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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hinter den Kulissen Großbritanniens

Der Wie­ner Pro­me­dia Ver­lag hat in sei­ner Rei­he »Frau­en­fahr­ten« Johan­na Scho­pen­hau­ers (1766-1838) Rei­se­er­in­ne­run­gen an ihre zwei­te, mit Ehe­mann Hein­rich und dem fünf­zehn­jäh­ri­gen Sohn Arthur 1803 ange­tre­te­ne Rei­se durch Eng­land und Schott­land neu auf­ge­legt. Wir begeg­nen nicht nur einer hoch­be­gab­ten Schrift­stel­le­rin, die ihr detail­rei­ches Buch von 1818 wohl aus aus­führ­li­chen Rei­se­no­ti­zen zu einem heu­te noch gut les­ba­ren, mun­te­ren Bericht gestal­te­te. Histo­risch inter­es­sier­ten Besu­chern Groß­bri­tan­ni­ens ermög­licht er reiz­vol­les Ver­glei­chen von damals und heu­te. Erstaun­lich, dass die beson­de­ren Beschwer­lich­kei­ten, die eine mona­te­lan­ge Rei­se für Frau­en damals bedeu­te­ten, kei­ne Erwäh­nung fin­den. Allein an die unprak­ti­sche Klei­dung den­kend, kann man die tap­fe­re Frau Scho­pen­hau­er nur bewun­dern, die in Berg­wer­ken »ein Stück Koh­le her­un­ter­ge­schla­gen« hat und sich auf einen stun­den­lan­gen, auch für Män­ner gefähr­li­chen Spa­zier­gang durch eine Tropf­stein­höh­le wag­te. Auch fin­det Per­sön­li­ches, wie etwa unter­schied­li­che Vor­lie­ben für Rei­se­zie­le oder Urtei­le zu Gese­he­nem zwi­schen den Ehe­leu­ten oder mit dem Sohn, kei­ner­lei Erwäh­nung. Anders als Arthur, der zum kon­ser­va­ti­ven Phi­lo­so­phen der Gegen­auf­klä­rung her­an­rei­fen wird, waren Johan­na und der unge­lieb­te Ehe­mann – ein Dan­zi­ger Groß­kauf­mann – sich zumin­dest einig in ihrer der Auf­klä­rung und dem indu­stri­el­len Fort­schritt ver­bun­de­nen Welt­sicht. Haupt­ziel der Rei­se war das Ken­nen­ler­nen des dem Deutsch­land weit über­le­ge­nen bri­ti­schen Zivi­li­sa­ti­ons­mo­dells. Ihrer eige­nen Klas­sen­kul­tur gemäß inter­es­sier­ten sich die Scho­pen­hau­ers sowohl für das pul­sie­ren­de Leben in den Städ­ten als auch für die Land­sit­ze der Ade­li­gen und Neu­rei­chen, die teil­wei­se auf Anmel­dung für Besu­cher offen­stan­den. Die dort aus­ge­stell­te über­bor­den­de Fül­le von Kunst- und Wert­ge­gen­stän­den ver­stand Frau Scho­pen­hau­er zu schät­zen. Sie mein­te aber, dass die unge­heu­re Anhäu­fung von Kul­tur­gut nicht immer auf das Kunst­ver­ständ­nis der Besit­zer schlie­ßen las­se, son­dern eher auf Reprä­sen­ta­ti­ons­be­dürf­nis oder gar Raff­gier. Dass vie­les in den Samm­lun­gen und bota­ni­sche Kurio­si­tä­ten der Parks auf unmensch­li­chen Ver­hält­nis­sen in den Kolo­nien basier­te, konn­te sie kaum wissen.

