Die protestantische Kirche (wie jede andere Kirche) sollte, nähme sie den Auftrag ihres Evangeliums ernst, eigentlich immer auf der Seite der Schwachen, der Unterprivilegierten und Unterdrückten stehen – eben auf der Seite der »Mühseligen und Beladenen«, wie es bei Matthäus 11,28 heißt. Was bedeutet, dass heutzutage zu dieser von Jesus angesprochenen Kategorie von Menschen auch die Palästinenser gehören würden, die von den zionistischen Juden unterdrückt, vertrieben, ihres Landes und damit ihrer Existenz beraubt werden und an denen zurzeit im Gazastreifen ein Völkermord verübt wird. Eigentlich Grund genug für die Kirche, hier eindeutig Partei zu ergreifen.
Aber weit gefehlt. Die Palästinenser und ihr Problem gibt es für die evangelische Kirche offensichtlich überhaupt nicht. Und das hat seinen theologischen Grund. Diese Kirche hat Jahrhunderte lang die Juden wegen des angeblichen Gottesmordes abgelehnt, verachtet und sogar bekämpft. Bestes Beispiel ist der Judenhass Martin Luthers, auf den sich die Nazis triumphierend beziehen konnten. In Hitlers »Dritten Reich« hat sich die Kirche – gelinde gesagt – nicht sehr koscher verhalten, sondern sie ist eine enge Bindung mit dem NS-System eingegangen. Mit anderen Worten: Sie hat schwere Schuld auf sich geladen.
Nach 1945 vollzog die Kirche angesichts der schrecklichen Verbrechen des NS-Regimes und der eigenen Schuld eine theologische Wende. Sie verwarf die frühere Lehre von dem angeblich von Juden kollektiv begangenen Christus- bzw. Gottesmord. Die Nach-Auschwitz-Theologie vertrat nun die These von der bleibenden »Erwählung« Israels, verstanden als das bis heute fortlebende Judentum. Sie setzt also »Israel« mit dem seit der Antike existierenden Judentum, den heute lebenden Juden und dem Staat Israel gleich. Die Juden sind also immer noch das »Volk Gottes«. Die Kirche kennt deswegen die Trennung von Judentum, Zionismus und Israel nicht oder lehnt sie ganz bewusst ab.
Das heißt: Sie hat die Wandlungen und Veränderungen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten im Judentum und auch in der jüdischen Religion vollzogen haben, überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Ihr Israel-Begriff ist rein geistlicher Natur. In dieser Theologie wird also das inzwischen höchst politisch gewordene Israel (der Staat Israel) gleichgesetzt mit Judentum schlechthin und mit dem »Volk Gottes«. Der Staat Israel erscheint so als »Zeichen der Treue Gottes«. Das ist – politisch gesehen – natürlich ein völlig verfehltes Israel-Bild, das aber erklärt, warum sich die Kirche so eng an den Staat Israel anlehnt, die Realität von Besatzung, Apartheid und Völkermord gar nicht zur Kenntnis nimmt und keine Kritik an diesem Staat zulässt.
Die Folge ist: Mit dieser neuen Lehre ist die Kirche in eine Falle geraten. Denn in Anerkennung des bleibenden Bundes Gottes mit seinem Volk Israel macht sich die christliche Theologie auch die Idee der im Alten Testament verkündeten Landverheißung zu eigen (sie billigt also Israels Anspruch auf das Land) – und wird so stumm gegen das Unrecht, das an den Palästinensern begangen wird. Das heißt: Sie lädt neue Schuld auf sich.
Das klingt sehr akademisch-theologisch, aber diese Fakten muss man kennen, wenn man die Position der protestantischen Kirche zum Nahostkonflikt verstehen will. Warum also die Nakba-Ausstellung auf Kirchentagen nicht gezeigt werden darf und das Thema Palästina dort tabu ist, warum die Kirche für Nahost-Veranstaltungen keine Räume zur Verfügung stellt, und warum sie sogar zum Völkermord im Gazastreifen beharrlich schweigt oder sich auf sehr allgemein gehaltene Friedensappelle beschränkt.
