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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ermutigung in der Dunkelheit

Von den vie­len Ämtern, die Kon­rad Wolf in sei­nen nur 56 Lebens­jah­ren aus­üb­te, war wohl die Funk­ti­on eines Stadt­kom­man­dan­ten die kurio­se­ste und kür­ze­ste. Sie währ­te nur wenig mehr als 24 Stun­den. »Wir nähern uns einer Stadt, nach mei­ner Kar­te könn­te es Ber­nau sein«, schreibt Wolf in sein Kriegs­ta­ge­buch, das er seit zwei Jah­ren führt. Er gehört als Sol­dat der 7. Abtei­lung der 47. Armee an und ist gera­de mal neun­zehn. »Wir stop­pen, und einer der Pan­zer­späh­wa­gen fährt vor­aus. Gene­ral Per­cho­ro­witsch mar­schiert an der Kolon­ne ent­lang, bleibt vor unse­rem Mann­schafts­wa­gen ste­hen und blickt hoch.« Dann winkt er Wolf zu sich.

»Sag mal, Leut­nant, woher stammst du?«

»Aus Mos­kau!«

Der Gene­ral schüt­telt den Kopf. »Nein, ich fra­ge, woher du hier in Deutsch­land stammst!«

»Aus Stutt­gart«, ant­wor­tet Wolf.

Die Stadt hat er mit acht Jah­ren ver­las­sen müs­sen. Die Fami­lie des Schrift­stel­lers Fried­rich Wolf mit den drei Kin­dern hat­ten die Nazis außer Lan­des getrie­ben. Inzwi­schen ist Kon­rad W. sowje­ti­scher Staats­bür­ger, der weni­ge Wochen nach sei­nem sieb­zehn­ten Geburts­tag zur Roten Armee ein­ge­zo­gen wor­den war, und bereits Leutnant.

»Scha­de«, sagt der Gene­ral, »da kom­men wir nicht hin, dort sind die Ame­ri­ka­ner«. Die umste­hen­den Offi­zie­re lachen. In die­sem Moment kommt die Nach­richt, dass sich bei Ber­nau gro­ße deut­sche Ver­sor­gungs­la­ger befin­den, die sei­en unbe­wacht und wür­den geplün­dert. Es gebe Mord und Totschlag.

Per­cho­ro­witsch fragt nach einem Major, der als Kom­man­dant für Ber­nau bestimmt ist. Der sei noch nicht da, stecke wahr­schein­lich an der Oder fest, heißt es. Die Gesichts­zü­ge des Gene­rals ver­fin­stern und die Umste­hen­den ver­krü­meln sich. Sie ahnen Unge­mach. Auch Kon­rad Wolf.

»Leut­nant, hierbleiben!«

Der Gene­ral schreibt mit Rot­stift eini­ge Zei­len in sein Notiz­buch, reißt das Blatt her­aus und reicht es Wolf. »Leut­nant, ich ernen­ne Sie hier­mit zum zeit­wei­li­gen Stadt­kom­man­dan­ten der Sowjet­ar­mee von Ber­nau. Bis zur Ablö­sung.« Dann steigt er in sei­nen Jeep. »Zuerst küm­merst du dich um die Lager. Mach’s gut, Junge.«

Wie das im Ein­zel­nen wei­ter­geht, kann man jetzt nach­le­sen in einem Buch, das zum 100. Geburts­tag von Kon­rad Wolf erschie­nen ist. Nur so viel sei ver­ra­ten: An der Stadt­mau­er von Ber­nau erin­nern heu­te ein Mar­mor­re­li­ef von Wer­ner Stöt­zer und eine Stahl­ste­le von Jan Sku­in an Wolfs Gast­spiel. Die Gedenk­stät­te unweit des Pul­ver­turms, instal­liert zu sei­nem 60. Geburts­tag, wird ver­mut­lich am 20. Okto­ber von vie­len Men­schen auf­ge­sucht wer­den. Es ist, das nur neben­bei, der ein­zi­ge Gedenk­ort in Deutsch­land, der an den Autor, Regis­seur und Prä­si­den­ten der Aka­de­mie der Kün­ste der DDR erin­nert (s. Ossietzky 6/​2020 »Ber­nau­er Mauer«).

Paul Wer­ner Wag­ner hat das Kriegs­ta­ge­buch und eini­ge Brie­fe, die Kon­rad Wolf sei­ner­zeit an die Fami­lie rich­te­te, aus gege­be­nem Anlass her­aus­ge­ge­ben. Der gege­be­ne Anlass ist nicht nur das Jubi­lä­um, son­dern auch der Zeit­geist. Es scheint, als haben die Bezie­hun­gen zwi­schen Deut­schen und Rus­sen fast jenen Tief­punkt wie­der erreicht, als die einen »die Iwans« waren und die ande­ren »die Frit­zen« und auf­ein­an­der schos­sen. Mit Wor­ten, vor allem aber mit Waffen.

