Die Tageszeitung junge Welt und das Kulturmagazin Melodie und Rhythmus veranstalteten am 29. Oktober 2023 eine internationale Konferenz mit dem Titel »Der Bandera-Komplex«, um die Ursprünge, Entwicklung und Gegenwart faschistischer Bewegungen in der Ukraine zu untersuchen. Der von Susann Witt-Stahl herausgegebene Tagungsband erschien bereits in dritter Auflage. Das signalisiert hohes öffentliches Interesse an einem Thema, das in den deutschen Mainstreammedien höchstens angetippt, insgesamt aber bewusst vernachlässigt wird, weil es dem Narrativ einer um die Demokratie kämpfenden Ukraine widerspricht.
Dem verdienstvollen historischen Überblick des amerikanischen Spezialisten für »Banderismus« und die »Asow-Bewegung« schicke ich eine Vertiefung voraus, um verständlich zu machen, weshalb die ukrainische Nationalbewegung zwischen 1918 und 1944 bis zu 100 000 Polen ermordete. Die Siegermächte des 1. Weltkriegs hatten das Territorium des neu zu schaffenden polnischen Nationalstaats an den Sprachgrenzen orientiert, weshalb die heutige Westukraine Russland zugesprochen wurde (Curzon-Linie). 1922, nach dem sowjetisch-polnischen Krieg, trat die Sowjetunion das Gebiet an Polen ab, gewann es jedoch endgültig 1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt zurück. Bis dahin waren die dort seit Jahrhunderten lebenden Polen eine durch Landbesitz privilegierte Minderheit. Laut einem 1938 in der Schweiz publizierten Artikel von Ilse Stöbe, lebte die ukrainische Mehrheit im damaligen Ostpolen in bitterster Armut. Anders als die ebenfalls stark benachteiligten Juden hatten sie keine kulturellen Rechte, keine Bildungsmöglichkeiten in ukrainischer Sprache. Sie seien »die meistbenachteiligte Minderheit in Europa« gewesen.
Daher war die besonders in der Westukraine verwurzelte Nationalbewegung zunächst vor allem antipolnisch. Laut Moss hatte die 1920 von Emigranten in Prag gegründete Geheimarmee UWO 1922 bereits 2.200 polnische Bauernhöfe in Brand gesetzt. Vor der polnischen Repression flüchtete sich ihr Anführer Jewgen Konowalez 1923 nach Berlin, wo er fortan mit deutschen Geheimdiensten zusammenarbeitete und Unterstützung für die Ausbildung von UWO-Kämpfern erhielt. 1929 gründeten ukrainische Emigranten in Wien die politische Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN). Als ihr Heimat-Anführer in der Westukraine profilierte sich bald der 1909 in Galizien geborene Stepan Bandera. Verwickelt in die 1934 erfolgte Ermordung des polnischen Innenministers, der sich um einen politischen Kompromiss mit gemäßigten Nationalisten bemüht hatte, sagte Bandera vor Gericht: Bei der Verwirklichung der Idee der ukrainischen Staatlichkeit müssten »Hunderte, wenn nicht Tausende Menschenleben geopfert werden«, was nicht nur das eigene Leben beträfe, sondern auch »das Leben anderer«. Das gegen ihn verhängte Todesurteil wurde nicht vollstreckt.
Andrij Melnyk (1890 Galizien – 1964 Luxemburg), der einen mit Bandera konkurrierenden Flügel der OUN-M[elnyk] führte, schrieb 1938 an Reichsaußenminister Ribbentrop, die Organisation sei »ideologisch mit ähnlichen Bewegungen in Europa verwandt, insbesondere mit dem Nationalsozialismus in Deutschland und dem Faschismus in Italien«. Die Übereinstimmung bezog sich auf die mit allen Mitteln zu realisierende völkische Idee eines ethnischen Ukrainertums, ergänzt durch viszeralen Antikommunismus.
Bandera wurde aus dem polnischen Gefängnis durch die 1939 einmarschierende Wehrmacht befreit. Nachdem sie 1941 in die sowjetisch gewordene Westukraine eindrang, wurde sie durch die OUN-B[andera] massiv bei Razzien gegen Kommunisten und bei der Ermordung der jüdischen Bevölkerung unterstützt. Obwohl es sogar zur Gründung einer aus Galiziern gebildeten Einheit der Waffen-SS kam, zerschlug sich die erhoffte Gegenleistung einer staatlichen Autonomie. Nicht erst nach Abzug der Wehrmacht, sondern auch während und nach dem Vordringen der Roten Armee verfolgte und tötete die OUN-B in großem Maßstab auch auf eigene Faust. Da Hitler entschieden hatte, die Ukrainer wie die Russen zu behandeln, blieb die OUN für die Wehrmacht Instrument, das allerdings unberechenbar war. Bandera und andere Anführer wurden zeitweise in KZs interniert, wo sie aber zwecks späterer Wiederverwendung eine Vorzugsbehandlung erhielten. Einige versuchten daher nach dem Krieg, sich als Nazigegner darzustellen.