In der Praxis nimmt diese Haltung der Kirche bisweilen groteske bis absurde Formen an. In Bremen gibt es jetzt den neu aufgelegten Streit um die 1,50-Meter-Distanz zu den Domtreppen. Das hat folgende Bewandtnis: Seit 2011 führt eine Gruppe von Aktivisten jeden Samstag eine einstündige Mahnwache vor den Domtreppen für die Sache der Palästinenser durch. Ihre Forderungen: Ende der Besatzung, Selbstbestimmung für dieses Volk und ein gerechter Frieden. (Ursprünglich gehörten dieser Mahnwache sogar vier evangelische Pastoren an, allerdings alle im Ruhestand, weil sie sonst wohl Ärger mit ihrer Kirche bekommen hätten.) Die Aussagen und Forderungen, die die Mahnwache auf ihren Transparenten und Flugblättern verbreiteten und noch verbreiten, enthielten und enthalten natürlich Kritik an Israel, denn dessen brutaler Siedlerkolonialismus ist die Ursache des Konflikts.
Für die Kirche war die Mahnwache vor den Domtreppen von Anfang an ein Ärgernis. Denn sie befürchtet, mit den Parolen und Aussagen der Mahnwache identifiziert zu werden. Sie verbot deshalb, dass die Demonstranten auf den Domtreppen stehen oder sich diesen überhaupt nähern dürfen. Die Kirche stellte neben dem Dom-Portal ein Plakat auf, mit dem sie sich deutlich von den Aussagen der Mahnwache distanzierte. Sie sah darin »einseitige Provokationen gegen Israel« und sogar »Antisemitismus«. Außerdem versicherte die Kirche der jüdischen Gemeinde ihre Solidarität. Die Mahnwache wurde aufgefordert, sich einen anderen Platz zu suchen, was diese aber ablehnte.
Dann meldeten sich die beiden Bremer Pastoren Claus Bulling und Ernst Uhl in einem Leserbrief in der Lokalzeitung Weser-Kurier zu Wort. Sie sprachen der Kirche das Recht zu, der Mahnwache das Postieren auf den Domtreppen zu verbieten und mit einem Plakat ihre eigene Position kundzutun. Dann wurden die beiden Theologen aber deutlich und nahmen kein Blatt vor den Mund.
Sie schrieben bezugnehmend auf die Aussagen des Plakates: »Es ist aber nicht legitim, wenn behauptet wird: ›Die Bremische Evangelische Kirche und die St.-Petri-Domgemeinde distanzieren sich ausdrücklich von den dort vorgebrachten pauschalen und einseitig gegen Israel vorgebrachten Provokationen.‹ Es gibt keine Instanz, die im Namen der Bremischen Evangelischen Kirche eine solche Stellungnahme veröffentlichen darf. Das verbietet die Verfassung der Bremischen Evangelischen Kirche.«
Die beiden Pastoren schrieben weiter: »Es gibt viele Christen in Bremen – auch wir gehören dazu –, die sich inhaltlich mit dem identifizieren, was die Mahnwache anprangert. Mit Antisemitismus hat das gar nichts zu tun. Wir teilen die Empörung der Mahnwache über die widerrechtliche Siedlungspolitik der israelischen Regierung, die nun sogar noch erweitert werden soll. Wir wissen von namhaften und keineswegs militanten Palästinensern, wie demütigend es für sie ist, dass sie in ihrem eigenen Hoheitsgebiet von israelischen Siedlern tyrannisiert werden, dass ihnen im wahrsten Sinne des Wortes das Wasser abgegraben wird, dass ihre Olivenhaine zerstört werden, ihnen ihr Land weggenommen wird und ihr Hoheitsgebiet zu einem Flickenteppich geworden ist, in dem sie ständig an Checkpoints kontrolliert werden, und ihnen viele Zugänge verwehrt sind. Eine solche Besatzungspolitik, anders kann man es inzwischen nicht mehr nennen, erzeugt Verbitterung und Hass. Gegen solches Unrecht zu protestieren, sehen wir als unsere Christenpflicht an« (Weser Kurier, 05.08.2014).
