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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Eine Bremer Justizposse

Die pro­te­stan­ti­sche Kir­che (wie jede ande­re Kir­che) soll­te, näh­me sie den Auf­trag ihres Evan­ge­li­ums ernst, eigent­lich immer auf der Sei­te der Schwa­chen, der Unter­pri­vi­le­gier­ten und Unter­drück­ten ste­hen – eben auf der Sei­te der »Müh­se­li­gen und Bela­de­nen«, wie es bei Mat­thä­us 11,28 heißt. Was bedeu­tet, dass heut­zu­ta­ge zu die­ser von Jesus ange­spro­che­nen Kate­go­rie von Men­schen auch die Palä­sti­nen­ser gehö­ren wür­den, die von den zio­ni­sti­schen Juden unter­drückt, ver­trie­ben, ihres Lan­des und damit ihrer Exi­stenz beraubt wer­den und an denen zur­zeit im Gaza­strei­fen ein Völ­ker­mord ver­übt wird. Eigent­lich Grund genug für die Kir­che, hier ein­deu­tig Par­tei zu ergreifen.

Aber weit gefehlt. Die Palä­sti­nen­ser und ihr Pro­blem gibt es für die evan­ge­li­sche Kir­che offen­sicht­lich über­haupt nicht. Und das hat sei­nen theo­lo­gi­schen Grund. Die­se Kir­che hat Jahr­hun­der­te lang die Juden wegen des angeb­li­chen Got­tes­mor­des abge­lehnt, ver­ach­tet und sogar bekämpft. Bestes Bei­spiel ist der Juden­hass Mar­tin Luthers, auf den sich die Nazis tri­um­phie­rend bezie­hen konn­ten. In Hit­lers »Drit­ten Reich« hat sich die Kir­che – gelin­de gesagt – nicht sehr koscher ver­hal­ten, son­dern sie ist eine enge Bin­dung mit dem NS-System ein­ge­gan­gen. Mit ande­ren Wor­ten: Sie hat schwe­re Schuld auf sich geladen.

Nach 1945 voll­zog die Kir­che ange­sichts der schreck­li­chen Ver­bre­chen des NS-Regimes und der eige­nen Schuld eine theo­lo­gi­sche Wen­de. Sie ver­warf die frü­he­re Leh­re von dem angeb­lich von Juden kol­lek­tiv began­ge­nen Chri­stus- bzw. Got­tes­mord. Die Nach-Ausch­witz-Theo­lo­gie ver­trat nun die The­se von der blei­ben­den »Erwäh­lung« Isra­els, ver­stan­den als das bis heu­te fort­le­ben­de Juden­tum. Sie setzt also »Isra­el« mit dem seit der Anti­ke exi­stie­ren­den Juden­tum, den heu­te leben­den Juden und dem Staat Isra­el gleich. Die Juden sind also immer noch das »Volk Got­tes«. Die Kir­che kennt des­we­gen die Tren­nung von Juden­tum, Zio­nis­mus und Isra­el nicht oder lehnt sie ganz bewusst ab.

Das heißt: Sie hat die Wand­lun­gen und Ver­än­de­run­gen, die sich in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten im Juden­tum und auch in der jüdi­schen Reli­gi­on voll­zo­gen haben, über­haupt nicht zur Kennt­nis genom­men. Ihr Isra­el-Begriff ist rein geist­li­cher Natur. In die­ser Theo­lo­gie wird also das inzwi­schen höchst poli­tisch gewor­de­ne Isra­el (der Staat Isra­el) gleich­ge­setzt mit Juden­tum schlecht­hin und mit dem »Volk Got­tes«. Der Staat Isra­el erscheint so als »Zei­chen der Treue Got­tes«. Das ist – poli­tisch gese­hen – natür­lich ein völ­lig ver­fehl­tes Isra­el-Bild, das aber erklärt, war­um sich die Kir­che so eng an den Staat Isra­el anlehnt, die Rea­li­tät von Besat­zung, Apart­heid und Völ­ker­mord gar nicht zur Kennt­nis nimmt und kei­ne Kri­tik an die­sem Staat zulässt.