Kon­rad Wolf kämpf­te sich vom Ufer des Schwar­zen Mee­res bis nach Ber­lin, in einer Pro­pa­gan­da-Ein­heit über­setz­te er Ver­hö­re deut­scher Kriegs­ge­fan­ge­ner, schrieb Flug­blät­ter und rich­te­te über Laut­spre­cher das Wort an die »deut­schen Kame­ra­den«. Dar­über mach­te er Mit­tei­lung in sei­nem Tage­buch. Das hat nichts Heroi­sches, ist alles ande­re als ein Hel­den­ge­sang, kein Hohe­lied ver­meint­li­cher Stahl­ge­wit­ter. Sel­ten las ich von einem Mili­tär der­art Anti­mi­li­ta­ri­sti­sches. Wer den Aka­de­mie­prä­si­den­ten und Film­re­gis­seur kann­te, ist davon nicht über­rascht. Die Uni­form trug Wolf nicht, weil er es woll­te, son­dern weil er es muss­te. Um sei­ne Hei­mat Sowjet­uni­on zu ver­tei­di­gen und sein Vater­land Deutsch­land vom Faschis­mus zu befrei­en, wie er selbst schrieb.

Nüch­tern und lako­nisch schil­dert er den Sol­da­ten­all­tag hin­ter der Front, berich­tet über Span­nun­gen zwi­schen den Sol­da­ten, die um ihn her­um sind, schreibt über Stim­mun­gen, die ihn beherr­schen – er ist ein Teen­ager. Doch erstaun­lich reif und erwach­sen, wofür der Krieg sorgt. Bekannt­lich altern Men­schen unter sol­chen Umstän­den beson­ders rasch. Wolf jedoch bleibt jugend­lich emp­find­sam, ist gera­de­zu poe­tisch. Gogol (!) kommt ihn in den Sinn, als sie in die Nähe von Mir­go­rod kom­men, wo einst der rus­si­sche Schrift­stel­ler gebo­ren wur­de und sei­ne Jugend ver­brach­te. »Ein dun­kel­blau­er Him­mel mit Mil­lio­nen hel­ler Ster­ne. Ein leich­ter, ange­nehm küh­ler Wind weht den Wohl­ge­ruch der Step­pe her­bei«, notiert er ins Tage­buch. »In der Fer­ne stei­gen Lich­ter auf, den Ster­nen ähn­lich, doch es sind kei­ne Ster­ne. Sie wer­den grö­ßer, leuch­ten, erhel­len die gan­ze Gegend. Dann sin­ken sie lang­sam her­ab. Leucht­ku­geln. Ein Dröh­nen wird laut wie Don­ner­grol­len, doch nein – es ist kein Gewit­ter, in der Fer­ne schießt ein Geschütz.« Und am Ende heißt es in die­ser Ein­tra­gung vom 3. Sep­tem­ber 1943. »Da habt ihr die ukrai­ni­sche Nacht, eine Nacht wie bei Gogol, aber eine, die den Krieg atmet.« Nur weni­ge hun­dert Kilo­me­ter von hier, im Nord­osten, tob­te weni­ge Wochen zuvor bei Kursk die größ­te Land- und Luft­schlacht der Mensch­heits­ge­schich­te, wie spä­ter Histo­ri­ker fest­stel­len wer­den, nächst Sta­lin­grad war sie kriegs­ent­schei­dend. Mir­go­rod – heu­te in der Zen­tralukrai­ne gele­gen und Myr­ho­rod gehei­ßen – setzt sich, ins Deut­sche tran­skri­biert, aus den Sil­ben »Frie­den« und »Stadt« zusam­men und soll im 11. Jahr­hun­dert an der Ost­gren­ze des Rei­ches der Kie­wer Rus errich­tet wor­den sein. Als Teil einer Befestigungsanlage.

Leut­nant Kon­rad Wolfs Auf­zeich­nun­gen lie­fern spä­ter die Basis für einen der besten Fil­me der DEFA. »Ich war neun­zehn« kam 1968 in die DDR-Kinos, zwei­ein­halb Mil­lio­nen Men­schen sahen die­sen Anti­kriegs­film im ersten hal­ben Jahr. Eini­ge Jah­re zuvor hat­te Bern­hard Wicki – ein gebür­ti­ger Öster­rei­cher mit Schwei­zer Pass – mit »Die Brücke« einen nicht min­der auf­rüt­teln­den Anti­kriegs­film gedreht. Tau­sen­de jun­ge Män­ner, so erzähl­te er spä­ter, hät­ten ihm geschrie­ben, dass sie »auf­grund mei­nes Fil­mes den Kriegs­dienst ver­wei­gert haben«. Ich bin über­zeugt, dass die heu­ti­ge Ableh­nung jeg­li­cher Kriegs­er­tüch­ti­gung bei sehr vie­len Ost­deut­schen auch in Kon­rads Wolfs Film wur­zelt. Und mit der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes Kriegs­ta­ge­buchs wird die­se Hal­tung Bestä­ti­gung und Bekräf­ti­gung fin­den. Wolfs letz­te Ein­tra­gung ist vom 3. Mai 1945. Er soll sich in Karo­li­nen­hof beim Front­stab mel­den und mar­schiert »durch das Laby­rinth der ver­schüt­te­ten Stra­ßen« im Zen­trum Ber­lins. »Ich durch­quer­te und erleb­te eine Stadt, die ein Trüm­mer­hau­fen vol­ler Men­schen war.« Und er stellt sich die Fra­ge: »Kann sich die­ses Land, die­ses Volk jemals wie­der erhe­ben?« Er glaubt, dass es mög­lich ist. »Aber der Weg ist sehr lang.«

Und nun ste­hen wir wie­der dort. Am Ende, das ein Anfang wer­den muss.

Kon­rad Wolf: Kriegs­ta­ge­buch und Brie­fe 1942-1945. Her­aus­ge­ge­ben von Paul Wer­ner Wag­ner, edi­ti­on ost, 448 S., gebun­den, illu­striert, 28 €.