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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Erinnerungskulturen in DDR und BRD

  1. The­se: Gemein­sam­kei­ten der sich ent­wickel­ten Erin­ne­rungs­kul­tu­ren in bei­den deut­schen Staa­ten bestan­den nach 1945 zunächst dar­in, dass in allen Besat­zungs­zo­nen kein gesell­schaft­li­ches Inter­es­se dar­an bestand, die Deut­schen durch eine »Kol­lek­tiv­schuld­the­se« am Desa­ster der NS-Zeit zusätz­lich zu bela­sten, nach­dem sie NS-Herr­schaft, Krieg, Gefan­gen­schaft, Bom­ben­an­grif­fe und die Kämp­fe der Besat­zungs­mäch­te über­stan­den hat­ten. Es ging den Alli­ier­ten und den innen­po­li­tisch rele­van­ten Par­tei­en viel­mehr dar­um, die jewei­li­ge Bevöl­ke­run­gen auf den schwie­ri­gen Wie­der­auf­bau zu kon­zen­trie­ren, sie dafür umzu­er­zie­hen und zu ermu­ti­gen. Wäh­rend bereits die ent­la­sten­de Losung, die Sta­lin zuge­schrie­ben wur­de, lau­te­te: »Die Hit­ler kom­men und gehen, aber das deut­sche Volk bleibt«, galt in den West­zo­nen die juri­sti­sche Abrech­nung mit der NS-Füh­rung durch die Nürn­ber­ger Pro­zes­se lan­ge Zeit als aus­rei­chen­de Ver­ur­tei­lung der Hauptschuldigen.
  2. The­se: Wäh­rend dies in der öst­li­chen Besat­zungs­zo­ne sehr bald mit der Pro­pa­gie­rung einer anti­fa­schi­stisch-sozia­li­sti­schen Gesell­schafts­per­spek­ti­ve ver­bun­den und die Haupt­ver­ant­wor­tung für die Kriegs­ver­bre­chen und Fol­gen der NS-Herr­schaft weit­ge­hend auf das nutz­nie­ßen­de Kapi­tal, das bür­ger­li­che Gesell­schafts­sy­stem sowie auf die ein­sti­ge Spal­tung zwi­schen KPD und SPD vor 1933 dele­giert wur­de, die es nun, nach Vor­bild der Sowjet­uni­on und einer anti­fa­schi­stisch-sozia­li­sti­schen Ver­fas­sung, unter Füh­rung sozia­li­sti­scher Wider­stands­kämp­fer sowie durch Ent­mach­tung aller Funk­ti­ons­trä­ger des NS-Staa­tes in allen Lebens­be­rei­chen, durch wei­te­re juri­sti­sche Ver­ur­tei­lun­gen und durch »Umer­zie­hung« aller Schich­ten der Bevöl­ke­rung zu über­win­den galt. Dar­in bestand durch­aus zunächst eine Stär­ke der Auf­ar­bei­tung der NS-Zeit in der DDR.
  3. The­se: In den west­li­chen Besat­zungs­zo­nen wur­de zunächst die Ent­na­zi­fi­zie­rung auf die Haupt­kriegs­ver­bre­cher beschränkt. Es wur­de dafür eine Gesell­schafts­per­spek­ti­ve nach Vor­bild der West­al­li­ier­ten pro­pa­giert, also eine bür­ger­lich-kapi­ta­li­sti­sche Lei­stungs- und Kon­sum­ge­sell­schaft – mit mode­ra­ten Reform­an­sät­zen der »sozia­len Markt­wirt­schaft«. Zugleich blie­ben dabei alle wirt­schaft­li­chen, juri­sti­schen, teil­wei­se auch mili­tä­ri­schen und uni­ver­si­tä­ren Eli­ten, die das NS-System unter­stützt hat­ten, unan­ge­ta­stet, ein­schließ­lich eines mili­tan­ten Antisowjetismus.
