Der 29. Juli dieses Jahres begann für mich mit Musik. Allerdings nicht sofort. Auf der LP, die auf dem Schallplattenteller rotierte, brandete zuerst Jubel auf, der Jubel Tausender Menschen, und ein Ansager stimmte die Menge auf das bevorstehende Ereignis ein, begrüßte die sechs Schlagzeuger des Ensembles »Percussions de Strasbourg« und den vielköpfigen französischen Nationalchor, die Solisten und den Dirigenten. Dann herrschte Stille im weiten Rund. In diese Stille hinein brauste urplötzlich die Musik. Orchester und Chor flammten auf, von den Zuhörern empfangen wie ein Akt der Befreiung, und die unvergleichliche Stimme der Sängerin Maria Farantouri hob an.
Alle Augen im Stadion waren dabei aber auf den Mann gerichtet, der die Musik komponiert hatte und der hoch aufgerichtet am Dirigentenpult stand, 1,95 Meter groß, den Kopf umweht von schwarzlockigem Haar, schwarz gekleidet, ein Foto auf der Plattenhülle zeigt ihn mit ausgebreiteten Armen, als wolle er aufsteigen und davonschweben. Dabei war er gerade erst angekommen, nach vierjährigem Exil in Paris, angekommen in dem von der Junta befreiten Griechenland, wo ihm zum ersten Mal seit seiner Jugend nicht mehr Verfolgung, Verbannung, Inhaftierung in Gefängnissen oder Konzentrationslagern und keine Folter drohten: Mikis Theodorakis, der Volksheld, war zurück in seiner Heimat.
Der Auftritt in dem 30 000 Zuschauer fassenden Georgios-Karaïskakis-Stadion in der griechischen Hafenstadt Piräus war sein erstes öffentliches Konzert nach dem Ende der Militärdiktatur. Hier wurde diese Schallplattenaufnahme am 13. und 15. August 1975 und damit vor genau 50 Jahren mitgeschnitten. Wiederholungen des Konzerts folgten in Athen, Thessaloniki und Patras vor insgesamt 125 000 Menschen.
Dargeboten wurden Auszüge aus dem »Canto General«, einem der vielseitigsten musikalischen Werke des Komponisten und gleichzeitig das monumentale Vermächtnis des mit ihm befreundeten chilenischen Dichters Pablo Neruda. Ein »geschichtsträchtiges, Geschichte zeugendes Monument dichterischen Geistes, das thematisch einen ganzen Erdkreis umspannt und zugleich die gewaltige Kosmographie des Kontinentes Amerika erschließt«: Der Lyriker Erich Arendt, dessen deutsche Übersetzung des kompletten »Canto« schon 1953 in der DDR im Verlag Volk und Welt erschienen ist, sparte 1974 in seinem Nachwort zur zweiten Auflage nicht an Empathie.
Theodorakis war heimgekehrt und mit ihm seine Musik, seine Lieder, seine Gedichte, »seine« Sänger, die von ihm »entdeckte« Maria Farantouri und Petros Pandis, der mit Theodorakis nach Paris ins Exil gegangen war und hier die ersten Stücke des »Canto« einer erlesenen Zuhörerschaft zum ersten Mal vorgesungen hatte: Pablo Neruda und dessen Frau Matilde. Jetzt stand der Volkssänger auf der Bühne in Piräus.
Acht Jahre waren es her, dass Mikis Theodorakis zum Schweigen gebracht werden sollte. Zu sehr fürchteten die Putschisten die Macht seiner Musik und der Worte. Um ihn mundtot zu machen, erließen sie am 1. Juni 1967 den Armeebefehl Nr. 13: »Wir haben beschlossen und wir befehlen. Wir verbieten für das ganze Land die Wiedergabe oder das Spielen der Musik des Komponisten Mikis Theodorakis. Bürger, die gegen diese Bekanntmachung handeln, sind sofort vor Sondergerichte zu stellen.«
Vier Monate nach dem Staatsstreich wurde Theodorakis verhaftet, wie schon mehrmals in seinem Leben seitdem er sich 1941 dem Widerstand gegen die Besetzung Griechenlands durch deutsche, italienische und bulgarische Truppen angeschlossen hatte. Er wurde zum prominentesten Häftling des Konzentrationslagers Oropos im Nordwesten der Halbinsel Attika. Ein weltweiter Protest beendete 1970 die Einkerkerung, und Theodorakis konnte Griechenland verlassen. Fortan widmete er sich aus Paris dem Widerstand gegen die griechischen Obristen – und seiner Musik.
