- These: Gemeinsamkeiten der sich entwickelten Erinnerungskulturen in beiden deutschen Staaten bestanden nach 1945 zunächst darin, dass in allen Besatzungszonen kein gesellschaftliches Interesse daran bestand, die Deutschen durch eine »Kollektivschuldthese« am Desaster der NS-Zeit zusätzlich zu belasten, nachdem sie NS-Herrschaft, Krieg, Gefangenschaft, Bombenangriffe und die Kämpfe der Besatzungsmächte überstanden hatten. Es ging den Alliierten und den innenpolitisch relevanten Parteien vielmehr darum, die jeweilige Bevölkerungen auf den schwierigen Wiederaufbau zu konzentrieren, sie dafür umzuerziehen und zu ermutigen. Während bereits die entlastende Losung, die Stalin zugeschrieben wurde, lautete: »Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt«, galt in den Westzonen die juristische Abrechnung mit der NS-Führung durch die Nürnberger Prozesse lange Zeit als ausreichende Verurteilung der Hauptschuldigen.
- These: Während dies in der östlichen Besatzungszone sehr bald mit der Propagierung einer antifaschistisch-sozialistischen Gesellschaftsperspektive verbunden und die Hauptverantwortung für die Kriegsverbrechen und Folgen der NS-Herrschaft weitgehend auf das nutznießende Kapital, das bürgerliche Gesellschaftssystem sowie auf die einstige Spaltung zwischen KPD und SPD vor 1933 delegiert wurde, die es nun, nach Vorbild der Sowjetunion und einer antifaschistisch-sozialistischen Verfassung, unter Führung sozialistischer Widerstandskämpfer sowie durch Entmachtung aller Funktionsträger des NS-Staates in allen Lebensbereichen, durch weitere juristische Verurteilungen und durch »Umerziehung« aller Schichten der Bevölkerung zu überwinden galt. Darin bestand durchaus zunächst eine Stärke der Aufarbeitung der NS-Zeit in der DDR.
- These: In den westlichen Besatzungszonen wurde zunächst die Entnazifizierung auf die Hauptkriegsverbrecher beschränkt. Es wurde dafür eine Gesellschaftsperspektive nach Vorbild der Westalliierten propagiert, also eine bürgerlich-kapitalistische Leistungs- und Konsumgesellschaft – mit moderaten Reformansätzen der »sozialen Marktwirtschaft«. Zugleich blieben dabei alle wirtschaftlichen, juristischen, teilweise auch militärischen und universitären Eliten, die das NS-System unterstützt hatten, unangetastet, einschließlich eines militanten Antisowjetismus.
- These: Erst allmählich wurde in beiden deutschen Staaten, etwa seit den 1960er Jahren, deutlicher, dass diese neuen politischen Grundorientierungen nach 1945 dazu führten, dass die Mitverantwortung der deutschen Mehrheitsgesellschaft an der NS-Herrschaft dabei vielfach verdrängt wurde. Untertanengeist, politisches Desinteresse, mangelnde Zivilcourage, Autoritätsgläubigkeit, fehlendes demokratisches Engagement und ein grassierender Nationalismus und Antisemitismus hatten dazu beigetragen, dass die Nazis mit ihrer Demagogie an die Macht kommen konnten. Solche mangelnde politische Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen sowie obrigkeitsstaatliche Konformität im Alltagsbewusstsein waren auch nach 1945 nicht wirklich überwunden, sondern wurden durch die jeweils neuen politischen Identitäten in Ost und West verdeckt und weiter tradiert.
- These: Deshalb wurde nicht nur die politische, sondern auch die alltägliche Erinnerungskultur in beiden deutschen Staaten, auf unterschiedliche Weise, mit der Zeit immer wichtiger, besonders durch eine entstehende Zivilgesellschaft, die durch kritische Intellektuelle vorangetrieben wurde. Sie begann in der DDR sehr früh, besonders in verschiedenen Kunstgattungen, aber auch durch die Errichtung der KZ-Gedenkstätten; sie setzte in der BRD mit der 68er-Bewegung ein und mündete schließlich in die außenpolitische Entspannungspolitik der SPD und die innenpolitische Losung »Mehr Demokratie wagen«, sowie durch die Friedens- und Umweltbewegung. Dadurch entstand in der Bundesrepublik ein neuer emanzipatorischer Antifaschismus, der auch in der DDR eine Wirkung entfaltete. Dort gipfelte diese Entspannungspolitik im KSZE-Prozess und in die Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten sowie schließlich in der Demokratisierungsbewegung von 1989, unter der Losung »Wir sind das Volk!« Die daraus dann schnell entstandene Losung »Wir sind ein Volk!« hatte bereits einen rechtsradikalen Unterton, der sich bald auch in Übergriffen auf Ausländer entlud.
