Der Wiener Promedia Verlag hat in seiner Reihe »Frauenfahrten« Johanna Schopenhauers (1766-1838) Reiseerinnerungen an ihre zweite, mit Ehemann Heinrich und dem fünfzehnjährigen Sohn Arthur 1803 angetretene Reise durch England und Schottland neu aufgelegt. Wir begegnen nicht nur einer hochbegabten Schriftstellerin, die ihr detailreiches Buch von 1818 wohl aus ausführlichen Reisenotizen zu einem heute noch gut lesbaren, munteren Bericht gestaltete. Historisch interessierten Besuchern Großbritanniens ermöglicht er reizvolles Vergleichen von damals und heute. Erstaunlich, dass die besonderen Beschwerlichkeiten, die eine monatelange Reise für Frauen damals bedeuteten, keine Erwähnung finden. Allein an die unpraktische Kleidung denkend, kann man die tapfere Frau Schopenhauer nur bewundern, die in Bergwerken »ein Stück Kohle heruntergeschlagen« hat und sich auf einen stundenlangen, auch für Männer gefährlichen Spaziergang durch eine Tropfsteinhöhle wagte. Auch findet Persönliches, wie etwa unterschiedliche Vorlieben für Reiseziele oder Urteile zu Gesehenem zwischen den Eheleuten oder mit dem Sohn, keinerlei Erwähnung. Anders als Arthur, der zum konservativen Philosophen der Gegenaufklärung heranreifen wird, waren Johanna und der ungeliebte Ehemann – ein Danziger Großkaufmann – sich zumindest einig in ihrer der Aufklärung und dem industriellen Fortschritt verbundenen Weltsicht. Hauptziel der Reise war das Kennenlernen des dem Deutschland weit überlegenen britischen Zivilisationsmodells. Ihrer eigenen Klassenkultur gemäß interessierten sich die Schopenhauers sowohl für das pulsierende Leben in den Städten als auch für die Landsitze der Adeligen und Neureichen, die teilweise auf Anmeldung für Besucher offenstanden. Die dort ausgestellte überbordende Fülle von Kunst- und Wertgegenständen verstand Frau Schopenhauer zu schätzen. Sie meinte aber, dass die ungeheure Anhäufung von Kulturgut nicht immer auf das Kunstverständnis der Besitzer schließen lasse, sondern eher auf Repräsentationsbedürfnis oder gar Raffgier. Dass vieles in den Sammlungen und botanische Kuriositäten der Parks auf unmenschlichen Verhältnissen in den Kolonien basierte, konnte sie kaum wissen.
Furchtbare Zustände waren aber auch in England anzutreffen, und die Schopenhauers zögerten nicht, sich auch damit zu konfrontieren. In Leeds war »die Luft schwarz und dick vom Kohlendampfe; überall sahen wir den Armen arbeiten, um den Reichen noch reicher zu machen.« Ähnlich war es in Manchester, wo »Arbeit, Erwerb, Geldbegier (…) die einzige Idee zu sein« scheint, »überall hört man das Geklapper der Baumwollspinnereien und der Weberstühle, auf allen Gesichtern stehen Zahlen, nichts als Zahlen«. Die Überwindung proletarischen Elends konnten sich die Schopenhauers nur als Ausweitung von Wohlfahrtsinstitutionen vorstellen, wovon sie auch einige besuchten wie ein fortschrittliches »Asylum« in Liverpool, wo Blinde zusammen »speisten« und Musik- sowie Handarbeitsunterricht erhielten – was den Blinden, die, so Schopenhauers Eindruck, ein menschenwürdiges Dasein ermöglichte.
Neben kurzweiligen Schilderungen von Landschaften – wobei der Besuch von Stonehenge und das damalige Wissen darüber besonders reizvoll sind – erfahren wir auch etwas über die für deutsche Reisende nicht immer einfachen Alltagsgewohnheiten der damaligen Briten. Schopenhauers hätten gewünscht, bei Tagesanbruch abzureisen, was sich als unmöglich erwies. Im ansonsten als äußerst komfortabel beschriebenen britischen Gasthof schlief selbst der Stallknecht bis in den Vormittag hinein, das Frühstück geriet zum Mittagessen, und dieses wurde erst abends eingenommen. Befremdlich fand Frau Schopenhauer auch manches in der Damenmode, die zwischen echter Eleganz der Hauskleidung und oft überladenem Putz für den Ausgang schwankte – eine Eigenart, die ja in der Hutmode englischer Aristokratinnen fortlebt. Anregend für heutige Reisende sind die Beschreibungen der Städte, insbesondere Londons, wo man als Tourist schon günstiger in bereits damals massenhaft existierenden Ferienwohnungen lebte als im Hotel. Die Schopenhauers besuchten Sehenswürdigkeiten, Kulturveranstaltungen und eine Empfangszeremonie des Königs, zahlreiche, zum Teil noch heute existierende Vergnügungsstätten für Reiche und weniger Bemittelte. Die als Gipfel des Kunstgeschmacks geltende italienische Oper empfand Frau Schopenhauer, die auch das Pariser Opernleben kannte, als peinlich stümperhaft. Auch hier zeigte sich ihrer Meinung nach ein parvenühafter Zug der britischen Oberklassen.
Die Unbesorgtheit hinsichtlich der Erwartung künftiger Kriege erstaunte Frau Schopenhauer. Während der Reise kam es zur Mobilmachung, weil eine Invasion Napoleons befürchtet wurde: »Alt und Jung spielten Soldaten (…), jeder junge Mann suchte durch schöne Uniformen und Exerzieren bei heiterem Wetter im Angesicht der Damen seinen Mut an den Tag zu legen.« Die Wirtschaft, der die Arbeitskräfte fehlten, litt darunter, und »die Chefs der jetzt leerstehenden Comptoires und Fabriken wollten ob der großen Vaterlandsliebe der jungen Helden schier verzweifeln«.
