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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Faschistische Kontinuität in der Ukraine

Die Tages­zei­tung jun­ge Welt und das Kul­tur­ma­ga­zin Melo­die und Rhyth­mus ver­an­stal­te­ten am 29. Okto­ber 2023 eine inter­na­tio­na­le Kon­fe­renz mit dem Titel »Der Ban­de­ra-Kom­plex«, um die Ursprün­ge, Ent­wick­lung und Gegen­wart faschi­sti­scher Bewe­gun­gen in der Ukrai­ne zu unter­su­chen. Der von Susann Witt-Stahl her­aus­ge­ge­be­ne Tagungs­band erschien bereits in drit­ter Auf­la­ge. Das signa­li­siert hohes öffent­li­ches Inter­es­se an einem The­ma, das in den deut­schen Main­stream­m­e­di­en höch­stens ange­tippt, ins­ge­samt aber bewusst ver­nach­läs­sigt wird, weil es dem Nar­ra­tiv einer um die Demo­kra­tie kämp­fen­den Ukrai­ne widerspricht.

Dem ver­dienst­vol­len histo­ri­schen Über­blick des ame­ri­ka­ni­schen Spe­zia­li­sten für »Ban­de­ris­mus« und die »Asow-Bewe­gung« schicke ich eine Ver­tie­fung vor­aus, um ver­ständ­lich zu machen, wes­halb die ukrai­ni­sche Natio­nal­be­we­gung zwi­schen 1918 und 1944 bis zu 100 000 Polen ermor­de­te. Die Sie­ger­mäch­te des 1. Welt­kriegs hat­ten das Ter­ri­to­ri­um des neu zu schaf­fen­den pol­ni­schen Natio­nal­staats an den Sprach­gren­zen ori­en­tiert, wes­halb die heu­ti­ge West­ukrai­ne Russ­land zuge­spro­chen wur­de (Cur­zon-Linie). 1922, nach dem sowje­tisch-pol­ni­schen Krieg, trat die Sowjet­uni­on das Gebiet an Polen ab, gewann es jedoch end­gül­tig 1939 durch den Hit­ler-Sta­lin-Pakt zurück. Bis dahin waren die dort seit Jahr­hun­der­ten leben­den Polen eine durch Land­be­sitz pri­vi­le­gier­te Min­der­heit. Laut einem 1938 in der Schweiz publi­zier­ten Arti­kel von Ilse Stö­be, leb­te die ukrai­ni­sche Mehr­heit im dama­li­gen Ost­po­len in bit­ter­ster Armut. Anders als die eben­falls stark benach­tei­lig­ten Juden hat­ten sie kei­ne kul­tu­rel­len Rech­te, kei­ne Bil­dungs­mög­lich­kei­ten in ukrai­ni­scher Spra­che. Sie sei­en »die meist­be­n­ach­tei­lig­te Min­der­heit in Euro­pa« gewesen.

Daher war die beson­ders in der West­ukrai­ne ver­wur­zel­te Natio­nal­be­we­gung zunächst vor allem anti­pol­nisch. Laut Moss hat­te die 1920 von Emi­gran­ten in Prag gegrün­de­te Geheim­ar­mee UWO 1922 bereits 2.200 pol­ni­sche Bau­ern­hö­fe in Brand gesetzt. Vor der pol­ni­schen Repres­si­on flüch­te­te sich ihr Anfüh­rer Jew­gen Kono­wa­lez 1923 nach Ber­lin, wo er fort­an mit deut­schen Geheim­dien­sten zusam­men­ar­bei­te­te und Unter­stüt­zung für die Aus­bil­dung von UWO-Kämp­fern erhielt. 1929 grün­de­ten ukrai­ni­sche Emi­gran­ten in Wien die poli­ti­sche Orga­ni­sa­ti­on Ukrai­ni­scher Natio­na­li­sten (OUN). Als ihr Hei­mat-Anfüh­rer in der West­ukrai­ne pro­fi­lier­te sich bald der 1909 in Gali­zi­en gebo­re­ne Ste­pan Ban­de­ra. Ver­wickelt in die 1934 erfolg­te Ermor­dung des pol­ni­schen Innen­mi­ni­sters, der sich um einen poli­ti­schen Kom­pro­miss mit gemä­ßig­ten Natio­na­li­sten bemüht hat­te, sag­te Ban­de­ra vor Gericht: Bei der Ver­wirk­li­chung der Idee der ukrai­ni­schen Staat­lich­keit müss­ten »Hun­der­te, wenn nicht Tau­sen­de Men­schen­le­ben geop­fert wer­den«, was nicht nur das eige­ne Leben beträ­fe, son­dern auch »das Leben ande­rer«. Das gegen ihn ver­häng­te Todes­ur­teil wur­de nicht vollstreckt.