Einige Jahre war Ruhe im Streit um die Mahnwache und die Domtreppen. Jetzt wurde er aber neu angefacht. Der Verfasser dieser Zeilen und eine Aktivistin, die die Mahnwache regelmäßig beim Ordnungsamt anmelden, bekamen nun eine Anzeige von der Bremer Kriminalpolizei, Abteilung politische Kriminalität und Terrorismus (K 62). Der Vorwurf: Zur »Tatzeit« am 24. Juni um 11:37 habe die Mahnwache den vorgeschriebenen Abstand von 1,50 Meter zu den Domtreppen nicht eingehalten und einige Teilnehmer hätten sogar Sachen auf der Domtreppe abgelegt!
Ein äußerst schwerwiegendes Vergehen also, das es wirklich wert ist, vor Bremer Gerichten ausgetragen zu werden, die sonst gern darüber klagen, dass sie völlig überlastet sind. Wer die Anzeige erstattet hat, geht aus dem Schreiben der Bremer Kriminalpolizei nicht hervor. Aber die Vermutung liegt nahe, dass es die St.-Petri Domgemeinde oder einer ihrer Zuträger oder Anhänger ist. Denn wer sollte sonst ein Interesse daran haben, wegen der 1,50-Meter-Distanz zu den Domtreppen Anzeige zu erstatten? Die Gemeinde bestreitet aber die Urheberschaft der Anzeige. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Aufsicht führende Polizei, die seit Jahren die Mahnwache genau beobachtet, die Anzeige erstattet hat. Sie notiert auch jedes Mal, was auf den Transparenten steht, einige hat sie schon konfisziert.
Der Mahnwachen-Teilnehmer Bernd Fischer hatte zuvor einen Brief an die Rechtsabteilung der St.-Petri-Gemeinde geschrieben, in dem er klare und deutliche Worte für das (vermutliche) Vorgehen der Kirche äußert: »Ich habe erfahren, die Domgemeinde habe Anzeige gegen die Palästina-Mahnwache mit der Begründung erstattet, der vorgeschriebene Mindestabstand zu den Domtreppen sei nicht eingehalten, Jacken und Gegenstände seien gar dort abgelegt worden. Als Mitglied der Palästina-Mahnwache kann ich dieses Verbrechen nur bestätigen. Jawohl, wir begehen die Sünde gegen Gott und Kirche, indem wir unsere Jacken und Taschen auf der unteren Domtreppe ablegen, während von der israelischen Armee in Gaza systematisch Zivilisten zu Tausenden massakriert werden.«
Und weiter: »Hat sich die St. Petri Domgemeinde zu diesem Kriegsverbrechen über das vorgeschriebene Maß der warmen Worte hinaus schon irgendwann einmal geäußert? Hat sie eine Petition unterschrieben, einen Protestbrief verfasst? (…) Hat Ihre Gemeinde schon dagegen protestiert, dass in Gaza mit deutschen Waffen gemordet wird, die mit der Genehmigung von Regierungsparteien geliefert werden, die sich ›christlich‹ nennen? Mir ist davon nichts bekannt. Also fordere ich Sie hiermit auf, die Anzeige gegen die Palästina-Mahnwache zurückzuziehen.«
Auch wenn die Gemeinde die Anzeige nicht selbst erstattet hat, sondern die Polizei oder jemand anders, der Anzeigensteller hat sicherlich im Sinne der Kirche gehandelt, die seit Jahren gegen die Mahnwache kämpft. Und die Hansestadt Bremen hat ihr kleines Skandälchen um den 1,50-Meter-Abstand zu den Domtreppen!