- These: In den politischen Entwicklungen nach 1989 erwies sich, dass die Aufarbeitung des NS-Desasters in beiden deutschen Staaten keinesfalls ausreichend und nur bedingt gelungen war. In der DDR existierte nur eine sehr kurze Phase von politischer Zivilcourage und Selbstermächtigung in der Bevölkerung sowie ein sehr oberflächliches, illusorisches und teils schöngefärbtes Bild über die bürgerlichen Gesellschaftsverhältnisse in der BRD. Umgekehrt war auch das antikommunistische Bild über die DDR in der BRD voller Vorurteile – und ist es bis heute –, oft jenseits eines Grundverständnisses dieses antifaschistisch-sozialistischen Gesellschaftsversuches, seinen tieferen Ursachen, seinen Leistungen und Schwächen. Diese gegenseitigen deutsch-deutschen Defizite der Erinnerungskulturen wirken bis heute nach und blockieren die gemeinsame politische und emanzipatorische Weiterentwicklung in allen Generationen. Sie verhindern eine gewisse innen- und außenpolitische Konsensbildung und gemeinsame Gesellschaftsperspektive über Parteigrenzen hinweg.
- These: Angesichts der erneuten Restauration der expansiven Außenpolitik des Westens, die u. a. durch Nato-Osterweiterung, Überrüstung, eskalierende Staatsverschuldung sowie Unterstützung weltweiter Regime-Wechsel, etwa in der Ukraine, in Gaza oder jetzt im Iran, erfolgte, ergab sich, dass nur eine oberflächliche Überwindung der Ideologie des »Kalten Krieges« stattfand und die Sicherheitsarchitektur zwischen Ost und West (s. »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit«) und damit die weltweiten Fortschritte durch die UN-Charta weitgehend zunichte gemacht wurden. Die Kriegs- und Armutsflüchtlinge, die daraufhin nach Europa und auch nach Nordamerika drängten und eine immer größere soziale Belastung für die inländischen Sozialsysteme und Bevölkerungen bewirken, riefen verstärkt reaktionäre politische Gesinnungen von Nationalismus und Rassismus sowie eine politisch und medial geförderte Kriegsbereitschaft in der Mitte der westlichen Gesellschaften hervor, mit der wir es heute überall leider zu tun haben. Die mangelhafte Aufarbeitung der internationalen und nationalen wirtschaftlichen Hintergründe der NS-Kriegs- und Vernichtungspolitik, ihre defizitäre juristische Aufarbeitung und ihre Folgen, die mangelhafte Politisierung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft in Ost und West, wirken zudem als Brandbeschleuniger der immer weiter aufflammenden Rechtsentwicklungen nicht nur in Deutschland. Die Selbstdestabilisierung der westlichen Gesellschaften mit ihrer sozialen und nationalen Spaltungs- und Schuldenpolitik fördert auch hier erneut bedrohliche autoritäre und irrationale Herrschaftsformen und erneut weltweite Kriegsgefahren.
- These: Wir benötigen m. E. wieder dringend eine starke und solidarische Erneuerung der innenpolitischen und außenpolitischen Friedens- und Demokratisierungsbewegung, die es in beiden deutschen Staaten und weltweit bis 1989 durchaus in allen politischen Kulturen gab, um die tieferen Ursachen von faschistoider Ideologie, Rechtsradikalismus, Autokratismus und Kriegsgefahr in Deutschland und auch weltweit zurückzudrängen. Durch die erneut verschärften nationalen und sozialen Spaltungen, primär aufgrund westlicher Expansions- und Aufrüstungspolitik, statt gegenseitigem Gesellschaftswandel durch soziale und nationale Angleichung, Annäherung und Abrüstung, droht die Gefahr eines 3. Weltkrieges, der die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges noch bei weitem in den Schatten stellen dürfte. Deshalb ist dringend jede Stimme gefragt, die dagegen Widerstand mobilisiert und zu einer neuen weltweiten Antikriegsmassenbewegung beiträgt, die es vor 1989 durchaus schon einmal gegeben hat.