Da es häufig »insektenhaft« (Ameisen, Motten, Milben, Seidenraupen) zugeht in den Texten des neuen Gedichtbandes von Christine Hoba, kann man sich wohl die Freiheit nehmen, im Kokon zu reisen, um in Portugal anzukommen.
Ein »kokon« steht am Anfang, es gilt also, sich einzuspinnen und »im schneetreiben« zu verwehen – auf einer fantastischen Reise. Das Gedicht ist ein furioser Auftakt: »es roch nach warmen (sic!) Staub« – der nicht bemerkte unkorrekte Dativ ist so ärgerlich wie der auf Seite 78, während andere Versehen, z. B. »cockbit« (Seite 28) oder »flack« statt «flak«, eher wie passende Neologismen wirken.
Auf der Kokonreise begegnet man gleich zu Anfang Robert Walser, der, und das ist ein wundervoller Einfall, hier Papiertüten faltet, anstatt Papier zu beschreiben. Ein Gefangener ist er sowieso, woran auch nichts ändert, dass er durch den Wald laufen kann. Eine Gefangene auch Virginia Woolf, deren Selbstertränkungstod im Fluss Ouse in einem der am heftigsten wirkenden Gedichte des ganzen Bandes dargestellt wird. Ohne jede Beschönigung geschieht das in kühl-protokollierendem Ton: »sie suchte steine für ihre / taschen, legte den stock / an die böschung / der fluss / schoss zum meer …« Und während die Kälte nach ihren Gliedmaßen greift, wird der Suizid zur Bahnfahrt: »stille im abteil – und reiste«. Man muss wohl Virginia Woolf sehr genau gelesen haben, um sie so darstellen zu können. Dieser Text nötigt Bewunderung ab für den Umgang mit der jedes Leben bedrohenden Dunkelheit. Freilich ist das »speculum mortis« sowieso ein fast durchgängiger Topos in den Gedichten, korrespondierend mit den dunklen Papierschnitten von Annette Funke, wo auch der Gevatter Hein einmal persönlich zu körperlicher Nähe schreitet.
Dennoch muss man sich nicht fürchten, das Leben kommt zu seinen Feiern in diesen Gedichten, die Sinnlichkeit zu ihrem Recht, auch Hunger wird gestillt. Etwa in der »stachelbeerenfeier«, wo »unterm gesang der teufel« eine Köstlichkeit gebacken wird, die, in viele Kuchenstücke geteilt, wiederum köstliche Wortschöpfungen befördert: »gaumentrommel – süßgesang – magenfreundin«.
Und auch das Lächeln findet seinen Platz in den oft »nachtwärts« gerichteten Gedichten, wenn etwa der Gedanke der »ewigen Wiederkehr« auf die rumpelnde Waschmaschine angewendet wird, wo der Schaum eine »verklärte evidenz der hose« erzeugt.
Es gespenstert ziemlich romantisch in den Gedichten, da geben sich Novalis und E.T.A. Hoffmann die Ehre – und es wird ihnen Ehre erwiesen, wenn »die nacht uns am kragen packt« oder wenn das fremde Kind oder der Sandmann auftauchen. Überaus geschickt und wirkungsvoll wird im Gedicht »vom fremden kind« der Gedanke des Kokons aufgenommen und fortgeführt. Der so gefürchtete Sandmann Hoffmanns, wenn er es denn ist, jedoch keinesfalls die spitzbärtig-freundliche Fernsehpuppe, bringt »feines gelächter wie sand«, was dann freilich hinter den Lidern knirschende Geräusche macht. Und wieder kann man nicht schlafen. Dann kommt man am »zazie« (dem Halle-Unkundigen hätte man ruhig eine Erklärung beifügen können – nun gut, es gibt das Internet und man erfährt: Bar und Kino) vorbei, wo Tangomusik zu hören ist. Intensiv und lakonisch zugleich wird das Tanzen eines Paares beschrieben: »sie waren frau und mann«. Das Gedicht führt zu zwei Höhepunkten, einmal einem ganz irdischen, als sich die Beine und Knie »in die schamzonen des anderen« schieben, zum anderen einem etwas jenseitigen. Denn es schlägt eins, ein Spuk scheint nun zu enden, fast wie in Goethes makaberer Ballade vom Totentanz. Doch geht es vor dem »Zazie« nicht brav ins Grab zurück, denn Motten verschwinden in der Dunkelheit. Aber während bei Goethe der Türmer, der ein Totenhemd gestohlen hat, glimpflich davonkommt, geht es hier weiter, und zwar so erotisch, wie es dem Tango gebührt: »wir gingen heim … in des tangos – epiphanie«. Das ist besser erzählt als eine lange Liebesgeschichte. Und was kann Menschen Besseres zustoßen als die Epiphanie?
Bei aller »Nachtverpflichtung« (»ich bin der nacht verpflichtet«) behaupten Morgen und Licht ihren Platz, sogar die Helligkeitsfülle des Äquators. Reisegedichte bilden den Schluss des Bandes, und es ist gut, dass das Unterwegssein des Menschen auf diese Weise das letzte Wort hat: Petersburg, Kykladen, Timbuktu, Armenien. Natürlich ist jede Reise auch abgelebte Zeit und bringt uns dem Dunkel näher, eine selbstverständliche Einsicht für den, der sich lesend und mitdenkend bis hier bewegt hat.
Es denkt sich gut im Kokon der Gedichte Christine Hobas. Und so findet man sich in Lissabon. In dieser vielbesungenen, immer wieder als Hintergrund von Literatur dienenden Stadt muss man heraus aus dem Gespinst, sonst verpasst man ihre Herrlichkeiten. Es ist »o lisboa – eh lahó« ein wundersames Gedicht, bei dem man gern jubelnd ins »eh lahó« einstimmt. Die Motten sind verschwunden, der etwas morbide Charme Lissabons, die manchmal bröckelnde Pracht unter dem »himmel aus klarem blauen glas«, eine Würste bratende Frau in der Alfama und natürlich ein in die Jahre gekommenes Fado-Duo, – das ist das Leben im Angesicht des Atlantiks, von dem in Nächten wie in der im Gedicht beschriebenen sogar noch ein Postschiff den Tejo hinauffährt. Auch Fernando ist wieder erschienen, die Verfasserin scheint mit Senhor Pessoa vertrauten Umgangston zu pflegen, »ferner klang folgt unseren schritten zurück«. In seinem berühmten Gedicht »Horizonte« gibt es die Zeile, dass Träumen bedeute, unsichtbare Formen zu sehen. Dies ist der Autorin überzeugend gelungen, und zwar so, dass sich man gern in ihren Wortkokon begibt. Und bei aller Verletzlichkeit, die ihre lyrische Sprache preisgibt – es scheint Heilung zu geben, auch außerhalb des Kokons: Denn von (oder in?) Lissabon geht es zum Spielen: »federball« (welch schöne Erinnerung an ein fast verloren gehendes Wort) und »jojo«. Leben in Bewegung und im Hin und Her.
Christine Hoba: Papierkokons. Gedichte. Mit Papierschnitten von Annette Funke und einem Nachwort von André Schinkel. dr. ziethen verlag, Oschersleben 2025, 88 S., 15 €.