Die Fol­ge ist: Mit die­ser neu­en Leh­re ist die Kir­che in eine Fal­le gera­ten. Denn in Aner­ken­nung des blei­ben­den Bun­des Got­tes mit sei­nem Volk Isra­el macht sich die christ­li­che Theo­lo­gie auch die Idee der im Alten Testa­ment ver­kün­de­ten Land­ver­hei­ßung zu eigen (sie bil­ligt also Isra­els Anspruch auf das Land) – und wird so stumm gegen das Unrecht, das an den Palä­sti­nen­sern began­gen wird. Das heißt: Sie lädt neue Schuld auf sich.

Das klingt sehr aka­de­misch-theo­lo­gisch, aber die­se Fak­ten muss man ken­nen, wenn man die Posi­ti­on der pro­te­stan­ti­schen Kir­che zum Nah­ost­kon­flikt ver­ste­hen will. War­um also die Nak­ba-Aus­stel­lung auf Kir­chen­ta­gen nicht gezeigt wer­den darf und das The­ma Palä­sti­na dort tabu ist, war­um die Kir­che für Nah­ost-Ver­an­stal­tun­gen kei­ne Räu­me zur Ver­fü­gung stellt, und war­um sie sogar zum Völ­ker­mord im Gaza­strei­fen beharr­lich schweigt oder sich auf sehr all­ge­mein gehal­te­ne Frie­dens­ap­pel­le beschränkt.

In der Pra­xis nimmt die­se Hal­tung der Kir­che bis­wei­len gro­tes­ke bis absur­de For­men an. In Bre­men gibt es jetzt den neu auf­ge­leg­ten Streit um die 1,50-Meter-Distanz zu den Dom­trep­pen. Das hat fol­gen­de Bewandt­nis: Seit 2011 führt eine Grup­pe von Akti­vi­sten jeden Sams­tag eine ein­stün­di­ge Mahn­wa­che vor den Dom­trep­pen für die Sache der Palä­sti­nen­ser durch. Ihre For­de­run­gen: Ende der Besat­zung, Selbst­be­stim­mung für die­ses Volk und ein gerech­ter Frie­den. (Ursprüng­lich gehör­ten die­ser Mahn­wa­che sogar vier evan­ge­li­sche Pasto­ren an, aller­dings alle im Ruhe­stand, weil sie sonst wohl Ärger mit ihrer Kir­che bekom­men hät­ten.) Die Aus­sa­gen und For­de­run­gen, die die Mahn­wa­che auf ihren Trans­pa­ren­ten und Flug­blät­tern ver­brei­te­ten und noch ver­brei­ten, ent­hiel­ten und ent­hal­ten natür­lich Kri­tik an Isra­el, denn des­sen bru­ta­ler Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus ist die Ursa­che des Konflikts.

Für die Kir­che war die Mahn­wa­che vor den Dom­trep­pen von Anfang an ein Ärger­nis. Denn sie befürch­tet, mit den Paro­len und Aus­sa­gen der Mahn­wa­che iden­ti­fi­ziert zu wer­den. Sie ver­bot des­halb, dass die Demon­stran­ten auf den Dom­trep­pen ste­hen oder sich die­sen über­haupt nähern dür­fen. Die Kir­che stell­te neben dem Dom-Por­tal ein Pla­kat auf, mit dem sie sich deut­lich von den Aus­sa­gen der Mahn­wa­che distan­zier­te. Sie sah dar­in »ein­sei­ti­ge Pro­vo­ka­tio­nen gegen Isra­el« und sogar »Anti­se­mi­tis­mus«. Außer­dem ver­si­cher­te die Kir­che der jüdi­schen Gemein­de ihre Soli­da­ri­tät. Die Mahn­wa­che wur­de auf­ge­for­dert, sich einen ande­ren Platz zu suchen, was die­se aber ablehnte.

