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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Kokon nach Lissabon

Da es häu­fig »insek­ten­haft« (Amei­sen, Mot­ten, Mil­ben, Sei­den­rau­pen) zugeht in den Tex­ten des neu­en Gedicht­ban­des von Chri­sti­ne Hoba, kann man sich wohl die Frei­heit neh­men, im Kokon zu rei­sen, um in Por­tu­gal anzukommen.

Ein »kokon« steht am Anfang, es gilt also, sich ein­zu­spin­nen und »im schnee­trei­ben« zu ver­we­hen – auf einer fan­ta­sti­schen Rei­se. Das Gedicht ist ein furio­ser Auf­takt: »es roch nach war­men (sic!) Staub« – der nicht bemerk­te unkor­rek­te Dativ ist so ärger­lich wie der auf Sei­te 78, wäh­rend ande­re Ver­se­hen, z. B. »cock­bit« (Sei­te 28) oder »flack« statt «flak«, eher wie pas­sen­de Neo­lo­gis­men wirken.

Auf der Kokon­rei­se begeg­net man gleich zu Anfang Robert Wal­ser, der, und das ist ein wun­der­vol­ler Ein­fall, hier Papier­tü­ten fal­tet, anstatt Papier zu beschrei­ben. Ein Gefan­ge­ner ist er sowie­so, wor­an auch nichts ändert, dass er durch den Wald lau­fen kann. Eine Gefan­ge­ne auch Vir­gi­nia Woolf, deren Selbst­er­trän­kungs­tod im Fluss Ouse in einem der am hef­tig­sten wir­ken­den Gedich­te des gan­zen Ban­des dar­ge­stellt wird. Ohne jede Beschö­ni­gung geschieht das in kühl-pro­to­kol­lie­ren­dem Ton: »sie such­te stei­ne für ihre /​ taschen, leg­te den stock /​ an die böschung /​ der fluss /​ schoss zum meer …« Und wäh­rend die Käl­te nach ihren Glied­ma­ßen greift, wird der Sui­zid zur Bahn­fahrt: »stil­le im abteil – und rei­ste«. Man muss wohl Vir­gi­nia Woolf sehr genau gele­sen haben, um sie so dar­stel­len zu kön­nen. Die­ser Text nötigt Bewun­de­rung ab für den Umgang mit der jedes Leben bedro­hen­den Dun­kel­heit. Frei­lich ist das »spe­cu­lum mor­tis« sowie­so ein fast durch­gän­gi­ger Topos in den Gedich­ten, kor­re­spon­die­rend mit den dunk­len Papier­schnit­ten von Annet­te Fun­ke, wo auch der Gevat­ter Hein ein­mal per­sön­lich zu kör­per­li­cher Nähe schreitet.

Den­noch muss man sich nicht fürch­ten, das Leben kommt zu sei­nen Fei­ern in die­sen Gedich­ten, die Sinn­lich­keit zu ihrem Recht, auch Hun­ger wird gestillt. Etwa in der »sta­chel­bee­ren­fei­er«, wo »unterm gesang der teu­fel« eine Köst­lich­keit gebacken wird, die, in vie­le Kuchen­stücke geteilt, wie­der­um köst­li­che Wort­schöp­fun­gen beför­dert: »gau­men­trom­mel – süß­ge­sang – magenfreundin«.

Und auch das Lächeln fin­det sei­nen Platz in den oft »nacht­wärts« gerich­te­ten Gedich­ten, wenn etwa der Gedan­ke der »ewi­gen Wie­der­kehr« auf die rum­peln­de Wasch­ma­schi­ne ange­wen­det wird, wo der Schaum eine »ver­klär­te evi­denz der hose« erzeugt.