Andrij Mel­nyk (1890 Gali­zi­en – 1964 Luxem­burg), der einen mit Ban­de­ra kon­kur­rie­ren­den Flü­gel der OUN-M[elnyk] führ­te, schrieb 1938 an Reichs­au­ßen­mi­ni­ster Rib­ben­trop, die Orga­ni­sa­ti­on sei »ideo­lo­gisch mit ähn­li­chen Bewe­gun­gen in Euro­pa ver­wandt, ins­be­son­de­re mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land und dem Faschis­mus in Ita­li­en«. Die Über­ein­stim­mung bezog sich auf die mit allen Mit­teln zu rea­li­sie­ren­de völ­ki­sche Idee eines eth­ni­schen Ukrai­ner­tums, ergänzt durch vis­ze­ra­len Antikommunismus.

Ban­de­ra wur­de aus dem pol­ni­schen Gefäng­nis durch die 1939 ein­mar­schie­ren­de Wehr­macht befreit. Nach­dem sie 1941 in die sowje­tisch gewor­de­ne West­ukrai­ne ein­drang, wur­de sie durch die OUN-B[andera] mas­siv bei Raz­zi­en gegen Kom­mu­ni­sten und bei der Ermor­dung der jüdi­schen Bevöl­ke­rung unter­stützt. Obwohl es sogar zur Grün­dung einer aus Gali­zi­ern gebil­de­ten Ein­heit der Waf­fen-SS kam, zer­schlug sich die erhoff­te Gegen­lei­stung einer staat­li­chen Auto­no­mie. Nicht erst nach Abzug der Wehr­macht, son­dern auch wäh­rend und nach dem Vor­drin­gen der Roten Armee ver­folg­te und töte­te die OUN-B in gro­ßem Maß­stab auch auf eige­ne Faust. Da Hit­ler ent­schie­den hat­te, die Ukrai­ner wie die Rus­sen zu behan­deln, blieb die OUN für die Wehr­macht Instru­ment, das aller­dings unbe­re­chen­bar war. Ban­de­ra und ande­re Anfüh­rer wur­den zeit­wei­se in KZs inter­niert, wo sie aber zwecks spä­te­rer Wie­der­ver­wen­dung eine Vor­zugs­be­hand­lung erhiel­ten. Eini­ge ver­such­ten daher nach dem Krieg, sich als Nazi­geg­ner darzustellen.

Der in den USA leben­de Bischof Iwan Butsch­ko, der auch Bera­ter des Vati­kans in ukrai­ni­schen Ange­le­gen­hei­ten war, half nach dem 2. Welt­krieg ent­schei­dend beim Trans­fer der gali­zi­schen Waf­fen-SS-Vete­ra­nen ins west­li­che Aus­land. Ins­ge­samt flo­hen dort­hin 250 000 Ukrai­ner. Aus Moss‹ und Bei­trä­gen ande­rer geht her­vor, wie stark sie in der BRD, Öster­reich, Eng­land, Kana­da und vor allem in den USA bei der Bil­dung offi­zi­el­ler Ver­ei­ne unter­stützt wur­den. Ihre faschi­sto­iden und vor allem ihre anti­se­mi­ti­schen Dis­kur­se tausch­ten sie gegen anti­so­wje­ti­sche aus, behiel­ten aber vie­le ihrer tra­di­tio­nel­len Emble­me bei – wie die Wolfs­an­gel und das Bal­ken­kreuz, die sich in der 1991 unab­hän­gig gewor­de­nen Ukrai­ne immer stär­ker ver­brei­ten soll­ten. Und sie arbei­te­ten eng mit Geheim­dien­sten zusam­men, was der Öffent­lich­keit ver­bor­gen blieb. So blieb es sogar weit­ge­hend unbe­kannt, dass es seit Kriegs­en­de bis heu­te in Mün­chen eine Ukrai­ni­sche Freie Uni­ver­si­tät gibt.