Furcht­ba­re Zustän­de waren aber auch in Eng­land anzu­tref­fen, und die Scho­pen­hau­ers zöger­ten nicht, sich auch damit zu kon­fron­tie­ren. In Leeds war »die Luft schwarz und dick vom Koh­len­damp­fe; über­all sahen wir den Armen arbei­ten, um den Rei­chen noch rei­cher zu machen.«  Ähn­lich war es in Man­che­ster, wo »Arbeit, Erwerb, Geld­be­gier (…) die ein­zi­ge Idee zu sein« scheint, »über­all hört man das Geklap­per der Baum­woll­spin­ne­rei­en und der Weber­stüh­le, auf allen Gesich­tern ste­hen Zah­len, nichts als Zah­len«. Die Über­win­dung pro­le­ta­ri­schen Elends konn­ten sich die Scho­pen­hau­ers nur als Aus­wei­tung von Wohl­fahrts­in­sti­tu­tio­nen vor­stel­len, wovon sie auch eini­ge besuch­ten wie ein fort­schritt­li­ches »Asyl­um« in Liver­pool, wo Blin­de zusam­men »spei­sten« und Musik- sowie Hand­ar­beits­un­ter­richt erhiel­ten – was den Blin­den, die, so Scho­pen­hau­ers Ein­druck, ein men­schen­wür­di­ges Dasein ermöglichte.

Neben kurz­wei­li­gen Schil­de­run­gen von Land­schaf­ten – wobei der Besuch von Stone­henge und das dama­li­ge Wis­sen dar­über beson­ders reiz­voll sind – erfah­ren wir auch etwas über die für deut­sche Rei­sen­de nicht immer ein­fa­chen All­tags­ge­wohn­hei­ten der dama­li­gen Bri­ten. Scho­pen­hau­ers hät­ten gewünscht, bei Tages­an­bruch abzu­rei­sen, was sich als unmög­lich erwies. Im anson­sten als äußerst kom­for­ta­bel beschrie­be­nen bri­ti­schen Gast­hof schlief selbst der Stall­knecht bis in den Vor­mit­tag hin­ein, das Früh­stück geriet zum Mit­tag­essen, und die­ses wur­de erst abends ein­ge­nom­men. Befremd­lich fand Frau Scho­pen­hau­er auch man­ches in der Damen­mo­de, die zwi­schen ech­ter Ele­ganz der Haus­klei­dung und oft über­la­de­nem Putz für den Aus­gang schwank­te – eine Eigen­art, die ja in der Hut­mo­de eng­li­scher Ari­sto­kra­tin­nen fort­lebt. Anre­gend für heu­ti­ge Rei­sen­de sind die Beschrei­bun­gen der Städ­te, ins­be­son­de­re Lon­dons, wo man als Tou­rist schon gün­sti­ger in bereits damals mas­sen­haft exi­stie­ren­den Feri­en­woh­nun­gen leb­te als im Hotel. Die Scho­pen­hau­ers besuch­ten Sehens­wür­dig­kei­ten, Kul­tur­ver­an­stal­tun­gen und eine Emp­fangs­ze­re­mo­nie des Königs, zahl­rei­che, zum Teil noch heu­te exi­stie­ren­de Ver­gnü­gungs­stät­ten für Rei­che und weni­ger Bemit­tel­te. Die als Gip­fel des Kunst­ge­schmacks gel­ten­de ita­lie­ni­sche Oper emp­fand Frau Scho­pen­hau­er, die auch das Pari­ser Opern­le­ben kann­te, als pein­lich stüm­per­haft. Auch hier zeig­te sich ihrer Mei­nung nach ein par­venüh­af­ter Zug der bri­ti­schen Oberklassen.

Die Unbe­sorgt­heit hin­sicht­lich der Erwar­tung künf­ti­ger Krie­ge erstaun­te Frau Scho­pen­hau­er. Wäh­rend der Rei­se kam es zur Mobil­ma­chung, weil eine Inva­si­on Napo­le­ons befürch­tet wur­de: »Alt und Jung spiel­ten Sol­da­ten (…), jeder jun­ge Mann such­te durch schö­ne Uni­for­men und Exer­zie­ren bei hei­te­rem Wet­ter im Ange­sicht der Damen sei­nen Mut an den Tag zu legen.« Die Wirt­schaft, der die Arbeits­kräf­te fehl­ten, litt dar­un­ter, und »die Chefs der jetzt leer­ste­hen­den Comptoires und Fabri­ken woll­ten ob der gro­ßen Vater­lands­lie­be der jun­gen Hel­den schier verzweifeln«.

