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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein »Seelentagebuch« Edvard Munchs

Auf Ein­la­dung des Ber­li­ner Kunst­ver­eins zeig­te der in sei­ner nor­we­gi­schen Hei­mat bis dahin erfolg­lo­se Edvard Munch 1892 55 Gemäl­de im Aus­land, doch erschreckt von der unge­wohn­ten Kühn­heit sei­ner Bil­der, setz­ten kon­ser­va­ti­ve Krei­se die vor­zei­ti­ge Schlie­ßung der Ber­li­ner Aus­stel­lung durch. Gera­de aber die­ser Skan­dal mach­te Munch schlag­ar­tig bekannt, er zog dann auch selbst nach Ber­lin und hielt sich hier bis 1908 immer wie­der auf.

In Deutsch­land wur­de ihm bald größ­te Beach­tung ent­ge­gen­ge­bracht. Die weg­wei­sen­de inter­na­tio­na­le Aus­stel­lung des Köl­ner Son­der­bun­des 1912 ent­hielt einen Ehren­saal mit 32 Gemäl­den Munchs. Er soll­te als Vor­läu­fer der jun­gen expres­sio­ni­sti­schen Maler prä­sen­tiert wer­den. 1927 erfolg­te die bis dahin größ­te Munch-Retro­spek­ti­ve in der Ber­li­ner Natio­nal­ga­le­rie. Als die Deut­schen 1940 Nor­we­gen besetz­ten, zog sich Munch auf sein 1916 erwor­be­nes Anwe­sen in Eke­ly bei Oslo zurück und wider­stand allen Annä­he­rungs­ver­su­chen der Nazis; er wur­de kein »Quis­ling«, wie der von den Deut­schen wäh­rend der Okku­pa­ti­ons­zeit ein­ge­setz­te nor­we­gi­sche Mini­ster­prä­si­dent hieß.

Als Munch 1944 starb, lehn­te die Schwe­ster des Künst­lers ein Staats­be­gräb­nis ab. Den­noch muss­te sie sich gefal­len las­sen, dass mit Haken­kreuz­fah­nen ver­se­he­ne Krän­ze auf sei­nen Sarg gelegt wur­den. Von den Natio­nal­so­zia­li­sten wur­de Munch einer­seits als nor­disch-ger­ma­ni­scher Künst­ler, ande­rer­seits als »ent­ar­tet« instru­men­ta­li­siert. In der Nazi-Akti­on »Ent­ar­te­te Kunst« 1937 waren 82 sei­ner Wer­ke aus den deut­schen Muse­en kon­fis­ziert wor­den. Und 1942 wur­den Gemäl­de von ihm in Oslo als abschrecken­de »Anti-Kunst« vorgeführt.

Die­ses und viel mehr kann man in dem schma­len, aber gewich­ti­gen Band »Munch A – Z« von Ulf Küster erfah­ren, der die­se Künst­ler-Rei­he kon­zi­piert hat und hier bereits mit Piet Mon­dri­an und Edward Hop­per ver­tre­ten war. Als Kura­tor so vie­ler inter­na­tio­nal aus­strah­len­der Aus­stel­lun­gen zu Künst­lern und The­men der Vor-Moder­ne, Moder­ne und Post-Moder­ne an der Fon­da­ti­on Beye­ler in Riehm bei Basel sowie als Autor eben­so bedeu­ten­der Künst­ler-Mono­gra­fien ist er bestens bekannt. In 26 Kurz­ka­pi­teln – von »Angst«, »Bohè­me«, »Häu­ser«, »Lebens­fries« über »Ich, Edvard Munch«, »Natur«, »Puber­tät«, bis »Schrei«, »Uni­ver­si­tät« und »Zoo« (Munchs Bil­der­ge­schich­te »Alpha und Ome­ga«), beglei­tet von ganz- und halb­for­ma­ti­gen Abbil­dun­gen, gibt er Leit­li­ni­en zur Bio­gra­fie und Werk­welt die­ses Bahn­bre­chers der Moder­ne, zu des­sen facet­ten­rei­cher Por­trät-, Figu­ren- und Land­schafts­kunst. Dabei ver­mag Küster viel Neu­es zu ent­decken. Denn Munch war es in ein­zig­ar­ti­ger Wei­se gelun­gen, die Stil­mit­tel des Impres­sio­nis­mus, die Farb­ge­walt der Fau­ves mit den zen­tra­len Inhal­ten sei­ner unru­hi­gen See­le, die ewig um Tod, Leben, Angst und Hoff­nung krei­sten, zu einem ganz eige­nen Stil zu verbinden.