Es gespen­stert ziem­lich roman­tisch in den Gedich­ten, da geben sich Nova­lis und E.T.A. Hoff­mann die Ehre – und es wird ihnen Ehre erwie­sen, wenn »die nacht uns am kra­gen packt« oder wenn das frem­de Kind oder der Sand­mann auf­tau­chen. Über­aus geschickt und wir­kungs­voll wird im Gedicht »vom frem­den kind« der Gedan­ke des Kokons auf­ge­nom­men und fort­ge­führt. Der so gefürch­te­te Sand­mann Hoff­manns, wenn er es denn ist, jedoch kei­nes­falls die spitz­bär­tig-freund­li­che Fern­seh­pup­pe, bringt »fei­nes geläch­ter wie sand«, was dann frei­lich hin­ter den Lidern knir­schen­de Geräu­sche macht. Und wie­der kann man nicht schla­fen. Dann kommt man am »zazie« (dem Hal­le-Unkun­di­gen hät­te man ruhig eine Erklä­rung bei­fü­gen kön­nen – nun gut, es gibt das Inter­net und man erfährt: Bar und Kino) vor­bei, wo Tan­go­mu­sik zu hören ist. Inten­siv und lako­nisch zugleich wird das Tan­zen eines Paa­res beschrie­ben: »sie waren frau und mann«. Das Gedicht führt zu zwei Höhe­punk­ten, ein­mal einem ganz irdi­schen, als sich die Bei­ne und Knie »in die scham­zo­nen des ande­ren« schie­ben, zum ande­ren einem etwas jen­sei­ti­gen. Denn es schlägt eins, ein Spuk scheint nun zu enden, fast wie in Goe­thes maka­be­rer Bal­la­de vom Toten­tanz. Doch geht es vor dem »Zazie« nicht brav ins Grab zurück, denn Mot­ten ver­schwin­den in der Dun­kel­heit. Aber wäh­rend bei Goe­the der Tür­mer, der ein Toten­hemd gestoh­len hat, glimpf­lich davon­kommt, geht es hier wei­ter, und zwar so ero­tisch, wie es dem Tan­go gebührt: »wir gin­gen heim … in des tan­gos – epi­pha­nie«. Das ist bes­ser erzählt als eine lan­ge Lie­bes­ge­schich­te. Und was kann Men­schen Bes­se­res zusto­ßen als die Epiphanie?

Bei aller »Nacht­ver­pflich­tung« (»ich bin der nacht ver­pflich­tet«) behaup­ten Mor­gen und Licht ihren Platz, sogar die Hel­lig­keits­fül­le des Äqua­tors. Rei­se­ge­dich­te bil­den den Schluss des Ban­des, und es ist gut, dass das Unter­wegs­sein des Men­schen auf die­se Wei­se das letz­te Wort hat: Peters­burg, Kykla­den, Tim­buk­tu, Arme­ni­en. Natür­lich ist jede Rei­se auch abge­leb­te Zeit und bringt uns dem Dun­kel näher, eine selbst­ver­ständ­li­che Ein­sicht für den, der sich lesend und mit­den­kend bis hier bewegt hat.

Es denkt sich gut im Kokon der Gedich­te Chri­sti­ne Hobas. Und so fin­det man sich in Lis­sa­bon. In die­ser viel­be­sun­ge­nen, immer wie­der als Hin­ter­grund von Lite­ra­tur die­nen­den Stadt muss man her­aus aus dem Gespinst, sonst ver­passt man ihre Herr­lich­kei­ten. Es ist »o lis­boa – eh lahó« ein wun­der­sa­mes Gedicht, bei dem man gern jubelnd ins »eh lahó« ein­stimmt. Die Mot­ten sind ver­schwun­den, der etwas mor­bi­de Charme Lis­sa­bons, die manch­mal bröckeln­de Pracht unter dem »him­mel aus kla­rem blau­en glas«, eine Wür­ste bra­ten­de Frau in der Alfa­ma und natür­lich ein in die Jah­re gekom­me­nes Fado-Duo, – das ist das Leben im Ange­sicht des Atlan­tiks, von dem in Näch­ten wie in der im Gedicht beschrie­be­nen sogar noch ein Post­schiff den Tejo hin­auf­fährt. Auch Fer­nan­do ist wie­der erschie­nen, die Ver­fas­se­rin scheint mit Sen­hor Pes­soa ver­trau­ten Umgangs­ton zu pfle­gen, »fer­ner klang folgt unse­ren schrit­ten zurück«. In sei­nem berühm­ten Gedicht »Hori­zon­te« gibt es die Zei­le, dass Träu­men bedeu­te, unsicht­ba­re For­men zu sehen. Dies ist der Autorin über­zeu­gend gelun­gen, und zwar so, dass sich man gern in ihren Wort­ko­kon begibt. Und bei aller Ver­letz­lich­keit, die ihre lyri­sche Spra­che preis­gibt – es scheint Hei­lung zu geben, auch außer­halb des Kokons: Denn von (oder in?) Lis­sa­bon geht es zum Spie­len: »feder­ball« (welch schö­ne Erin­ne­rung an ein fast ver­lo­ren gehen­des Wort) und »jojo«. Leben in Bewe­gung und im Hin und Her.

Chri­sti­ne Hoba: Papier­ko­kons. Gedich­te. Mit Papier­schnit­ten von Annet­te Fun­ke und einem Nach­wort von André Schin­kel. dr. zie­then ver­lag, Oschers­le­ben 2025, 88 S., 15 €.