Für Eng­land­be­su­cher kann es reiz­voll sein, auch Lau­ra C. Göbels­manns »Zeit­rei­se in die Werk­statt der Welt« mit­zu­füh­ren. Die­ses auch bei Pro­me­dia erschie­ne­ne Buch schlägt zum Teil an den­sel­ben Orten, die Scho­pen­hau­ers besuch­ten, einen histo­ri­schen Bogen von der Hoch-Zeit der Indu­stria­li­sie­rung, als Eng­land die Welt mit sei­nen Waren belie­fer­te, über den sowohl vom Zer­fall des Kolo­ni­al­reichs als auch von der Kon­kur­renz der USA aus­ge­lö­sten indu­stri­el­len Nie­der­gang bis zum post­in­du­stri­el­len Zeit­al­ter. Wei­te bri­ti­sche Land­schaf­ten ler­nen wir nicht wie bei Scho­pen­hau­er aus der Per­spek­ti­ve eines Fahr­zeugs ken­nen, son­dern aus dem ruhi­gen Blick­win­kel einer moder­nen Wan­de­rin. Unver­dros­sen kämpft sie sich, wenn nötig, auch durch dickicht­ar­ti­ges Unter­holz von Wäl­dern, um Fun­da­men­te von einst stol­zen Indu­strie­an­la­gen aus­fin­dig zu machen. Moos und lieb­li­che Pflan­zen, die heu­te dar­über wuchern, ver­die­nen – das sug­ge­riert die Natur­freun­din Göbels­mann – eben­falls Beach­tung. Als Archi­tek­tur­in­ter­es­sier­te recher­chiert sie die Bau­ge­schich­te der Indu­strie­an­la­gen und der sie ver­bin­den­den künst­li­chen Land- und Was­ser­we­ge, die gleich­wohl Zeug­nis gran­dio­ser Inge­nieurs­lei­stun­gen waren. Exkur­se wei­sen auf die engen Ver­bin­dun­gen hin, die bereits im frü­hen Indu­strie­zeit­al­ter zwi­schen Eng­land und den USA bestan­den. Ohne die dort und erst spä­ter in Indi­en durch for­cier­te Skla­ven- und Zwangs­ar­beit erzeug­te Baum­wol­le wäre die Stoff- und Tuch­in­du­strie Eng­lands nicht zur Blü­te gelangt.

Gro­ßen Raum neh­men auch die erschüt­tern­den Lebens- und Arbeits­be­din­gun­gen der im Indu­strie­zeit­al­ter aus­ge­beu­te­ten Ein­hei­mi­schen ein wie auch ihre Kämp­fe gegen die Aus­beu­tung, zum Teil auch gegen neue Maschi­nen, die ihnen Arbeit und damit das Brot strei­tig mach­ten. Dabei stützt sich Göbels­mann maß­geb­lich auf Fried­rich Engels und sein Werk zur »Lage der arbei­ten­den Klas­se in Eng­land«, das heu­te nur noch sel­ten zitiert wird. Engels Spu­ren ver­fol­gend, trifft man offen­bar in Groß­bri­tan­ni­en auf mehr wohl­wol­len­des Erin­nern als in Deutsch­land. Die Autorin sel­ber stammt aus des­sen Geburts­ort Wup­per­tal, wo sie als Kind schon gele­gent­li­che Ein­blicke in das noch recht düste­re Fabrik­le­ben der Nach­kriegs­zeit erhasch­te. Auf dem Cam­pus der Uni­ver­si­tät in Sal­ford befin­det sich ein inter­ak­ti­ves Denk­mal, das »Engels Bart« heißt und erklet­tert wer­den darf.

