Auf Einladung des Berliner Kunstvereins zeigte der in seiner norwegischen Heimat bis dahin erfolglose Edvard Munch 1892 55 Gemälde im Ausland, doch erschreckt von der ungewohnten Kühnheit seiner Bilder, setzten konservative Kreise die vorzeitige Schließung der Berliner Ausstellung durch. Gerade aber dieser Skandal machte Munch schlagartig bekannt, er zog dann auch selbst nach Berlin und hielt sich hier bis 1908 immer wieder auf.
In Deutschland wurde ihm bald größte Beachtung entgegengebracht. Die wegweisende internationale Ausstellung des Kölner Sonderbundes 1912 enthielt einen Ehrensaal mit 32 Gemälden Munchs. Er sollte als Vorläufer der jungen expressionistischen Maler präsentiert werden. 1927 erfolgte die bis dahin größte Munch-Retrospektive in der Berliner Nationalgalerie. Als die Deutschen 1940 Norwegen besetzten, zog sich Munch auf sein 1916 erworbenes Anwesen in Ekely bei Oslo zurück und widerstand allen Annäherungsversuchen der Nazis; er wurde kein »Quisling«, wie der von den Deutschen während der Okkupationszeit eingesetzte norwegische Ministerpräsident hieß.
Als Munch 1944 starb, lehnte die Schwester des Künstlers ein Staatsbegräbnis ab. Dennoch musste sie sich gefallen lassen, dass mit Hakenkreuzfahnen versehene Kränze auf seinen Sarg gelegt wurden. Von den Nationalsozialisten wurde Munch einerseits als nordisch-germanischer Künstler, andererseits als »entartet« instrumentalisiert. In der Nazi-Aktion »Entartete Kunst« 1937 waren 82 seiner Werke aus den deutschen Museen konfisziert worden. Und 1942 wurden Gemälde von ihm in Oslo als abschreckende »Anti-Kunst« vorgeführt.
Dieses und viel mehr kann man in dem schmalen, aber gewichtigen Band »Munch A – Z« von Ulf Küster erfahren, der diese Künstler-Reihe konzipiert hat und hier bereits mit Piet Mondrian und Edward Hopper vertreten war. Als Kurator so vieler international ausstrahlender Ausstellungen zu Künstlern und Themen der Vor-Moderne, Moderne und Post-Moderne an der Fondation Beyeler in Riehm bei Basel sowie als Autor ebenso bedeutender Künstler-Monografien ist er bestens bekannt. In 26 Kurzkapiteln – von »Angst«, »Bohème«, »Häuser«, »Lebensfries« über »Ich, Edvard Munch«, »Natur«, »Pubertät«, bis »Schrei«, »Universität« und »Zoo« (Munchs Bildergeschichte »Alpha und Omega«), begleitet von ganz- und halbformatigen Abbildungen, gibt er Leitlinien zur Biografie und Werkwelt dieses Bahnbrechers der Moderne, zu dessen facettenreicher Porträt-, Figuren- und Landschaftskunst. Dabei vermag Küster viel Neues zu entdecken. Denn Munch war es in einzigartiger Weise gelungen, die Stilmittel des Impressionismus, die Farbgewalt der Fauves mit den zentralen Inhalten seiner unruhigen Seele, die ewig um Tod, Leben, Angst und Hoffnung kreisten, zu einem ganz eigenen Stil zu verbinden.
Schon 1898 hatte Munch in Aasgardstrand, an einem Fjord außerhalb Oslos, eine Fischerhütte als Sommeratelier bezogen. Er machte Aasgardstrand, seine Menschen, Häuser Wälder, Felsen und Küste, zu einer der symbolhaften Landschaften des modernen Geistes und zum Sinnbild der Entfremdung, Verlorenheit und Sehnsucht. Die Männer und Frauen, die in einem ichbezogenen Trancezustand auf das Meer hinausblicken, sind vielleicht die letzten Nachfahren der melancholischen Rückenfiguren in der romantischen Malerei. Diese Landschaft ist der Hintergrund jenes bedrückenden Seelenzustandes, unter dem Munch zeitlebens gelitten hat, jenes »schreckliche Angstgefühl, das ich in meiner Kunst auszudrücken versucht habe«.