  4. The­se: Erst all­mäh­lich wur­de in bei­den deut­schen Staa­ten, etwa seit den 1960er Jah­ren, deut­li­cher, dass die­se neu­en poli­ti­schen Grund­ori­en­tie­run­gen nach 1945 dazu führ­ten, dass die Mit­ver­ant­wor­tung der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft an der NS-Herr­schaft dabei viel­fach ver­drängt wur­de. Unter­ta­nen­geist, poli­ti­sches Des­in­ter­es­se, man­geln­de Zivil­cou­ra­ge, Auto­ri­täts­gläu­big­keit, feh­len­des demo­kra­ti­sches Enga­ge­ment und ein gras­sie­ren­der Natio­na­lis­mus und Anti­se­mi­tis­mus hat­ten dazu bei­getra­gen, dass die Nazis mit ihrer Dem­ago­gie an die Macht kom­men konn­ten. Sol­che man­geln­de poli­ti­sche Selbst­ver­ant­wor­tung jedes ein­zel­nen Men­schen sowie obrig­keits­staat­li­che Kon­for­mi­tät im All­tags­be­wusst­sein waren auch nach 1945 nicht wirk­lich über­wun­den, son­dern wur­den durch die jeweils neu­en poli­ti­schen Iden­ti­tä­ten in Ost und West ver­deckt und wei­ter tradiert.
  5. The­se: Des­halb wur­de nicht nur die poli­ti­sche, son­dern auch die all­täg­li­che Erin­ne­rungs­kul­tur in bei­den deut­schen Staa­ten, auf unter­schied­li­che Wei­se, mit der Zeit immer wich­ti­ger, beson­ders durch eine ent­ste­hen­de Zivil­ge­sell­schaft, die durch kri­ti­sche Intel­lek­tu­el­le vor­an­ge­trie­ben wur­de. Sie begann in der DDR sehr früh, beson­ders in ver­schie­de­nen Kunst­gat­tun­gen, aber auch durch die Errich­tung der KZ-Gedenk­stät­ten; sie setz­te in der BRD mit der 68er-Bewe­gung ein und mün­de­te schließ­lich in die außen­po­li­ti­sche Ent­span­nungs­po­li­tik der SPD und die innen­po­li­ti­sche Losung »Mehr Demo­kra­tie wagen«, sowie durch die Frie­dens- und Umwelt­be­we­gung. Dadurch ent­stand in der Bun­des­re­pu­blik ein neu­er eman­zi­pa­to­ri­scher Anti­fa­schis­mus, der auch in der DDR eine Wir­kung ent­fal­te­te. Dort gip­fel­te die­se Ent­span­nungs­po­li­tik im KSZE-Pro­zess und in die Annä­he­rung zwi­schen bei­den deut­schen Staa­ten sowie schließ­lich in der Demo­kra­ti­sie­rungs­be­we­gung von 1989, unter der Losung »Wir sind das Volk!« Die dar­aus dann schnell ent­stan­de­ne Losung »Wir sind ein Volk!« hat­te bereits einen rechts­ra­di­ka­len Unter­ton, der sich bald auch in Über­grif­fen auf Aus­län­der entlud.
  6. The­se: In den poli­ti­schen Ent­wick­lun­gen nach 1989 erwies sich, dass die Auf­ar­bei­tung des NS-Desa­sters in bei­den deut­schen Staa­ten kei­nes­falls aus­rei­chend und nur bedingt gelun­gen war. In der DDR exi­stier­te nur eine sehr kur­ze Pha­se von poli­ti­scher Zivil­cou­ra­ge und Selbst­er­mäch­ti­gung in der Bevöl­ke­rung sowie ein sehr ober­fläch­li­ches, illu­so­ri­sches und teils schön­ge­färb­tes Bild über die bür­ger­li­chen Gesell­schafts­ver­hält­nis­se in der BRD. Umge­kehrt war auch das anti­kom­mu­ni­sti­sche Bild über die DDR in der BRD vol­ler Vor­ur­tei­le – und ist es bis heu­te –, oft jen­seits eines Grund­ver­ständ­nis­ses die­ses anti­fa­schi­stisch-sozia­li­sti­schen Gesell­schafts­ver­su­ches, sei­nen tie­fe­ren Ursa­chen, sei­nen Lei­stun­gen und Schwä­chen. Die­se gegen­sei­ti­gen deutsch-deut­schen Defi­zi­te der Erin­ne­rungs­kul­tu­ren wir­ken bis heu­te nach und blockie­ren die gemein­sa­me poli­ti­sche und eman­zi­pa­to­ri­sche Wei­ter­ent­wick­lung in allen Gene­ra­tio­nen. Sie ver­hin­dern eine gewis­se innen- und außen­po­li­ti­sche Kon­sens­bil­dung und gemein­sa­me Gesell­schafts­per­spek­ti­ve über Par­tei­gren­zen hinweg.