Für Englandbesucher kann es reizvoll sein, auch Laura C. Göbelsmanns »Zeitreise in die Werkstatt der Welt« mitzuführen. Dieses auch bei Promedia erschienene Buch schlägt zum Teil an denselben Orten, die Schopenhauers besuchten, einen historischen Bogen von der Hoch-Zeit der Industrialisierung, als England die Welt mit seinen Waren belieferte, über den sowohl vom Zerfall des Kolonialreichs als auch von der Konkurrenz der USA ausgelösten industriellen Niedergang bis zum postindustriellen Zeitalter. Weite britische Landschaften lernen wir nicht wie bei Schopenhauer aus der Perspektive eines Fahrzeugs kennen, sondern aus dem ruhigen Blickwinkel einer modernen Wanderin. Unverdrossen kämpft sie sich, wenn nötig, auch durch dickichtartiges Unterholz von Wäldern, um Fundamente von einst stolzen Industrieanlagen ausfindig zu machen. Moos und liebliche Pflanzen, die heute darüber wuchern, verdienen – das suggeriert die Naturfreundin Göbelsmann – ebenfalls Beachtung. Als Architekturinteressierte recherchiert sie die Baugeschichte der Industrieanlagen und der sie verbindenden künstlichen Land- und Wasserwege, die gleichwohl Zeugnis grandioser Ingenieursleistungen waren. Exkurse weisen auf die engen Verbindungen hin, die bereits im frühen Industriezeitalter zwischen England und den USA bestanden. Ohne die dort und erst später in Indien durch forcierte Sklaven- und Zwangsarbeit erzeugte Baumwolle wäre die Stoff- und Tuchindustrie Englands nicht zur Blüte gelangt.
Großen Raum nehmen auch die erschütternden Lebens- und Arbeitsbedingungen der im Industriezeitalter ausgebeuteten Einheimischen ein wie auch ihre Kämpfe gegen die Ausbeutung, zum Teil auch gegen neue Maschinen, die ihnen Arbeit und damit das Brot streitig machten. Dabei stützt sich Göbelsmann maßgeblich auf Friedrich Engels und sein Werk zur »Lage der arbeitenden Klasse in England«, das heute nur noch selten zitiert wird. Engels Spuren verfolgend, trifft man offenbar in Großbritannien auf mehr wohlwollendes Erinnern als in Deutschland. Die Autorin selber stammt aus dessen Geburtsort Wuppertal, wo sie als Kind schon gelegentliche Einblicke in das noch recht düstere Fabrikleben der Nachkriegszeit erhaschte. Auf dem Campus der Universität in Salford befindet sich ein interaktives Denkmal, das »Engels Bart« heißt und erklettert werden darf.
So furchtbar die Ausbeutung im 18. Und 19. Jahrhundert war, so effizient die Klassenkämpfe, die die Lage des Proletariats über Jahrzehnte verbesserten und große Teile von ihm mit dem Kapitalismus versöhnten – so trostlos machen die Schilderungen der teilweise eingewanderten Gesprächspartner Göbelsmanns über die Auswirkungen der fortdauernden Deindustrialisierung. Die meisten Briten haben offenbar keine Vision einer grundlegenden Veränderung, sondern versuchen, sich in Selbsthilfegruppen und gemeinschaftlichen Projekten gegenseitig zu unterstützen. Längst ist England nicht mehr die »Werkstatt der Welt«. An heutigen Arbeitsplätzen werden kaum noch Güter produziert, sondern Immaterielles, und Digitales. Arbeitswelten wurden Ferienwelten – allerdings nicht für die Nachkommen derer, die dort geschuftet hatten.
Göbelsmann macht den Reisenden auf die Pracht der zahlreichen erhaltenen alten Industriebauten aufmerksam. Meist aus Backstein errichtet, wurden sie aufwändig restauriert und neuen Zwecken zugeführt, manchmal mit einem musealen Teil, der an ihre alte Bestimmung erinnert. Die Harmonie von Funktionalität und ästhetischem Reiz, die die alten Gebäude ausstrahlen, kontrastiert Göbelsmann mit der gleichgültigen Gesichtslosigkeit der an vielen Orten um sie herum wuchernden modernen Glaspaläste. Diese sieht sie als Ausdruck einer ziellosen Zeit, die ihre Selbstgewissheit verloren hat. Selbst der nach dem 2. Weltkrieg aufgekommene architektonische Brutalismus war aus ihrer Sicht noch menschenfreundlicher.
Als Ergänzung zu den minutiösen Beschreibungen der alten Industriearchitektur hätte man sich einen anspruchsvollen Fototeil für das Buch gewünscht. Auch bleibt unverständlich, wieso es in nummerierte Kapitel eingeteilt ist und nicht wie Schopenhauers Werk nach dem Namen der besuchten Orte. Dennoch sei auch Göbelsmanns Buch als origineller Reisebegleiter empfohlen, weil es den Blick von der touristischen Oberfläche des heutigen Englands abwendet und auf die dahinter liegenden Verwerfungen richtet.
Johanna Schopenhauer: Insel der Gegensätze. Die Reise durch England und Schottland im Jahr 1803, herausgegeben, bearbeitet mit einer Einleitung von Gabriela Habinger, Promedia, Wien 2025, 280 S., 27 €.
Laura C. Göbelsmann: Zeitreise in die Werkstatt der Welt. Von rauchenden Schloten zum Ende der Fabriken. Geschichten aus England, Promedia, Wien 2024, 248 S., 24 €.