Ste­pan Ban­de­ra kam in der baye­ri­schen Metro­po­le unter. Der 2014 erschie­ne­nen Ban­de­ra-Bio­gra­fie von Grze­gorz Ros­so­liń­ski-Lie­be fol­gend, schreibt Arnold Schöl­zel, dass er »beste Ver­bin­dun­gen zu bri­ti­schen und US-Geheim­dien­sten« unter­hielt, denen er bis Anfang der fünf­zi­ger Jah­re in der Ukrai­ne agie­ren­de Kämp­fer der UPA – des bewaff­ne­ten Arms der OUN – ange­bo­ten habe. Spä­ter arbei­te­te er auch mit dem BND zusam­men, »hat­te aber auch schwe­re Aus­ein­an­der­set­zun­gen im eige­nen Lager zu bestehen. Offen­bar löste er sie so wie zuvor: durch Mord. Die baye­ri­sche Poli­zei ging zeit­wei­se von bis zu 100 ›ver­schwun­de­nen‹ ukrai­ni­schen Emi­gran­ten aus.«

Auch Jaros­law Stez­ko, Ban­de­ras poli­ti­scher Stell­ver­tre­ter, kam in Mün­chen unter. 1941 hat­te er die Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung der Ukrai­ne ver­fasst und war in Lwiv von der OUN-B als Prä­si­dent aus­ge­ru­fen wor­den, was aller­dings wir­kungs­los blieb. In Mün­chen grün­de­te er gro­ße anti­so­wje­ti­sche Orga­ni­sa­tio­nen wie den Anti-Bols­he­vik-Bloc of Nati­ons und saß im Prä­si­di­um der World-Anti­com­mu­nist League. Ein Foto von 1983 zeigt ein Tref­fen Stez­kos mit US-Vize­prä­si­dent Geor­ge H.W. Bush. Nach sei­nem Tod 1986 über­nahm sei­ne Frau Sla­wa vie­le sei­ner Funktionen.

Das im 2. Welt­krieg mit Wehr­macht und SS kol­la­bo­rie­ren­de Per­so­nal lebt nicht mehr. Der Tagungs­band gibt detail­rei­che Aus­künf­te dar­über, wie sei­ne in west­li­cher Emi­gra­ti­on auf­ge­wach­se­nen Kin­der und Enkel die alten sowie neu gegrün­de­ten Exil­or­ga­ni­sa­tio­nen wei­ter­führ­ten und die Insti­tu­tio­nen der unab­hän­gig gewor­de­nen Ukrai­ne immer stär­ker infil­trier­ten. Seit dem Mai­dan-Putsch sind sie auch unter Regie­rungs­mit­glie­dern zu fin­den. Als Ergeb­nis breit ange­leg­ter und vom Westen stark unter­stütz­ter Geschichts­klit­te­rung ent­stand zunächst in der West­ukrai­ne, dann im gan­zen Land, ein unge­heu­er­li­cher Kult um Ban­de­ra und die ande­ren OUN-Vete­ra­nen. Para­mi­li­tä­ri­sche Mili­zen wur­den gegrün­det, die – wie die Spe­zi­al­bri­ga­de Asow – ihren faschi­stisch-ras­si­sti­schen Rus­sen­hass mit offe­nem Stolz zum Aus­druck brin­gen. Wie stark der Geist der alten OUN domi­niert, lässt sich dar­an able­sen, dass ent­spre­chen­de Krei­se Prä­si­dent Wolo­dym­yr Selen­skyj offen den Tod andro­hen, soll­te er sich auf ernst­haf­te Frie­dens­ge­sprä­che mit der rus­si­schen Füh­rung einlassen.

Nicht nur die Bun­des­re­gie­rung und die Main­stream­m­e­di­en blen­den die Kon­ti­nui­tät faschi­stisch-ras­si­sti­scher Posi­tio­nen der heu­te in der Ukrai­ne herr­schen­den Ideo­lo­gien aus. Da sie auch von Par­tei­en wie Die Lin­ke und Orga­ni­sa­tio­nen wie die VVN-BdA weit­ge­hend ver­drängt wer­den, ist die Auf­klä­rungs­ar­beit die­ses soli­de doku­men­tier­ten Tagungs­bands nicht hoch genug zu schätzen.

Susann Witt-Stahl (Hg): Der Ban­de­ra-Kom­plex. Der ukrai­ni­sche Faschis­mus – Geschich­te, Funk­ti­on, Netz­wer­ke, Ver­lag 8. Mai, 3. Auflage/​2025, 350 S., 23,90 €.