Im Kapitel »Schrei« – Munch hat das Thema zwischen 1893 und 1910 in vier Gemälden und einer Lithografie dargestellt – geht Küster auf jenes Motiv ein, das dann die berühmteste Darstellung existenzieller Angst überhaupt wurde: Ein gespenstisches menschliches Wesen mit weit aufgerissenem Mund angesichts eines »blutroten« Sonnenuntergangs. Wie Schallwellen breitet sich die Farbe über das ganze Bild aus. Munch will dieses unheildrohende Naturschauspiel selbst erlebt haben: »Ich fühlte, wie ein gewaltiger, endloser Schrei durch die Natur ging.«
In »Pubertät« (1894) – dazu das ebenso betitelte Kapitel – hockt ein Mädchen auf dem Bett und bedeckt seine Scham mit ungeschickt furchtsamen Händen, während sich der eigene Schatten hinter ihr wie ein phallisches Symbol drohend aufzurichten scheint. Oder ist es statt des Schattens »ein schwarzer Flügel, dessen Gegenstück mit der Unbefangenheit verloren gegangen ist«, wie Küster vermutet? In der verzweifelten Umarmung des Paares (»Der Kuss«, 1902) wird schon die später umso heftiger aufbrechende Kluft spürbar. Dieselben Spannungen, die Ibsens und Strindbergs Dramen so beklemmend machen, kann man auch bei Munch spüren, nur noch intensiver. Denn die unmittelbarste Quelle seiner Inspiration war die eigene Erfahrung.
Der Ablauf eines ganzen Menschen- und Künstlerlebens wird in seinem Oeuvre zyklisch vorgeführt. Denn er war der erste moderne Maler, der in Konzentration auf die menschliche Psyche die Vorstellung, dass Persönlichkeit durch Konflikte entsteht, in eine konsequente Bildsprache übersetzte. Als ein von Erinnerungen geleiteter Künstler hat er sich selbst dargestellt. Das ist auch der Sinn des »Lebensfrieses« (so das gleichnamige Kapitel), der von Anfang an als eine offene Reihe über die Lebensthemen Liebe, Angst und Tod angelegt ist und sein Lebenswerk ausmacht. Hier hat er seine wichtigsten Werke wie »Der Schrei«, »Angst« (1894), »Vampir« (1893), »Madonna« (1894) und viele andere als Serie zusammengefasst. Dagegen ist das Leitthema der 1916 vollendeten Wandbilder der Aula der Universität Oslo das Licht der Erkenntnis, präsentiert in der Sonne, die ihre prismatischen Strahlen über die Landschaft ausgießt. Eingebettet in ein strahlend leuchtendes Universum stehen die junge und die alte Generation für die Verschmelzung des Menschen mit der transformierenden Kraft der Natur. Die Landschaften, die die männliche Figur in »Geschichte« und die Frau in »Alma Mater« umgeben, stehen in Harmonie mit ihnen und tragen gleichzeitig etwas Eigenes zum Bild bei.
So hat sich Munch mit vielen Themen über Jahrzehnte hinweg beschäftigt und sich dabei ganz unterschiedlicher Materialien, Bildträger und Techniken bedient. Das Thema »Mädchen auf der Brücke« ist von ihm insgesamt sechzehnmal in Gemälden und in Radierungen, Holzschnitten und Lithografien bearbeitet worden. Eros und Tod, in ihren Facetten von Verführung, Eifersucht, Lebensangst und Krankheit, sind die Leitmotive Munchs, die bis in seine Landschaftsdarstellungen ausstrahlen. Daneben bilden Porträts, auch zahlreiche Selbstbildnisse, einen weiteren Themenschwerpunkt. Er hat das Aquatinta-Verfahren in die Technik seiner Kaltnadelradierungen einbezogen, unterschiedliche Techniken wie Lithografie und Holzschnitt im Zusammendruck auf einem Blatt verwendet oder die Platten seiner Holzschnitte zersägt, um durch individuelles Einfärben der Teilstücke neue Effekte und Bildstimmungen zu erzielen. Seine grafischen Blätter hat er zusätzlich aquarelliert oder durch Übermalungen inhaltlich erweitert – immer ging es ihm um die letztgültige Formulierung eines Themas im Bild.
Wenn man dennoch ein paar Wünsche äußern dürfte, dann wären es die Begriffe Französischer Impressionismus, Landschaft (aber dafür ist Natur vorhanden), Lebensbaum (doch dafür gibt es Yggdrasil, die Weltesche, aus der altnordischen »Edda«-Sammlung), Masken, Misanthropie, Tod, Wahnsinn, Wald, Madonna und Vampir (aber die beiden letzten Motive sind im Artikel »Lebensfries« enthalten), Max Reinhardt (er wird aber in den Kapiteln »Gespenster« und »Lebensfries« erwähnt) und vielleicht auch Strindberg.
Die Art und Weise, wie Ulf Küster unter dem lapidaren Sachbuchtitel »A – Z« die Seelenlandschaften dieses großen norwegischen Malers zu vermitteln weiß, erweist sich für den Leser als spannende Lektüre von Anfang bis Ende; man kann den Band aber ebenso als Nachschlagewerk immer wieder gewinnvoll zur Hand nehmen. Wohl mit Recht dürfte er als »Seelentagebuch« Munchs zu bezeichnen sein.
Küster, Ulf: Edvard A – Z, Berlin: Hatje Cantz 2025, 120 S., 18 €.