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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Gegen ReArm Europe

In Rom fand am 10./11. Mai die gro­ße Abrü­stungs-Tagung DISARMO statt, mit wich­ti­gen Red­nern und vie­len Zuhö­rern. Der Sozio­lo­ge Pino Arlac­chi, ehe­ma­li­ger Euro-Par­la­men­ta­ri­er und UNO-Sekre­tär, eröff­ne­te mit sei­nem Rede-Bei­trag eine erhel­len­de Per­spek­ti­ve aus ande­rer Rich­tung als der eurozentrischen.

Blickt man näm­lich vom Rest der Welt auf Euro­pa, so sind die aktu­el­len Kon­flik­te um die Ukrai­ne und Gaza noch immer erkenn­bar als spä­te Nach­fol­ge zwei­er Welt­krie­ge des 20. Jahr­hun­derts mit z. T. noch kolo­nia­len Ursprün­gen. Der rus­si­sche Angriff auf die Ukrai­ne (2022) wird zwar von den Staa­ten des Südens und Ostens, die heu­te ca. 80 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung aus­ma­chen, inner­halb der UNO als völ­ker­recht­lich unzu­läs­sig ver­ur­teilt, aber nicht sank­tio­niert, denn man erkennt die (Mit-)Verantwortung der Nato für Beginn und Eska­la­ti­on des andau­ern­den Krieges.

Die ban­ge Fra­ge, vor der vie­le Men­schen im Westen ste­hen, näm­lich, wie es wei­ter­ge­hen wird im Osten, nach­dem west­li­che Waf­fen nun auch schon Sibi­ri­en erreicht haben – ob es tat­säch­lich doch zu einem drit­ten und letz­ten Welt­krieg kom­men wird –, bleibt zwar noch offen, aber Arlac­chi wies auf eine ande­re Rea­li­tät hin.

Zwar sind die gesam­ten Mili­tär­aus­ga­ben der Welt seit 2015 kon­ti­nu­ier­lich ange­stie­gen und haben 2024 – laut SIPRI – den Höchst­stand von 2.717 Mrd. Dol­lar erreicht, aber es ist allein der Westen (USA 997 Mrd. + übri­ge Nato-Staa­ten), der mit ins­ge­samt 1.506 Mrd. Dol­lar die Welt in Kriegs­ge­fahr ver­setzt, denn die immer kom­ple­xe­ren Waf­fen­sy­ste­me müs­sen ja irgend­wann ein­ge­setzt und die immensen Rüstungs­schul­den amor­ti­siert werden.

Die ent­spre­chen­den Aus­ga­ben Russ­lands (mit 149 Mrd. $ gleich einem Zehn­tel des Westens) und Chi­nas (314 Mrd. $) fol­gen mit erheb­li­chem Abstand, aber – und das lässt etwas auf­at­men – abge­se­hen von den ersten 15 Staa­ten, auf die 80 Pro­zent der gesam­ten Rüstung ent­fal­len, sind die Mili­tär­aus­ga­ben im Rest der Welt eher rück­läu­fig. Etwa seit dem Ende des Irak-Krie­ges haben loka­le mili­tä­ri­sche Kon­flik­te um gut 80 Pro­zent nach­ge­las­sen, selbst soge­nann­te Bür­ger­krie­ge in Afri­ka, Latein­ame­ri­ka und in Asi­en, wo gar von einer pax asia­ti­ca die Rede ist. Dort, wo inzwi­schen 55 Pro­zent des welt­wei­ten BIP geschaf­fen wer­den – nicht nur in den anwach­sen­den BRICS-Staa­ten, son­dern auch im wei­te­ren Süden – ste­hen wirt­schaft­li­che Ent­wick­lungs­ten­den­zen im Vor­der­grund, die auf Koope­ra­ti­on set­zen, statt auf mili­tä­ri­sche oder neo­ko­lo­nia­le Unter­wer­fung. Der Anteil der Mili­tär­aus­ga­ben am BIP ist dort gesun­ken; in einem Rie­sen­land wie Bra­si­li­en liegt er noch bei 0,9 Pro­zent – in der Ukrai­ne hin­ge­gen bei 34,0, in Isra­el bei 8,8 Pro­zent des BIPs.

Dem Schluss Arlac­chis, dass die mei­sten Völ­ker der Welt weder auf Rüstung set­zen noch auf »schöp­fe­ri­sche Zer­stö­rung«, hat­te Kurt Tuchol­sky schon 1932 in sei­nem Thea­ter­stück über Chri­stoph Kolum­bus’ Ent­deckung Ame­ri­kas einen hoff­nungs­vol­len Aus­druck gege­ben, als er die fried­fer­ti­gen »Wil­den« ihren Erobe­rern erklä­ren ließ, dass sie die Zeit der drei gro­ßen W (Wirt­schaft, Wäh­rung, Waf­fen) längst hin­ter sich gelas­sen hät­ten: »Unse­re Ahnen, die sehr wei­se waren, haben erkannt, dass die­se Din­ge die Men­schen ins Unglück brin­gen. Und da haben sie das alles abge­schafft. Seit­dem ist Friede.«