Dann mel­de­ten sich die bei­den Bre­mer Pasto­ren Claus Bul­ling und Ernst Uhl in einem Leser­brief in der Lokal­zei­tung Weser-Kurier zu Wort. Sie spra­chen der Kir­che das Recht zu, der Mahn­wa­che das Postie­ren auf den Dom­trep­pen zu ver­bie­ten und mit einem Pla­kat ihre eige­ne Posi­ti­on kund­zu­tun. Dann wur­den die bei­den Theo­lo­gen aber deut­lich und nah­men kein Blatt vor den Mund.

Sie schrie­ben bezug­neh­mend auf die Aus­sa­gen des Pla­ka­tes: »Es ist aber nicht legi­tim, wenn behaup­tet wird: ›Die Bre­mi­sche Evan­ge­li­sche Kir­che und die St.-Petri-Domgemeinde distan­zie­ren sich aus­drück­lich von den dort vor­ge­brach­ten pau­scha­len und ein­sei­tig gegen Isra­el vor­ge­brach­ten Pro­vo­ka­tio­nen.‹ Es gibt kei­ne Instanz, die im Namen der Bre­mi­schen Evan­ge­li­schen Kir­che eine sol­che Stel­lung­nah­me ver­öf­fent­li­chen darf. Das ver­bie­tet die Ver­fas­sung der Bre­mi­schen Evan­ge­li­schen Kirche.«

Die bei­den Pasto­ren schrie­ben wei­ter: »Es gibt vie­le Chri­sten in Bre­men – auch wir gehö­ren dazu –, die sich inhalt­lich mit dem iden­ti­fi­zie­ren, was die Mahn­wa­che anpran­gert. Mit Anti­se­mi­tis­mus hat das gar nichts zu tun. Wir tei­len die Empö­rung der Mahn­wa­che über die wider­recht­li­che Sied­lungs­po­li­tik der israe­li­schen Regie­rung, die nun sogar noch erwei­tert wer­den soll. Wir wis­sen von nam­haf­ten und kei­nes­wegs mili­tan­ten Palä­sti­nen­sern, wie demü­ti­gend es für sie ist, dass sie in ihrem eige­nen Hoheits­ge­biet von israe­li­schen Sied­lern tyran­ni­siert wer­den, dass ihnen im wahr­sten Sin­ne des Wor­tes das Was­ser abge­gra­ben wird, dass ihre Oli­ven­hai­ne zer­stört wer­den, ihnen ihr Land weg­ge­nom­men wird und ihr Hoheits­ge­biet zu einem Flicken­tep­pich gewor­den ist, in dem sie stän­dig an Check­points kon­trol­liert wer­den, und ihnen vie­le Zugän­ge ver­wehrt sind. Eine sol­che Besat­zungs­po­li­tik, anders kann man es inzwi­schen nicht mehr nen­nen, erzeugt Ver­bit­te­rung und Hass. Gegen sol­ches Unrecht zu pro­te­stie­ren, sehen wir als unse­re Chri­sten­pflicht an« (Weser Kurier, 05.08.2014).

Eini­ge Jah­re war Ruhe im Streit um die Mahn­wa­che und die Dom­trep­pen. Jetzt wur­de er aber neu ange­facht. Der Ver­fas­ser die­ser Zei­len und eine Akti­vi­stin, die die Mahn­wa­che regel­mä­ßig beim Ord­nungs­amt anmel­den, beka­men nun eine Anzei­ge von der Bre­mer Kri­mi­nal­po­li­zei, Abtei­lung poli­ti­sche Kri­mi­na­li­tät und Ter­ro­ris­mus (K 62). Der Vor­wurf: Zur »Tat­zeit« am 24. Juni um 11:37 habe die Mahn­wa­che den vor­ge­schrie­be­nen Abstand von 1,50 Meter zu den Dom­trep­pen nicht ein­ge­hal­ten und eini­ge Teil­neh­mer hät­ten sogar Sachen auf der Dom­trep­pe abgelegt!