  7. The­se: Ange­sichts der erneu­ten Restau­ra­ti­on der expan­si­ven Außen­po­li­tik des Westens, die u. a. durch Nato-Ost­erwei­te­rung, Über­rü­stung, eska­lie­ren­de Staats­ver­schul­dung sowie Unter­stüt­zung welt­wei­ter Regime-Wech­sel, etwa in der Ukrai­ne, in Gaza oder jetzt im Iran, erfolg­te, ergab sich, dass nur eine ober­fläch­li­che Über­win­dung der Ideo­lo­gie des »Kal­ten Krie­ges« statt­fand und die Sicher­heits­ar­chi­tek­tur zwi­schen Ost und West (s. »Kon­fe­renz für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit«) und damit die welt­wei­ten Fort­schrit­te durch die UN-Char­ta weit­ge­hend zunich­te gemacht wur­den. Die Kriegs- und Armuts­flücht­lin­ge, die dar­auf­hin nach Euro­pa und auch nach Nord­ame­ri­ka dräng­ten und eine immer grö­ße­re sozia­le Bela­stung für die inlän­di­schen Sozi­al­sy­ste­me und Bevöl­ke­run­gen bewir­ken, rie­fen ver­stärkt reak­tio­nä­re poli­ti­sche Gesin­nun­gen von Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus sowie eine poli­tisch und medi­al geför­der­te Kriegs­be­reit­schaft in der Mit­te der west­li­chen Gesell­schaf­ten her­vor, mit der wir es heu­te über­all lei­der zu tun haben. Die man­gel­haf­te Auf­ar­bei­tung der inter­na­tio­na­len und natio­na­len wirt­schaft­li­chen Hin­ter­grün­de der NS-Kriegs- und Ver­nich­tungs­po­li­tik, ihre defi­zi­tä­re juri­sti­sche Auf­ar­bei­tung und ihre Fol­gen, die man­gel­haf­te Poli­ti­sie­rung und Mobi­li­sie­rung der Zivil­ge­sell­schaft in Ost und West, wir­ken zudem als Brand­be­schleu­ni­ger der immer wei­ter auf­flam­men­den Rechts­ent­wick­lun­gen nicht nur in Deutsch­land. Die Selbst­de­sta­bi­li­sie­rung der west­li­chen Gesell­schaf­ten mit ihrer sozia­len und natio­na­len Spal­tungs- und Schul­den­po­li­tik för­dert auch hier erneut bedroh­li­che auto­ri­tä­re und irra­tio­na­le Herr­schafts­for­men und erneut welt­wei­te Kriegsgefahren.
  8. The­se: Wir benö­ti­gen m. E. wie­der drin­gend eine star­ke und soli­da­ri­sche Erneue­rung der innen­po­li­ti­schen und außen­po­li­ti­schen Frie­dens- und Demo­kra­ti­sie­rungs­be­we­gung, die es in bei­den deut­schen Staa­ten und welt­weit bis 1989 durch­aus in allen poli­ti­schen Kul­tu­ren gab, um die tie­fe­ren Ursa­chen von faschi­sto­ider Ideo­lo­gie, Rechts­ra­di­ka­lis­mus, Auto­kra­tis­mus und Kriegs­ge­fahr in Deutsch­land und auch welt­weit zurück­zu­drän­gen. Durch die erneut ver­schärf­ten natio­na­len und sozia­len Spal­tun­gen, pri­mär auf­grund west­li­cher Expan­si­ons- und Auf­rü­stungs­po­li­tik, statt gegen­sei­ti­gem Gesell­schafts­wan­del durch sozia­le und natio­na­le Anglei­chung, Annä­he­rung und Abrü­stung, droht die Gefahr eines 3. Welt­krie­ges, der die Kata­stro­phen des 1. und 2. Welt­krie­ges noch bei wei­tem in den Schat­ten stel­len dürf­te. Des­halb ist drin­gend jede Stim­me gefragt, die dage­gen Wider­stand mobi­li­siert und zu einer neu­en welt­wei­ten Anti­kriegs­ma­ssen­be­we­gung bei­trägt, die es vor 1989 durch­aus schon ein­mal gege­ben hat.