Schon 1898 hat­te Munch in Aas­gard­strand, an einem Fjord außer­halb Oslos, eine Fischer­hüt­te als Som­mer­ate­lier bezo­gen. Er mach­te Aas­gard­strand, sei­ne Men­schen, Häu­ser Wäl­der, Fel­sen und Küste, zu einer der sym­bol­haf­ten Land­schaf­ten des moder­nen Gei­stes und zum Sinn­bild der Ent­frem­dung, Ver­lo­ren­heit und Sehn­sucht. Die Män­ner und Frau­en, die in einem ich­be­zo­ge­nen Tran­ce­zu­stand auf das Meer hin­aus­blicken, sind viel­leicht die letz­ten Nach­fah­ren der melan­cho­li­schen Rücken­fi­gu­ren in der roman­ti­schen Male­rei. Die­se Land­schaft ist der Hin­ter­grund jenes bedrücken­den See­len­zu­stan­des, unter dem Munch zeit­le­bens gelit­ten hat, jenes »schreck­li­che Angst­ge­fühl, das ich in mei­ner Kunst aus­zu­drücken ver­sucht habe«.

Im Kapi­tel »Schrei« – Munch hat das The­ma zwi­schen 1893 und 1910 in vier Gemäl­den und einer Litho­gra­fie dar­ge­stellt – geht Küster auf jenes Motiv ein, das dann die berühm­te­ste Dar­stel­lung exi­sten­zi­el­ler Angst über­haupt wur­de: Ein gespen­sti­sches mensch­li­ches Wesen mit weit auf­ge­ris­se­nem Mund ange­sichts eines »blut­ro­ten« Son­nen­un­ter­gangs. Wie Schall­wel­len brei­tet sich die Far­be über das gan­ze Bild aus. Munch will die­ses unheil­dro­hen­de Natur­schau­spiel selbst erlebt haben: »Ich fühl­te, wie ein gewal­ti­ger, end­lo­ser Schrei durch die Natur ging.«

In »Puber­tät« (1894) – dazu das eben­so beti­tel­te Kapi­tel – hockt ein Mäd­chen auf dem Bett und bedeckt sei­ne Scham mit unge­schickt furcht­sa­men Hän­den, wäh­rend sich der eige­ne Schat­ten hin­ter ihr wie ein phal­li­sches Sym­bol dro­hend auf­zu­rich­ten scheint. Oder ist es statt des Schat­tens »ein schwar­zer Flü­gel, des­sen Gegen­stück mit der Unbe­fan­gen­heit ver­lo­ren gegan­gen ist«, wie Küster ver­mu­tet? In der ver­zwei­fel­ten Umar­mung des Paa­res (»Der Kuss«, 1902) wird schon die spä­ter umso hef­ti­ger auf­bre­chen­de Kluft spür­bar. Die­sel­ben Span­nun­gen, die Ibsens und Strind­bergs Dra­men so beklem­mend machen, kann man auch bei Munch spü­ren, nur noch inten­si­ver. Denn die unmit­tel­bar­ste Quel­le sei­ner Inspi­ra­ti­on war die eige­ne Erfahrung.

