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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Rentennebel

Alle eiern nur rum. Nie­mand kennt oder sagt die »gan­ze Wahr­heit«, wie immer sie aus­se­hen mag. Wie steht es um unse­re Ren­te? So genann­te Exper­ten, Poli­ti­ker und, ja, auch Jour­na­li­sten erge­hen sich ent­we­der in Unter­gangs­sze­na­ri­en (»das System der Alters­vor­sor­ge fährt auf­grund der demo­gra­fi­schen Ent­wick­lung gegen die Wand«) oder in Durch­hal­te­pa­ro­len (»die Ren­te ist sicher«, min­de­stens für die näch­sten fünf Jah­re). Doch auch die Letz­te­ren for­dern eine radi­ka­le Reform der Alters­si­che­rung – und das seit Jahr­zehn­ten, es han­delt sich um schlich­te Mathe­ma­tik: das Ver­hält­nis von Bei­trags­zah­lern zu Lei­stungs­emp­fän­gern. Über­zeu­gen­de Vor­schlä­ge sind aller­dings Mangelware.

Die ange­hen­den Ren­ten­ge­nera­tio­nen üben sich der­weil in Fata­lis­mus – und wis­sen häu­fig gar nicht, wor­über da eigent­lich schwa­dro­niert wird. Vie­le kön­nen sich viel­leicht noch an die letz­te »radi­ka­le Reform« erin­nern – die Agen­da 2010 des dama­li­gen SPD-Kanz­lers Schrö­der –, die eine zwei­te, »pri­va­te«, staat­lich geför­der­te »kapi­tal­ge­deck­te« Säu­le der bis dahin rein »umla­ge­ge­deck­ten« Alters­si­che­rung pro­pa­gier­te und ein­führ­te. Dies sei nötig, um das Ren­ten­ni­veau, das bis Mit­te der 1990er Jah­re bei über 55 Pro­zent lag auf unter 50 Pro­zent drücken zu kön­nen, damit die Bei­trags­sät­ze halb­wegs sta­bil blei­ben. Dar­an ist eini­ges rich­tig und vie­les falsch.

Die Logik des Gan­zen war – vor­sich­tig for­mu­liert – recht eigen­wil­lig: Man nimmt dem Bür­ger per Ren­ten­for­mel etwas weg, um es ihm dann über die För­de­rung sei­ner pri­va­ten Vor­sor­ge wie­der­zu­ge­ben. Nun ja. Funk­tio­niert hat die »Reform« bekannt­lich nicht. Die Spar­quo­te der Deut­schen blieb näm­lich weit­ge­hend kon­stant, d. h. die Sparer/​Vorsorger haben ihr Geld ledig­lich umge­schich­tet, in viel zu teu­re und inef­fek­ti­ve »Rie­ster-Pro­duk­te«. Von einem Aus­gleich der Absen­kung des Ren­ten­ni­veaus kann kei­ne Rede sein. Den Scha­den haben die jet­zi­gen und zukünf­ti­gen Rentner.

Aber natür­lich gab es auch Pro­fi­teu­re. Im Grun­de war das Gan­ze ein gigan­ti­scher »Boo­ster« für die Ver­si­che­rungs­bran­che. Der schil­lern­de Schrö­der-Freund Car­sten Maschmey­er, für des­sen Fir­ma AWD die pri­va­te Vor­sor­ge in der Fol­ge zu einem Umsatz­schwer­punkt wer­den soll­te, froh­lock­te damals ganz offen und nann­te die Rie­ster-Ren­te »eine Ölquel­le«: »Sie ist ange­bohrt, sie ist rie­sig, und sie wird spru­deln.« Das tat sie dann auch für eine gan­ze Wei­le; inzwi­schen gilt die »Rie­ster-Ren­te« als gescheitert.

Ganz neben­bei wur­den dabei gleich­zei­tig die Arbeit­ge­ber »ent­la­stet« und prak­tisch von der pari­tä­ti­schen Finan­zie­rung der Alters­ab­si­che­rung frei­ge­stellt. An dem Aus­gleich der Ver­sor­gungs­lücke müs­sen sie sich nicht betei­li­gen – wohl aber, über die staat­li­che För­de­rung, all jene Steu­er­zah­ler, die sel­ber nicht »rie­stern«, von den Ren­ten­kür­zun­gen aber gleich­wohl betrof­fen sind.

