näher­stand als sein Prot­ago­nist und die er zugleich käl­ter und scho­nungs­lo­ser zer­glie­dert als dieser.

Was noch mehr als das beein­druckt, sind aber die Schil­de­run­gen des mili­ta­ri­sti­schen Kli­mas vor Aus­bruch des Welt­kriegs und der Kriegs­ma­schi­ne­rie, die anschlie­ßend den Krieg ent­fes­selt und führt. Als Sohn eines hohen k. & k. Offi­ziers rückt Fer­di­nand in pri­vi­le­gier­ter Stel­lung ein. Was ihn erwar­tet, was dann vier Jah­re lang sei­ne tota­li­tä­re Erfah­rung ist, hat er jedoch mit allen Teil­neh­mern gemein­sam: ein sinn­lo­ses Mas­sen­ster­ben, das die Kämp­fen­den in einen Zustand voll­kom­me­ner Ohn­macht ver­setzt, sie der Will­kür der Befehls­ha­ber und der umstän­de­hal­ber blü­hen­den Nie­der­tracht der Kame­ra­den aus­setzt. Aus heu­ti­gem Abstand denkt man an Lite­ra­tur, die Ähn­li­ches bie­tet, an Remar­ques »Im Westen nichts Neu­es« oder Tol­lers »Die Wand­lung«. Das rela­ti­viert die Beschrei­bun­gen aber nicht, im Gegen­teil. Mein Ein­druck ist, dass wir mit dem Abstand eines Jahr­hun­derts, einer für die mei­sten unun­ter­bro­che­nen Abwe­sen­heit von Kriegs­er­fah­run­gen, noch viel mehr sol­che Lite­ra­tur bräuch­ten. Kaum hat­te die mil­lio­nen­fa­che Mord­se­rie damals begon­nen, war für die Teil­neh­mer nichts mehr so, wie es noch kurz vor­her gewe­sen war. Alle Erwar­tun­gen an das Leben und die Mit­men­schen, inklu­si­ve die Kul­tur als Grund­la­ge, auf der Erwar­tun­gen gehegt wer­den, lösten sich auf und lie­ßen nichts übrig, wor­an der Ein­zel­ne fest­hal­ten konn­te. Zual­ler­erst auf­ge­löst in die gift­gas­hal­ti­ge Luft über den Schüt­zen­grä­ben hat­ten sich die Paro­len, mit denen man in den Krieg geschickt wor­den war, von Vater­land, Kai­ser­tum, Tra­di­ti­on, Sol­da­ten­eh­re und dem son­sti­gen Ideo­lo­gie­p­lun­der der Bel­le Épo­que. Übrig blieb das Grau­en. Was soll­te ein Mensch noch von sich hal­ten, wor­an noch glau­ben, der es erleb­te? Fer­di­nands katho­li­scher, bis zum spä­te­ren Wahn­sinn klu­ger Freund Alfred drückt es so aus: »Wenn in einem Men­schen der Mensch zer­tre­ten wird, so wird auch Gott in ihm zer­tre­ten. Gott stirbt. Es ist nicht wahr, dass Lei­den und Prü­fung den Glau­ben stär­ken. Im Gegen­teil! In mir wenig­stens ist schon seit neun Mona­ten Gott ver­schmach­tet. Erst jetzt wie­der begin­ne ich ihn lei­se zu spü­ren. Wie kann denn eine Mensch­heit, in der man die Mensch­heit und somit die Gott­heit zer­tritt, an Gott glau­ben? Sie ist sein Massengrab!«

Und die Zei­ten sind wie­der da, frisch »gewen­det« und »frei­heit­lich« umde­ko­riert. Man ruft wie­der zum Krieg und bemüht dafür »Wer­te«, deren gleich­zei­ti­ges Dahin­sie­chen mit pro­pa­gan­di­sti­scher Laut­stär­ke über­deckt wird. »Demo­kra­tie«, »Frei­heit«, »Men­schen­rech­te« sol­len ver­tei­digt wer­den gegen einen öst­li­chen »Feind«, der so ein­sam über sei­nen Unter­ta­nen thront wie die Füh­rungs­kräf­te des Westens über ihren und der mit hoh­len Phra­sen mili­tä­ri­schen Gehor­sam ein­for­dert: »Vater­land«, »Neu­es Reich«, »star­ker Füh­rer«. Einen Ver­gleich zwi­schen den jeweils pro­pa­gier­ten Wer­ten will ich nicht zie­hen. Die ange­nom­me­ne Über­le­gen­heit der west­li­chen birgt die Zusatz­ge­fahr, der ent­spre­chen­den Kriegs­trom­mel umso bereit­wil­li­ger zu lau­schen. Doch bei­de Sei­ten trom­meln in den Unter­gang. Schon die Vor­be­rei­tung auf den Krieg, eine noch nie dage­we­se­ne Auf­rü­stung – in Zei­ten glo­ba­ler Kri­sen und des dro­hen­den Kli­ma­kol­lap­ses – besie­gelt den Hun­ger­tod und die Ver­trei­bung von Hun­der­ten Mil­lio­nen Men­schen welt­weit. Papst Fran­zis­kus nann­te Regie­run­gen »wahn­sin­nig«, die zwei Pro­zent des BIP für das Mili­tär aus­ge­ben. Sein Nach­fol­ger Leo IV. hält Kurs: »Ange­sichts des aktu­el­len dra­ma­ti­schen Sze­na­ri­os eines stück­wei­sen Drit­ten Welt­kriegs, wie es Papst Fran­zis­kus wie­der­holt fest­ge­stellt hat, wen­de ich mich an die Gro­ßen die­ser Welt und wie­der­ho­le die­sen wei­ter­hin aktu­el­len Appell: Nie wie­der Krieg!«

