Von den vielen Ämtern, die Konrad Wolf in seinen nur 56 Lebensjahren ausübte, war wohl die Funktion eines Stadtkommandanten die kurioseste und kürzeste. Sie währte nur wenig mehr als 24 Stunden. »Wir nähern uns einer Stadt, nach meiner Karte könnte es Bernau sein«, schreibt Wolf in sein Kriegstagebuch, das er seit zwei Jahren führt. Er gehört als Soldat der 7. Abteilung der 47. Armee an und ist gerade mal neunzehn. »Wir stoppen, und einer der Panzerspähwagen fährt voraus. General Perchorowitsch marschiert an der Kolonne entlang, bleibt vor unserem Mannschaftswagen stehen und blickt hoch.« Dann winkt er Wolf zu sich.
»Sag mal, Leutnant, woher stammst du?«
»Aus Moskau!«
Der General schüttelt den Kopf. »Nein, ich frage, woher du hier in Deutschland stammst!«
»Aus Stuttgart«, antwortet Wolf.
Die Stadt hat er mit acht Jahren verlassen müssen. Die Familie des Schriftstellers Friedrich Wolf mit den drei Kindern hatten die Nazis außer Landes getrieben. Inzwischen ist Konrad W. sowjetischer Staatsbürger, der wenige Wochen nach seinem siebzehnten Geburtstag zur Roten Armee eingezogen worden war, und bereits Leutnant.
»Schade«, sagt der General, »da kommen wir nicht hin, dort sind die Amerikaner«. Die umstehenden Offiziere lachen. In diesem Moment kommt die Nachricht, dass sich bei Bernau große deutsche Versorgungslager befinden, die seien unbewacht und würden geplündert. Es gebe Mord und Totschlag.
Perchorowitsch fragt nach einem Major, der als Kommandant für Bernau bestimmt ist. Der sei noch nicht da, stecke wahrscheinlich an der Oder fest, heißt es. Die Gesichtszüge des Generals verfinstern und die Umstehenden verkrümeln sich. Sie ahnen Ungemach. Auch Konrad Wolf.
»Leutnant, hierbleiben!«
Der General schreibt mit Rotstift einige Zeilen in sein Notizbuch, reißt das Blatt heraus und reicht es Wolf. »Leutnant, ich ernenne Sie hiermit zum zeitweiligen Stadtkommandanten der Sowjetarmee von Bernau. Bis zur Ablösung.« Dann steigt er in seinen Jeep. »Zuerst kümmerst du dich um die Lager. Mach’s gut, Junge.«
Wie das im Einzelnen weitergeht, kann man jetzt nachlesen in einem Buch, das zum 100. Geburtstag von Konrad Wolf erschienen ist. Nur so viel sei verraten: An der Stadtmauer von Bernau erinnern heute ein Marmorrelief von Werner Stötzer und eine Stahlstele von Jan Skuin an Wolfs Gastspiel. Die Gedenkstätte unweit des Pulverturms, installiert zu seinem 60. Geburtstag, wird vermutlich am 20. Oktober von vielen Menschen aufgesucht werden. Es ist, das nur nebenbei, der einzige Gedenkort in Deutschland, der an den Autor, Regisseur und Präsidenten der Akademie der Künste der DDR erinnert (s. Ossietzky 6/2020 »Bernauer Mauer«).
Paul Werner Wagner hat das Kriegstagebuch und einige Briefe, die Konrad Wolf seinerzeit an die Familie richtete, aus gegebenem Anlass herausgegeben. Der gegebene Anlass ist nicht nur das Jubiläum, sondern auch der Zeitgeist. Es scheint, als haben die Beziehungen zwischen Deutschen und Russen fast jenen Tiefpunkt wieder erreicht, als die einen »die Iwans« waren und die anderen »die Fritzen« und aufeinander schossen. Mit Worten, vor allem aber mit Waffen.