Und auch für die Archi­tek­ten der Spar­plä­ne, den ehe­ma­li­gen Gewerk­schaf­ter Wal­ter Rie­ster, von Schrö­der zum Arbeits- und Sozi­al­mi­ni­ster ernannt, sowie den all­seits gut beleum­de­te Exper­ten Bert Rürup – bei­de bis dahin kapi­ta­li­sti­scher Umtrie­be unver­däch­tig –, hat sich der poli­ti­sche Ein­satz durch­aus gelohnt. Bert Rürup grün­de­te spä­ter mit Car­sten Maschmey­er eine gemein­sa­me Bera­tungs­fir­ma – Schwer­punkt: Gesund­heits- und Alters­vor­sor­ge. Wal­ter Rie­ster blieb nach sei­nem Aus­tritt aus dem Kabi­nett 2002 wei­ter­hin Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter, war neben die­ser Tätig­keit gern gebuch­ter und gut bezahl­ter Refe­rent bei ver­schie­de­nen Unter­neh­men der Finanz­dienst­lei­stungs­bran­che und wur­de nach sei­nem Aus­schei­den aus dem Bun­des­tag in den Auf­sichts­rat von Uni­on Invest­ment beru­fen, dem dama­li­gen Markt­füh­rer von Rie­ster-geför­der­ten Invest­ment­spar­plä­nen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Und die Rent­ner (die Rent­ne­rin­nen sind hier selbst­ver­ständ­lich mit­ge­meint)? Die wis­sen nicht recht, wie ihnen geschieht und was auf sie zukommt. Sie hören vie­le, sich zum Teil wider­spre­chen­de Bot­schaf­ten, allein, ihnen fehlt der Glau­be. Und jeder Zwei­fel ist berech­tigt. Neh­men wir hier nur mal das belieb­te­ste Zah­len­spiel, die Berech­nung des Ren­ten­ni­veaus, d. h. die ver­meint­lich objek­ti­ven Fak­ten, mit denen wir »auf­ge­klärt« wer­den. Dass das Ren­ten­ni­veau run­ter (und bald auch das Ren­ten­ein­tritts­al­ter rauf) müs­se, dage­gen ist mathe­ma­tisch schwer zu argu­men­tie­ren, es scheint alter­na­tiv­los. Poli­tisch hin­ge­gen sieht die Sache ganz anders aus – und wir haben doch wohl Poli­ti­ker gewählt, nicht Mathe­ma­ti­ker, die das Land nach Sta­ti­stik­ta­feln regieren.

Nun will ich gar nicht auf dem Bon­mot rum­rei­ten, wonach ich nur der Sta­ti­stik traue, die ich selbst gefälscht habe. Nein, auch mit kor­rek­ten Zah­len lässt sich ein dich­ter Nebel erzeu­gen, etwa mit jenem »unbe­stech­li­chen« Ren­ten­ni­veau. Der Wert beschreibt übri­gens nicht, wovon vie­le immer noch aus­zu­ge­hen schei­nen, wie hoch die Ren­te im Ver­hält­nis zum letz­ten Brut­to­ge­halt aus­fal­len wird, son­dern bezieht sich all­ge­mein auf das aktu­el­le Durch­schnitts­ein­kom­men. Das liegt zur­zeit (2024) bei knapp 40.000 Euro und ergibt beim der­zei­ti­gen Ren­ten­ni­veau von 48 Pro­zent eine Stan­dard­ren­te von etwa 18.800 Euro im Jahr, also nicht ein­mal 1.600 Euro monat­lich (Kran­ken- und Pfle­ge­ver­si­che­rung sind hier bereits abge­zo­gen). Jede/​r mag selbst errech­nen, wie sie/​er damit zurechtkäme.