Der Ablauf eines gan­zen Men­schen- und Künst­ler­le­bens wird in sei­nem Oeu­vre zyklisch vor­ge­führt. Denn er war der erste moder­ne Maler, der in Kon­zen­tra­ti­on auf die mensch­li­che Psy­che die Vor­stel­lung, dass Per­sön­lich­keit durch Kon­flik­te ent­steht, in eine kon­se­quen­te Bild­spra­che über­setz­te. Als ein von Erin­ne­run­gen gelei­te­ter Künst­ler hat er sich selbst dar­ge­stellt. Das ist auch der Sinn des »Lebens­frie­ses« (so das gleich­na­mi­ge Kapi­tel), der von Anfang an als eine offe­ne Rei­he über die Lebens­the­men Lie­be, Angst und Tod ange­legt ist und sein Lebens­werk aus­macht. Hier hat er sei­ne wich­tig­sten Wer­ke wie »Der Schrei«, »Angst« (1894), »Vam­pir« (1893), »Madon­na« (1894) und vie­le ande­re als Serie zusam­men­ge­fasst. Dage­gen ist das Leit­the­ma der 1916 voll­ende­ten Wand­bil­der der Aula der Uni­ver­si­tät Oslo das Licht der Erkennt­nis, prä­sen­tiert in der Son­ne, die ihre pris­ma­ti­schen Strah­len über die Land­schaft aus­gießt. Ein­ge­bet­tet in ein strah­lend leuch­ten­des Uni­ver­sum ste­hen die jun­ge und die alte Gene­ra­ti­on für die Ver­schmel­zung des Men­schen mit der trans­for­mie­ren­den Kraft der Natur. Die Land­schaf­ten, die die männ­li­che Figur in »Geschich­te« und die Frau in »Alma Mater« umge­ben, ste­hen in Har­mo­nie mit ihnen und tra­gen gleich­zei­tig etwas Eige­nes zum Bild bei.

So hat sich Munch mit vie­len The­men über Jahr­zehn­te hin­weg beschäf­tigt und sich dabei ganz unter­schied­li­cher Mate­ria­li­en, Bild­trä­ger und Tech­ni­ken bedient. Das The­ma »Mäd­chen auf der Brücke« ist von ihm ins­ge­samt sech­zehn­mal in Gemäl­den und in Radie­run­gen, Holz­schnit­ten und Litho­gra­fien bear­bei­tet wor­den. Eros und Tod, in ihren Facet­ten von Ver­füh­rung, Eifer­sucht, Lebens­angst und Krank­heit, sind die Leit­mo­ti­ve Munchs, die bis in sei­ne Land­schafts­dar­stel­lun­gen aus­strah­len. Dane­ben bil­den Por­träts, auch zahl­rei­che Selbst­bild­nis­se, einen wei­te­ren The­men­schwer­punkt. Er hat das Aqua­tin­ta-Ver­fah­ren in die Tech­nik sei­ner Kalt­na­del­ra­die­run­gen ein­be­zo­gen, unter­schied­li­che Tech­ni­ken wie Litho­gra­fie und Holz­schnitt im Zusam­men­druck auf einem Blatt ver­wen­det oder die Plat­ten sei­ner Holz­schnit­te zer­sägt, um durch indi­vi­du­el­les Ein­fär­ben der Teil­stücke neue Effek­te und Bild­stim­mun­gen zu erzie­len. Sei­ne gra­fi­schen Blät­ter hat er zusätz­lich aqua­rel­liert oder durch Über­ma­lun­gen inhalt­lich erwei­tert – immer ging es ihm um die letzt­gül­ti­ge For­mu­lie­rung eines The­mas im Bild.

Wenn man den­noch ein paar Wün­sche äußern dürf­te, dann wären es die Begrif­fe Fran­zö­si­scher Impres­sio­nis­mus, Land­schaft (aber dafür ist Natur vor­han­den), Lebens­baum (doch dafür gibt es Ygg­dra­sil, die Welt­esche, aus der alt­nor­di­schen »Edda«-Sammlung), Mas­ken, Mis­an­thro­pie, Tod, Wahn­sinn, Wald, Madon­na und Vam­pir (aber die bei­den letz­ten Moti­ve sind im Arti­kel »Lebens­fries« ent­hal­ten), Max Rein­hardt (er wird aber in den Kapi­teln »Gespen­ster« und »Lebens­fries« erwähnt) und viel­leicht auch Strindberg.

Die Art und Wei­se, wie Ulf Küster unter dem lapi­da­ren Sach­buch­ti­tel »A – Z« die See­len­land­schaf­ten die­ses gro­ßen nor­we­gi­schen Malers zu ver­mit­teln weiß, erweist sich für den Leser als span­nen­de Lek­tü­re von Anfang bis Ende; man kann den Band aber eben­so als Nach­schla­ge­werk immer wie­der gewinn­voll zur Hand neh­men. Wohl mit Recht dürf­te er als »See­len­ta­ge­buch« Munchs zu bezeich­nen sein.

Küster, Ulf: Edvard A – Z, Ber­lin: Hat­je Cantz 2025, 120 S., 18 €.