Konrad Wolf kämpfte sich vom Ufer des Schwarzen Meeres bis nach Berlin, in einer Propaganda-Einheit übersetzte er Verhöre deutscher Kriegsgefangener, schrieb Flugblätter und richtete über Lautsprecher das Wort an die »deutschen Kameraden«. Darüber machte er Mitteilung in seinem Tagebuch. Das hat nichts Heroisches, ist alles andere als ein Heldengesang, kein Hohelied vermeintlicher Stahlgewitter. Selten las ich von einem Militär derart Antimilitaristisches. Wer den Akademiepräsidenten und Filmregisseur kannte, ist davon nicht überrascht. Die Uniform trug Wolf nicht, weil er es wollte, sondern weil er es musste. Um seine Heimat Sowjetunion zu verteidigen und sein Vaterland Deutschland vom Faschismus zu befreien, wie er selbst schrieb.
Nüchtern und lakonisch schildert er den Soldatenalltag hinter der Front, berichtet über Spannungen zwischen den Soldaten, die um ihn herum sind, schreibt über Stimmungen, die ihn beherrschen – er ist ein Teenager. Doch erstaunlich reif und erwachsen, wofür der Krieg sorgt. Bekanntlich altern Menschen unter solchen Umständen besonders rasch. Wolf jedoch bleibt jugendlich empfindsam, ist geradezu poetisch. Gogol (!) kommt ihn in den Sinn, als sie in die Nähe von Mirgorod kommen, wo einst der russische Schriftsteller geboren wurde und seine Jugend verbrachte. »Ein dunkelblauer Himmel mit Millionen heller Sterne. Ein leichter, angenehm kühler Wind weht den Wohlgeruch der Steppe herbei«, notiert er ins Tagebuch. »In der Ferne steigen Lichter auf, den Sternen ähnlich, doch es sind keine Sterne. Sie werden größer, leuchten, erhellen die ganze Gegend. Dann sinken sie langsam herab. Leuchtkugeln. Ein Dröhnen wird laut wie Donnergrollen, doch nein – es ist kein Gewitter, in der Ferne schießt ein Geschütz.« Und am Ende heißt es in dieser Eintragung vom 3. September 1943. »Da habt ihr die ukrainische Nacht, eine Nacht wie bei Gogol, aber eine, die den Krieg atmet.« Nur wenige hundert Kilometer von hier, im Nordosten, tobte wenige Wochen zuvor bei Kursk die größte Land- und Luftschlacht der Menschheitsgeschichte, wie später Historiker feststellen werden, nächst Stalingrad war sie kriegsentscheidend. Mirgorod – heute in der Zentralukraine gelegen und Myrhorod geheißen – setzt sich, ins Deutsche transkribiert, aus den Silben »Frieden« und »Stadt« zusammen und soll im 11. Jahrhundert an der Ostgrenze des Reiches der Kiewer Rus errichtet worden sein. Als Teil einer Befestigungsanlage.
Leutnant Konrad Wolfs Aufzeichnungen liefern später die Basis für einen der besten Filme der DEFA. »Ich war neunzehn« kam 1968 in die DDR-Kinos, zweieinhalb Millionen Menschen sahen diesen Antikriegsfilm im ersten halben Jahr. Einige Jahre zuvor hatte Bernhard Wicki – ein gebürtiger Österreicher mit Schweizer Pass – mit »Die Brücke« einen nicht minder aufrüttelnden Antikriegsfilm gedreht. Tausende junge Männer, so erzählte er später, hätten ihm geschrieben, dass sie »aufgrund meines Filmes den Kriegsdienst verweigert haben«. Ich bin überzeugt, dass die heutige Ablehnung jeglicher Kriegsertüchtigung bei sehr vielen Ostdeutschen auch in Konrads Wolfs Film wurzelt. Und mit der Veröffentlichung seines Kriegstagebuchs wird diese Haltung Bestätigung und Bekräftigung finden. Wolfs letzte Eintragung ist vom 3. Mai 1945. Er soll sich in Karolinenhof beim Frontstab melden und marschiert »durch das Labyrinth der verschütteten Straßen« im Zentrum Berlins. »Ich durchquerte und erlebte eine Stadt, die ein Trümmerhaufen voller Menschen war.« Und er stellt sich die Frage: »Kann sich dieses Land, dieses Volk jemals wieder erheben?« Er glaubt, dass es möglich ist. »Aber der Weg ist sehr lang.«
Und nun stehen wir wieder dort. Am Ende, das ein Anfang werden muss.
Konrad Wolf: Kriegstagebuch und Briefe 1942-1945. Herausgegeben von Paul Werner Wagner, edition ost, 448 S., gebunden, illustriert, 28 €.