In Rom fand am 10./11. Mai die große Abrüstungs-Tagung DISARMO statt, mit wichtigen Rednern und vielen Zuhörern. Der Soziologe Pino Arlacchi, ehemaliger Euro-Parlamentarier und UNO-Sekretär, eröffnete mit seinem Rede-Beitrag eine erhellende Perspektive aus anderer Richtung als der eurozentrischen.
Blickt man nämlich vom Rest der Welt auf Europa, so sind die aktuellen Konflikte um die Ukraine und Gaza noch immer erkennbar als späte Nachfolge zweier Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit z. T. noch kolonialen Ursprüngen. Der russische Angriff auf die Ukraine (2022) wird zwar von den Staaten des Südens und Ostens, die heute ca. 80 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, innerhalb der UNO als völkerrechtlich unzulässig verurteilt, aber nicht sanktioniert, denn man erkennt die (Mit-)Verantwortung der Nato für Beginn und Eskalation des andauernden Krieges.
Die bange Frage, vor der viele Menschen im Westen stehen, nämlich, wie es weitergehen wird im Osten, nachdem westliche Waffen nun auch schon Sibirien erreicht haben – ob es tatsächlich doch zu einem dritten und letzten Weltkrieg kommen wird –, bleibt zwar noch offen, aber Arlacchi wies auf eine andere Realität hin.
Zwar sind die gesamten Militärausgaben der Welt seit 2015 kontinuierlich angestiegen und haben 2024 – laut SIPRI – den Höchststand von 2.717 Mrd. Dollar erreicht, aber es ist allein der Westen (USA 997 Mrd. + übrige Nato-Staaten), der mit insgesamt 1.506 Mrd. Dollar die Welt in Kriegsgefahr versetzt, denn die immer komplexeren Waffensysteme müssen ja irgendwann eingesetzt und die immensen Rüstungsschulden amortisiert werden.
Die entsprechenden Ausgaben Russlands (mit 149 Mrd. $ gleich einem Zehntel des Westens) und Chinas (314 Mrd. $) folgen mit erheblichem Abstand, aber – und das lässt etwas aufatmen – abgesehen von den ersten 15 Staaten, auf die 80 Prozent der gesamten Rüstung entfallen, sind die Militärausgaben im Rest der Welt eher rückläufig. Etwa seit dem Ende des Irak-Krieges haben lokale militärische Konflikte um gut 80 Prozent nachgelassen, selbst sogenannte Bürgerkriege in Afrika, Lateinamerika und in Asien, wo gar von einer pax asiatica die Rede ist. Dort, wo inzwischen 55 Prozent des weltweiten BIP geschaffen werden – nicht nur in den anwachsenden BRICS-Staaten, sondern auch im weiteren Süden – stehen wirtschaftliche Entwicklungstendenzen im Vordergrund, die auf Kooperation setzen, statt auf militärische oder neokoloniale Unterwerfung. Der Anteil der Militärausgaben am BIP ist dort gesunken; in einem Riesenland wie Brasilien liegt er noch bei 0,9 Prozent – in der Ukraine hingegen bei 34,0, in Israel bei 8,8 Prozent des BIPs.
Dem Schluss Arlacchis, dass die meisten Völker der Welt weder auf Rüstung setzen noch auf »schöpferische Zerstörung«, hatte Kurt Tucholsky schon 1932 in seinem Theaterstück über Christoph Kolumbus’ Entdeckung Amerikas einen hoffnungsvollen Ausdruck gegeben, als er die friedfertigen »Wilden« ihren Eroberern erklären ließ, dass sie die Zeit der drei großen W (Wirtschaft, Währung, Waffen) längst hinter sich gelassen hätten: »Unsere Ahnen, die sehr weise waren, haben erkannt, dass diese Dinge die Menschen ins Unglück bringen. Und da haben sie das alles abgeschafft. Seitdem ist Friede.«
Ob die heutigen Einwohner Europas so weise sein können, steht aus. Noch befinden sich die neuen ReArm-Pläne großenteils vor allem im verbalen Stadium, im kriegsentscheidenden Bereich der Propaganda, denn zuerst müssen die Köpfe der Menschen vorbereitet werden, lange bevor man auf ihre Kriegstüchtigkeit bauen kann. Auch das wusste schon Tucholsky: »Eine Mobilisierung ist nur möglich, wenn jede Wickelgamasche greifbar auf dem Bord liegt, und wenn die Gemüter so präpariert sind, dass eine geistige Mobilmachung durch eine herbeigepfiffene Zeitungsmeute in vier Tagen entfesselt werden kann« (Die Weltbühne, 11.10. 1927).
In der EU ist sie schon länger im Einsatz, und die Situation heute wirkt paradox: Die ökonomische und ideologische Verflechtung mit den USA ist so groß, dass sich das Europa der EU weder auf seine Stärken besinnen kann noch auf die Bedürfnisse seiner Bürger – hinsichtlich der großen Probleme von Ungleichheit und Umwelt. Die EU setzt stattdessen auf ein hundert Jahre altes Rezept: Aufrüstung und Krieg gegen den Feind im Osten. Der hätte gern mit dem Westen zusammengearbeitet, vor gut 25 Jahren war sogar eine Aufnahme in die Nato angestrebt, doch diese setzte auf verstärkte Konfrontation.
Umweltschädlicher als Rüstung und Krieg ist nichts, und einem weiteren Warfare wird auch der europäische Welfare des Nachkriegs weichen müssen. Das eröffnet rechten Kräften große politische Spielräume. Schon 1961 hatte der scheidende US-Präsident Eisenhower vor der Gefahr einer künftigen Übermacht des Militär-Industrie-Komplexes für die Demokratie in den USA gewarnt. Dort entwickelte sich dann über lange Jahrzehnte, was heute zu implodieren droht und was Donald Trump mit untauglichen Mitteln aufzuschieben versucht: der Niedergang der US-Vormachtstellung in der Welt, deren ökonomische Grundlage erodiert ist, aber noch militärisch aufrechterhalten werden soll. Und dieses langfristig unhaltbare Modell sollen und wollen nun die Europäer retten? Das kommt für Pino Arlacchi einem Selbstmord gleich. Und er unterstrich in seiner römischen Rede mit Beispielen die Tatsache, dass alle Kriege der letzten Jahrzehnte in der Welt vom Westen ausgegangen sind.
Dennoch wird Russland, das sich noch nie in der Geschichte unprovoziert nach Westen ausgebreitet, geschweige denn Deutschland angegriffen hat, zum Hauptfeind erklärt, gegen dessen hypothetischen Angriff sich Europa schützen müsse – nicht mitdenkend, dass die Russen in drei Jahren noch nicht einmal die Ostukraine ganz besetzen und auch ihre Militärstützpunkte bis nach Sibirien nicht vor Drohnenangriffen schützen konnten. Und diese Russen sollen in wenigen Jahren schon vor Berlin stehen, wenn die Bundeswehr sie nicht abschreckt? Was wäre ihr Ziel? Oder will Deutschland – präventiv nun mit der Nato – noch einmal gen Osten marschieren?
Da bleibt eigentlich nur noch die Frage, wann die Völker Europas endlich aufwachen, ihre Lage erkennen und ihre Lebensinteressen verteidigen. Wann wenden sich die arbeitenden Menschen mit ihren Gewerkschaften lautstark gegen den Rüstungswahn, wann die Kulturschaffenden und die Dichter und Denker?
Shakespeares Klage über »dieser Zeiten Plage, wenn Irre die Blinden führen« (aus King Lear) bleibt noch aktuell.