Ob die heu­ti­gen Ein­woh­ner Euro­pas so wei­se sein kön­nen, steht aus. Noch befin­den sich die neu­en ReArm-Plä­ne gro­ßen­teils vor allem im ver­ba­len Sta­di­um, im kriegs­ent­schei­den­den Bereich der Pro­pa­gan­da, denn zuerst müs­sen die Köp­fe der Men­schen vor­be­rei­tet wer­den, lan­ge bevor man auf ihre Kriegs­tüch­tig­keit bau­en kann. Auch das wuss­te schon Tuchol­sky: »Eine Mobi­li­sie­rung ist nur mög­lich, wenn jede Wickel­ga­ma­sche greif­bar auf dem Bord liegt, und wenn die Gemü­ter so prä­pa­riert sind, dass eine gei­sti­ge Mobil­ma­chung durch eine her­bei­ge­pfif­fe­ne Zei­tungs­meu­te in vier Tagen ent­fes­selt wer­den kann« (Die Weltbühne, 11.10. 1927).

In der EU ist sie schon län­ger im Ein­satz, und die Situa­ti­on heu­te wirkt para­dox: Die öko­no­mi­sche und ideo­lo­gi­sche Ver­flech­tung mit den USA ist so groß, dass sich das Euro­pa der EU weder auf sei­ne Stär­ken besin­nen kann noch auf die Bedürf­nis­se sei­ner Bür­ger – hin­sicht­lich der gro­ßen Pro­ble­me von Ungleich­heit und Umwelt. Die EU setzt statt­des­sen auf ein hun­dert Jah­re altes Rezept: Auf­rü­stung und Krieg gegen den Feind im Osten. Der hät­te gern mit dem Westen zusam­men­ge­ar­bei­tet, vor gut 25 Jah­ren war sogar eine Auf­nah­me in die Nato ange­strebt, doch die­se setz­te auf ver­stärk­te Konfrontation.

Umwelt­schäd­li­cher als Rüstung und Krieg ist nichts, und einem wei­te­ren War­fa­re wird auch der euro­päi­sche Wel­fa­re des Nach­kriegs wei­chen müs­sen. Das eröff­net rech­ten Kräf­ten gro­ße poli­ti­sche Spiel­räu­me. Schon 1961 hat­te der schei­den­de US-Prä­si­dent Eisen­hower vor der Gefahr einer künf­ti­gen Über­macht des Mili­tär-Indu­strie-Kom­ple­xes für die Demo­kra­tie in den USA gewarnt. Dort ent­wickel­te sich dann über lan­ge Jahr­zehn­te, was heu­te zu implo­die­ren droht und was Donald Trump mit untaug­li­chen Mit­teln auf­zu­schie­ben ver­sucht: der Nie­der­gang der US-Vor­macht­stel­lung in der Welt, deren öko­no­mi­sche Grund­la­ge ero­diert ist, aber noch mili­tä­risch auf­recht­erhal­ten wer­den soll. Und die­ses lang­fri­stig unhalt­ba­re Modell sol­len und wol­len nun die Euro­pä­er ret­ten? Das kommt für Pino Arlac­chi einem Selbst­mord gleich. Und er unter­strich in sei­ner römi­schen Rede mit Bei­spie­len die Tat­sa­che, dass alle Krie­ge der letz­ten Jahr­zehn­te in der Welt vom Westen aus­ge­gan­gen sind.

Den­noch wird Russ­land, das sich noch nie in der Geschich­te unpro­vo­ziert nach Westen aus­ge­brei­tet, geschwei­ge denn Deutsch­land ange­grif­fen hat, zum Haupt­feind erklärt, gegen des­sen hypo­the­ti­schen Angriff sich Euro­pa schüt­zen müs­se – nicht mit­den­kend, dass die Rus­sen in drei Jah­ren noch nicht ein­mal die Ost­ukrai­ne ganz beset­zen und auch ihre Mili­tär­stütz­punk­te bis nach Sibi­ri­en nicht vor Droh­nen­an­grif­fen schüt­zen konn­ten. Und die­se Rus­sen sol­len in weni­gen Jah­ren schon vor Ber­lin ste­hen, wenn die Bun­des­wehr sie nicht abschreckt? Was wäre ihr Ziel? Oder will Deutsch­land – prä­ven­tiv nun mit der Nato – noch ein­mal gen Osten marschieren?

Da bleibt eigent­lich nur noch die Fra­ge, wann die Völ­ker Euro­pas end­lich auf­wa­chen, ihre Lage erken­nen und ihre Lebens­in­ter­es­sen ver­tei­di­gen. Wann wen­den sich die arbei­ten­den Men­schen mit ihren Gewerk­schaf­ten laut­stark gegen den Rüstungs­wahn, wann die Kul­tur­schaf­fen­den und die Dich­ter und Denker?

Shake­speares Kla­ge über »die­ser Zei­ten Pla­ge, wenn Irre die Blin­den füh­ren« (aus King Lear) bleibt noch aktuell.