Am Ende seines Lebens, Theodorakis starb am 2. September 2021 im Alter von 96 Jahren in Athen – die Rundfunkanstalten spielten am Todestag unaufhörlich nur seine Musik, und die Regierung verordnete drei Tage Staatstrauer –, schätzten Chronisten den musikalischen Kosmos des Komponisten auf über 1000 Lieder, darunter aufrüttelnde Kampflieder aus der Zeit der Diktatur und Verfolgung und Liebeslieder, Opern, Kantaten, Kammermusik- und Orchesterwerke, Oratorien. Und unvergessliche Filmmusik, zum Beispiel für den Politthriller »Der unsichtbare Aufstand« über den Widerstand der Tupamaros in Uruguay oder für den Klassiker »Z«, der vor dem Hintergrund der Ermordung des EDA-Abgeordneten Grigoris Lambrakis durch Rechtsextremisten entstand. Und natürlich für den weltweiten Kassenknüller »Alexis Sorbas«, der mit dem von Theodorakis »erfundenen« und komponierten Sirtaki, getanzt von Anthony Quinn und Alan Bates auf dem Stavros-Strand von Kreta, eine der bekanntesten Szenen der Filmgeschichte lieferte, die ikonisch wurde wie die Musik. »Zorbas Beach« steht auch heute noch touristenwirksam auf dortigen Hinweisschildern.
Aber gerade die Filmmusik verdeutlicht, dass »die Kommunikation des Komponisten und Poeten Mikis Theodorakis mit seinem Publikum fast ausschließlich über seine Musik« erfolgte, hinter der die Texte der Lieder ebenso wie ihre Dichter verschwanden. Das erkannte schon 1979 der vor fünf Jahren in Münster gestorbene Tassos Katsanakis. Als junger Mann war er zum Studium nach Westfalen gekommen und dann nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt, nachdem die Junta die Macht übernommen hatte, sondern in Münster geblieben. Im Vorwort zu einem schmalen, damals im Eigendruck erschienenen Bändchen mit zweisprachigen Texten einiger Lieder, die Theodorakis vertont hatte, benannte er die Ursache: »Die wertvolle Dichtung, die seiner Musik zugrunde liegt und welche ihn zum schöpferischen Akt anregte, blieb und bleibt den meisten Empfängern unbekannt. Seine Musik wurde (…) eher ästhetisch konsumiert, da die Biografie und das Charisma des Komponisten das Wort substituierten. Man erahnte nur, was da besungen wurde, genauer konnte der größte Teil des Publikums es nicht wissen.«
Das trifft auch auf uns von der Theodorakis-Musik Begeisterten zu. Nur von wenigen Dichtungen gab es in den Anfangsjahren seiner europäischen Popularität Übersetzungen, Neruda ist ein Beispiel. Auch waren Übersetzungen von durch Theodorakis vertonten Versen der griechischen Literaturnobelpreisträger Odysseas Elytis (»To Axion Esti«) und Giorgos Seferis (»Epiphania«, »Mythologie«), von vertonten Poemen der Lyriker Jannis Ritsos (»Romiossini«), Eleftheriou (»Zwölf Volkslieder«), Kambanellis (»Mauthausen-Kantate«) und Christodolou (»Kaymos«) hier und da zu entdecken. Gelegentlich und fragmentarisch fanden sich Texte auf Schallplattenhüllen oder in Konzertprogrammen wieder.
Was aber fast vollständig fehlte, waren Übersetzungen der Gedichte und Lieder von Theodorakis selbst. Mir ist von damals nur das 1983 in dem kleinen ehemaligen Gerhardt-Verlag in Berlin erschienene Liederbuch präsent. Es enthält sieben Gedichte bzw. Zyklen von Theodorakis, darunter die Kampflieder »Wegen Befehlsverweigerung«, »Vergiss nicht Oropos« und »Freunde steht auf« sowie die »Lieder für Andreas«, das »Lied vom toten Bruder« und das vielgesungene Liebeslied »Margarita Margaró«.
Daher verdient der Axel-Dielmann-Verlag, Frankfurt a. Main, ein großes Bravo! für seine verlegerische Tat, zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Mikis Theodorakis am 29. Juli – dem Tag, der für mich mit Musik begann – erstmals einen Band mit (fast) allen Theodorakis-Gedichten und einem Großteil seiner Liedtexte in deutscher Übersetzung unter dem tiefsinnigen, an die Jenseitsreiche »Inferno« und »Paradiso« in Dantes »Göttlicher Komödie« erinnernden Titel »Paradiesische Höllen« vorzulegen: ein wunderbares Geschenk zu Ehren des Komponisten und Schriftstellers, ein wunderbares Geschenk für uns, sein Publikum.