So furcht­bar die Aus­beu­tung im 18. Und 19. Jahr­hun­dert war, so effi­zi­ent die Klas­sen­kämp­fe, die die Lage des Pro­le­ta­ri­ats über Jahr­zehn­te ver­bes­ser­ten und gro­ße Tei­le von ihm mit dem Kapi­ta­lis­mus ver­söhn­ten – so trost­los machen die Schil­de­run­gen der teil­wei­se ein­ge­wan­der­ten Gesprächs­part­ner Göbels­manns über die Aus­wir­kun­gen der fort­dau­ern­den Deindu­stria­li­sie­rung. Die mei­sten Bri­ten haben offen­bar kei­ne Visi­on einer grund­le­gen­den Ver­än­de­rung, son­dern ver­su­chen, sich in Selbst­hil­fe­grup­pen und gemein­schaft­li­chen Pro­jek­ten gegen­sei­tig zu unter­stüt­zen. Längst ist Eng­land nicht mehr die »Werk­statt der Welt«. An heu­ti­gen Arbeits­plät­zen wer­den kaum noch Güter pro­du­ziert, son­dern Imma­te­ri­el­les, und Digi­ta­les. Arbeits­wel­ten wur­den Feri­en­wel­ten – aller­dings nicht für die Nach­kom­men derer, die dort geschuf­tet hatten.

Göbels­mann macht den Rei­sen­den auf die Pracht der zahl­rei­chen erhal­te­nen alten Indu­strie­bau­ten auf­merk­sam. Meist aus Back­stein errich­tet, wur­den sie auf­wän­dig restau­riert und neu­en Zwecken zuge­führt, manch­mal mit einem musea­len Teil, der an ihre alte Bestim­mung erin­nert. Die Har­mo­nie von Funk­tio­na­li­tät und ästhe­ti­schem Reiz, die die alten Gebäu­de aus­strah­len, kon­tra­stiert Göbels­mann mit der gleich­gül­ti­gen Gesichts­lo­sig­keit der an vie­len Orten um sie her­um wuchern­den moder­nen Glas­pa­lä­ste. Die­se sieht sie als Aus­druck einer ziel­lo­sen Zeit, die ihre Selbst­ge­wiss­heit ver­lo­ren hat. Selbst der nach dem 2. Welt­krieg auf­ge­kom­me­ne archi­tek­to­ni­sche Bru­ta­lis­mus war aus ihrer Sicht noch menschenfreundlicher.

Als Ergän­zung zu den minu­tiö­sen Beschrei­bun­gen der alten Indu­strie­ar­chi­tek­tur hät­te man sich einen anspruchs­vol­len Foto­teil für das Buch gewünscht. Auch bleibt unver­ständ­lich, wie­so es in num­me­rier­te Kapi­tel ein­ge­teilt ist und nicht wie Scho­pen­hau­ers Werk nach dem Namen der besuch­ten Orte. Den­noch sei auch Göbels­manns Buch als ori­gi­nel­ler Rei­se­be­glei­ter emp­foh­len, weil es den Blick von der tou­ri­sti­schen Ober­flä­che des heu­ti­gen Eng­lands abwen­det und auf die dahin­ter lie­gen­den Ver­wer­fun­gen richtet.

Johan­na Scho­pen­hau­er: Insel der Gegen­sät­ze. Die Rei­se durch Eng­land und Schott­land im Jahr 1803, her­aus­ge­ge­ben, bear­bei­tet mit einer Ein­lei­tung von Gabrie­la Habin­ger, Pro­me­dia, Wien 2025, 280 S., 27 €.

Lau­ra C. Göbels­mann: Zeit­rei­se in die Werk­statt der Welt. Von rau­chen­den Schlo­ten zum Ende der Fabri­ken. Geschich­ten aus Eng­land, Pro­me­dia, Wien 2024, 248 S., 24 €.