Als teil­neh­men­der Beob­ach­ter der Revo­lu­ti­on in Wien, als Ver­trau­ter ihrer wich­tig­sten Anfüh­rer wird Wer­fels Prot­ago­nist irre an den Ideen, mit denen da eine neue Welt auf die Trüm­mer der alten gebaut wer­den soll. Was er nicht tut, ist zu den alten Wer­ten, zu den alten Mäch­ten zurück­keh­ren. Am Ende heißt es: »Der Sohn des Ober­sten hat­te den Herr­scher und sei­nen Staat nie­mals geliebt, denn der Staat war ihm ein har­ter, lieb­lo­ser Vor­ge­setz­ter gewe­sen: Mili­tär­schu­le, Major Kris­pin, der Klas­sen­feld­we­bel, das Alum­nat, schlech­te Ernäh­rung, ärari­sche Klei­der, Gefäng­nis­le­ben, neu­er­dings Kaser­ne, Krieg, Unter­stän­de, Todes­ur­tei­le, (…) Spi­tals­ge­stank – das alles war der Staat. Er ver­dien­te kein lie­ben­des Ange­den­ken.« Anders als Joseph Roth, der in den Revo­lu­ti­ons­jah­ren sei­ne Arti­kel mit »der rote Joseph« unter­schrieb, 1929 aber bereits mit einem k. & k. mon­ar­chi­sti­schen Stand­punkt expe­ri­men­tier­te, blieb Wer­fel den Mäch­ten der Ver­gan­gen­heit abhold. Hin­ter der Groß­macht Öster­reich woll­te er spä­ter eine Idee gel­ten las­sen, die »Reichs­idee« einer Welt für alle, für jeg­li­ches Her­kom­men oder Hin­wol­len. Anders als Tho­mas Mann, der im »Zau­ber­berg« das Spiel der Ideo­lo­gien so unter­halt­sam wie tief­grün­dig auf­ge­führt hat­te, um es dann mit Hans Cas­torp in den Schlamm des auf­zie­hen­den Welt­kriegs zu wer­fen, sah und hör­te der Autor von »Bar­ba­ra« auch nach dem Krieg noch hin, wel­che Ideen vor­ge­bracht, wel­che Wege gewie­sen wur­den, um das Trau­ma der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on zu über­win­den. Am Ende bezog er den Stand­punkt einer radi­ka­len Skep­sis. Vor allem die mensch­li­chen Defi­zi­te der han­deln­den Per­so­nen brach­ten ihn von einer wei­te­ren Teil­nah­me an der Revo­lu­ti­on, vom wei­te­ren Glau­ben an sie ab. Bio­gra­fisch eine Rol­le in die­ser Ent­wick­lung spiel­te Alma Gro­pi­us, ver­wit­we­te Mahler, sei­ne Gelieb­te, die er zwei Jah­re nach Ver­öf­fent­li­chung von »Bar­ba­ra« hei­ra­te­te, die schon wäh­rend ihres Honey­moons mit Wer­fel, eben 1918/​19 in Wien, ihre kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­re Über­zeu­gung druck­voll gegen­über dem Gelieb­ten vertrat.

So bleibt es in »Bar­ba­ra« bei dem ein­zi­gen Halt, den der Prot­ago­nist in sei­nem Leben fin­det – und das schon als Kind. Den er über die Kriegs­jah­re und die Revo­lu­ti­ons­wir­ren hin­weg im Hin­ter­kopf behält, ohne dass er oder die Hand­lung die­sen Hal­te­punkt jemals ansteu­ern wür­den. Die­ser Punkt, die­ser Halt ist eine selbst­los lie­ben­de, arbeit­sa­me und unauf­wän­dig from­me Frau vom Lan­de – Bar­ba­ra. Zur nega­ti­ven Bilanz, die der Roman aus dem Pomp der auf­pa­ra­dier­ten Paro­len und Ideo­lo­gien zieht, gehört an sei­nem Ende Fer­di­nands Unfä­hig­keit, die von Bar­ba­ra emp­fan­ge­ne Gabe in adäqua­ter Form wei­ter­zu­ge­ben. Er ver­senkt das Gold im Meer – statt ande­ren Bedürf­ti­gen damit zu hel­fen so, wie ihm damit gehol­fen wur­de. Sei­nen Arzt­be­ruf übt er auf einem Luxus­li­ner aus, des­sen Pas­sa­gie­re im schlimm­sten Fall gleich­zei­tig see­krank und erkäl­tet sind – eine Tätig­keit, die er im Selbst­ge­spräch als sinn­los erkennt.

»Bar­ba­ra oder die Fröm­mig­keit« zu lesen, lohnt sich umso mehr, als die dar­in auf­ge­wor­fe­ne Fra­ge nach der Fröm­mig­keit, nach einem Gott und einem den Men­schen gefäl­li­gen, einem sich selbst und ande­ren »för­der­li­chen« Leben am Ende unbe­ant­wor­tet an die Lese­rin und an den Leser wei­ter­ge­reicht wird.

Franz Wer­fel, Bar­ba­ra oder die Fröm­mig­keit. Roman, Frankfurt/​Main 1996, Fischer Tb, 716 S., 22 €.