Das mustergültig edierte Buch enthält kurze Gelegenheitsgedichte aus dem städtischen Athen, schwärmerische Gedichte des jungen Partisanen, wie sie ein Verliebter schreibt, Gedichte aus den Zeiten extremer existenzieller Bedrohung, dem Bürgerkrieg und der Junta-Herrschaft, als Theodorakis schrieb, »um nicht verrückt zu werden, um etwas gegen einen toten Punkt des Seins aufzubieten«. Erotische Verse und Liebesgedichte stehen neben Kämpferisch-Politischem, und griechisches Liedgut fügt sich ein, »immer mit kraftvoller Wachheit für das Ungenügende und Ungerechte und Unmenschliche, stets mit einem zärtlichen Gefühl für das Schöne und Großartige, für das Menschliche«, wie es im Begleittext heißt.
Gegliedert ist das Buch in drei Teile: Gedichte, Lieder sowie »Sonne und Zeit«, ein zentraler Zyklus, den Theodorakis 1967 schrieb, als er von der Junta in Folterhaft genommen wurde. Seine Witwe Margarita Theodorakis hat Fotos und Portraits zur Verfügung gestellt, die Dresdner Malerin Angela Hampel steuerte »visuelle Grußworte« für »Sonne und Zeit« bei, die Liedermacher Konstantin Wecker und Hans-Eckardt Wenzel lieferten Geleitworte. Aufmerksamkeit verdient auch der 22 Seiten umfassende, lesenswerte Anhang: Übersetzerin Ina Kutulas nähert sich Theodorakis in »Triptychon« bezeichneten kontemplativen Reflexionen. Ein älterer Text des 2016 gestorbenen Luxemburger Autors Guy Wagner liefert biografische Facetten; aus Wagners Feder stammt das 2001 erschienene Standardwerk »Mikis Theodorakis – Ein Leben für Griechenland«. Die Herausgeber Asteris Kutulas und Raphael Irmer geben in ihrem Editorial Hinweise zur Entstehung des Buches.
Wem beim Lesen heute, bald zwei Generationen später, in denen Namen und Ereignisse verblasst sind, ein Text zu überschwänglich oder zu euphorisch oder zu pathetisch erscheinen mag, der sollte sich des konkreten politisch-historischen Hintergrunds vergegenwärtigen, so wie es der von der Junta ins KZ auf die Ägäis-Insel Leros deportierte Jannis Ritsos in seinem Gedicht »Herakles und wir« schon 1968 vorahnend empfahl: »Und wenn euch unsere Verse eines Tages ungeschickt erscheinen, denkt nur daran, dass sie geschrieben wurden unter den Augen der Wächter und mit der Lanze immer in unserer Seite. Sie bedürfen auch keiner Rechtfertigung – nehmt sie so nackt, wie sie sind.«
Wie schon Heinrich Heine, der von 1831 bis zu seinem Tod 1856 sein Leben ebenfalls in Paris im Exil verbringen musste, hat Theodorakis aus seinen »großen Schmerzen« seine »kleinen Lieder« gemacht. Dabei kam seine Musik so beschwingt und leichtfüßig daher, dass die Lieder damals wie heute von den Griechen geliebt und gesungen werden, auf Straßen und Plätzen und »in den Tavernen von Athen, Saloniki oder Kalamata, wenn sie zusammenkommen und ein paar Gläser Wein trinken«. Die Musik ist so melodiös, dass die griechisch-stämmige Sängerin Vicky Leandros 1972 mühelos »Kaymos«/»Kummer« zu »Ich habe die Liebe gesehen« umfriemeln und die italienische Sängerin Milva 1978 »Sto Perigiali to Kryfo» von Seferis in ihren aus feministischer Sicht nicht unumstrittenen Hit »Zusammenleben« verwandeln konnte. Hannes Wader veröffentlichte den Seferis-Text 2012 unter dem Titel »Eine bess’re Welt zu schaffen«, womit er näher bei seinem Ursprung und dem Komponisten war.
Mikis Theodorakis, Widerstandskämpfer, Poet, Komponist, Musiker und zeitweise aktiver Politiker, stand für denselben Traum von Freiheit, der auch seine Zuhörerschaft beseelte. Sein Aufenthalt auf Erden war ein Leben wie ein großer Gesang, durchdrungen von seinem Credo, »das einzige Mittel, mit dem der Mensch Mensch« werde, sei die Kunst. Und diese hat ihn unsterblich gemacht.
Mikis Theodorakis: Paradiesische Höllen, Gedichte und Liedtexte. Herausgegeben von Asteris Kutulas und Raphael Irmer, übertragen von Ina und Asteris Kutulas, Axel Dielmann-Verlag, Frankfurt am Main, 184 S., 26 €.
Das Gedicht von Jannis Ritsos stammt aus dem 1980 im Rotbuch-Verlag, Berlin, in der Übersetzung von Armin Kerker erschienenen Lyrik-Band »Steine, Wiederholungen, Gitter«.