Der in den USA lebende Bischof Iwan Butschko, der auch Berater des Vatikans in ukrainischen Angelegenheiten war, half nach dem 2. Weltkrieg entscheidend beim Transfer der galizischen Waffen-SS-Veteranen ins westliche Ausland. Insgesamt flohen dorthin 250 000 Ukrainer. Aus Moss‹ und Beiträgen anderer geht hervor, wie stark sie in der BRD, Österreich, England, Kanada und vor allem in den USA bei der Bildung offizieller Vereine unterstützt wurden. Ihre faschistoiden und vor allem ihre antisemitischen Diskurse tauschten sie gegen antisowjetische aus, behielten aber viele ihrer traditionellen Embleme bei – wie die Wolfsangel und das Balkenkreuz, die sich in der 1991 unabhängig gewordenen Ukraine immer stärker verbreiten sollten. Und sie arbeiteten eng mit Geheimdiensten zusammen, was der Öffentlichkeit verborgen blieb. So blieb es sogar weitgehend unbekannt, dass es seit Kriegsende bis heute in München eine Ukrainische Freie Universität gibt.
Stepan Bandera kam in der bayerischen Metropole unter. Der 2014 erschienenen Bandera-Biografie von Grzegorz Rossoliński-Liebe folgend, schreibt Arnold Schölzel, dass er »beste Verbindungen zu britischen und US-Geheimdiensten« unterhielt, denen er bis Anfang der fünfziger Jahre in der Ukraine agierende Kämpfer der UPA – des bewaffneten Arms der OUN – angeboten habe. Später arbeitete er auch mit dem BND zusammen, »hatte aber auch schwere Auseinandersetzungen im eigenen Lager zu bestehen. Offenbar löste er sie so wie zuvor: durch Mord. Die bayerische Polizei ging zeitweise von bis zu 100 ›verschwundenen‹ ukrainischen Emigranten aus.«
Auch Jaroslaw Stezko, Banderas politischer Stellvertreter, kam in München unter. 1941 hatte er die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine verfasst und war in Lwiv von der OUN-B als Präsident ausgerufen worden, was allerdings wirkungslos blieb. In München gründete er große antisowjetische Organisationen wie den Anti-Bolshevik-Bloc of Nations und saß im Präsidium der World-Anticommunist League. Ein Foto von 1983 zeigt ein Treffen Stezkos mit US-Vizepräsident George H.W. Bush. Nach seinem Tod 1986 übernahm seine Frau Slawa viele seiner Funktionen.
Das im 2. Weltkrieg mit Wehrmacht und SS kollaborierende Personal lebt nicht mehr. Der Tagungsband gibt detailreiche Auskünfte darüber, wie seine in westlicher Emigration aufgewachsenen Kinder und Enkel die alten sowie neu gegründeten Exilorganisationen weiterführten und die Institutionen der unabhängig gewordenen Ukraine immer stärker infiltrierten. Seit dem Maidan-Putsch sind sie auch unter Regierungsmitgliedern zu finden. Als Ergebnis breit angelegter und vom Westen stark unterstützter Geschichtsklitterung entstand zunächst in der Westukraine, dann im ganzen Land, ein ungeheuerlicher Kult um Bandera und die anderen OUN-Veteranen. Paramilitärische Milizen wurden gegründet, die – wie die Spezialbrigade Asow – ihren faschistisch-rassistischen Russenhass mit offenem Stolz zum Ausdruck bringen. Wie stark der Geist der alten OUN dominiert, lässt sich daran ablesen, dass entsprechende Kreise Präsident Wolodymyr Selenskyj offen den Tod androhen, sollte er sich auf ernsthafte Friedensgespräche mit der russischen Führung einlassen.
Nicht nur die Bundesregierung und die Mainstreammedien blenden die Kontinuität faschistisch-rassistischer Positionen der heute in der Ukraine herrschenden Ideologien aus. Da sie auch von Parteien wie Die Linke und Organisationen wie die VVN-BdA weitgehend verdrängt werden, ist die Aufklärungsarbeit dieses solide dokumentierten Tagungsbands nicht hoch genug zu schätzen.
Susann Witt-Stahl (Hg): Der Bandera-Komplex. Der ukrainische Faschismus – Geschichte, Funktion, Netzwerke, Verlag 8. Mai, 3. Auflage/2025, 350 S., 23,90 €.