Ein äußerst schwer­wie­gen­des Ver­ge­hen also, das es wirk­lich wert ist, vor Bre­mer Gerich­ten aus­ge­tra­gen zu wer­den, die sonst gern dar­über kla­gen, dass sie völ­lig über­la­stet sind. Wer die Anzei­ge erstat­tet hat, geht aus dem Schrei­ben der Bre­mer Kri­mi­nal­po­li­zei nicht her­vor. Aber die Ver­mu­tung liegt nahe, dass es die St.-Petri Dom­ge­mein­de oder einer ihrer Zuträ­ger oder Anhän­ger ist. Denn wer soll­te sonst ein Inter­es­se dar­an haben, wegen der 1,50-Meter-Distanz zu den Dom­trep­pen Anzei­ge zu erstat­ten? Die Gemein­de bestrei­tet aber die Urhe­ber­schaft der Anzei­ge. Eine ande­re Mög­lich­keit ist, dass die Auf­sicht füh­ren­de Poli­zei, die seit Jah­ren die Mahn­wa­che genau beob­ach­tet, die Anzei­ge erstat­tet hat. Sie notiert auch jedes Mal, was auf den Trans­pa­ren­ten steht, eini­ge hat sie schon konfisziert.

Der Mahn­wa­chen-Teil­neh­mer Bernd Fischer hat­te zuvor einen Brief an die Rechts­ab­tei­lung der St.-Petri-Gemeinde geschrie­ben, in dem er kla­re und deut­li­che Wor­te für das (ver­mut­li­che) Vor­ge­hen der Kir­che äußert: »Ich habe erfah­ren, die Dom­ge­mein­de habe Anzei­ge gegen die Palä­sti­na-Mahn­wa­che mit der Begrün­dung erstat­tet, der vor­ge­schrie­be­ne Min­dest­ab­stand zu den Dom­trep­pen sei nicht ein­ge­hal­ten, Jacken und Gegen­stän­de sei­en gar dort abge­legt wor­den. Als Mit­glied der Palä­sti­na-Mahn­wa­che kann ich die­ses Ver­bre­chen nur bestä­ti­gen. Jawohl, wir bege­hen die Sün­de gegen Gott und Kir­che, indem wir unse­re Jacken und Taschen auf der unte­ren Dom­trep­pe able­gen, wäh­rend von der israe­li­schen Armee in Gaza syste­ma­tisch Zivi­li­sten zu Tau­sen­den mas­sa­kriert werden.«

Und wei­ter: »Hat sich die St. Petri Dom­ge­mein­de zu die­sem Kriegs­ver­bre­chen über das vor­ge­schrie­be­ne Maß der war­men Wor­te hin­aus schon irgend­wann ein­mal geäu­ßert? Hat sie eine Peti­ti­on unter­schrie­ben, einen Pro­test­brief ver­fasst? (…) Hat Ihre Gemein­de schon dage­gen pro­te­stiert, dass in Gaza mit deut­schen Waf­fen gemor­det wird, die mit der Geneh­mi­gung von Regie­rungs­par­tei­en gelie­fert wer­den, die sich ›christ­lich‹ nen­nen? Mir ist davon nichts bekannt. Also for­de­re ich Sie hier­mit auf, die Anzei­ge gegen die Palä­sti­na-Mahn­wa­che zurückzuziehen.«

Auch wenn die Gemein­de die Anzei­ge nicht selbst erstat­tet hat, son­dern die Poli­zei oder jemand anders, der Anzei­gen­stel­ler hat sicher­lich im Sin­ne der Kir­che gehan­delt, die seit Jah­ren gegen die Mahn­wa­che kämpft. Und die Han­se­stadt Bre­men hat ihr klei­nes Skan­däl­chen um den 1,50-Meter-Abstand zu den Domtreppen!