Der Kon­junk­tiv im letz­ten Satz ist bewusst gewählt. Denn tat­säch­lich ist die durch­schnitt­li­che Ren­te in Deutsch­land, laut Ren­ten­ver­si­che­rungs­be­richt 2024, deut­lich gerin­ger, sie lag 2023 bei 1.099 Euro (Män­ner 1.346 Euro, Frau­en 903 Euro). Was hat es also mit dem »gesetz­lich« fixier­ten Ren­ten­ni­veau von 48 Pro­zent auf sich? Es han­delt sich um rei­ne Sta­ti­stik, die mit der Wirk­lich­keit recht wenig zu tun hat. Zur Ori­en­tie­rung in der Pra­xis tau­gen die Daten kaum.

Die Pro­zent­an­ga­ben der Fach­leu­te und Gesetz­ge­ber bezie­hen sich auf einen soge­nann­ten Eck­rent­ner. Ein »Eck­rent­ner« ist jemand, der 45 Jah­re ein durch­schnitt­li­ches Arbeits­ein­kom­men erzielt hat. Fra­gen Sie, lie­be Lese­rin, ver­ehr­ter Leser, ein­mal in Ihrem Bekann­ten­kreis her­um, ob es jeman­den gibt, der da auch nur annä­hernd her­an­reicht. Sie wer­den fest­stel­len, dass der »Eck­rent­ner« wie ein ganz, ganz scheu­es Reh ist. Er lässt sich nur sehr sel­ten blicken und gehört zudem einer aus­ster­ben­den Spe­zi­es an. In der Pra­xis errei­chen nur sehr weni­ge Arbeit­neh­mer 45 Bei­trags­jah­re – und noch viel weni­ger mit einem durch­ge­hend »durch­schnitt­li­chen Ein­kom­men«. Die durch­schnitt­li­che Lebens­ar­beits­zeit aller Ren­ten­ver­si­cher­ten liegt knapp zehn Jah­re dar­un­ter, mit wei­ter abneh­men­der Ten­denz. Die moder­ne Arbeits­welt, inklu­si­ve Arbeits­lo­sig­keit, Job­wech­sel, Erzie­hungs- oder Pfle­ge­zei­ten und einem enor­men Anstieg aller Arten von pre­kä­rer Beschäf­ti­gung, lässt das tat­säch­li­che Ren­ten­ni­veau in Wahr­heit immer wei­ter in den Kel­ler sinken.

Das ist die Rea­li­tät, die bei all der Fak­ten-, Daten- und Sta­ti­stik-Hude­lei von Exper­ten und Poli­ti­kern zumeist eben ver­ne­belt, statt aus­ge­leuch­tet wird. Da wer­den dann lie­ber Gene­ra­tio­nen gegen­ein­an­der aus­ge­spielt – die Alten leben auf Kosten der Jun­gen –, um ver­meint­li­che Spar­zwän­ge zu recht­fer­ti­gen. Dass die Aber­mil­li­ar­den, die statt­des­sen in den Rüstungs­haus­halt flie­ßen, der Gene­ra­tio­nen­ge­rech­tig­keit die­nen, könn­te wohl nur als zyni­scher Witz gemeint sein. Um die »Kano­nen«, die davon gekauft wer­den, zu bedie­nen, braucht es ganz vie­le jun­ge (mög­lichst »wehr­pflich­ti­ge«) Leu­te als »Fut­ter«.

Und noch etwas sei ange­merkt: Ande­re Berufs­grup­pen (Beam­te, Selbst­stän­di­ge) in die all­ge­mei­ne Ren­ten­ver­si­che­rung ein­zu­glie­dern, ist eine abso­lut berech­tig­te For­de­rung. Natür­lich änder­te das nichts an der demo­gra­fi­schen Ent­wick­lung, und es wür­de auch die Finan­zie­rungs­pro­ble­me nicht kurz­fri­stig lösen. Es ist viel­mehr eine Gerech­tig­keits­fra­ge und wäre viel­leicht nicht mathe­ma­tisch, ist aber eben poli­tisch gefor­dert. Die Kosten für die Beam­ten­pen­sio­nen bei­spiels­wei­se, die im Übri­gen sehr viel üppi­ger aus­fal­len als die gesetz­li­chen Ren­ten, sind schon heu­te ein erheb­li­cher – und wei­ter stei­gen­der – Posten in den Lan­des­haus­hal­ten; die Aus­ga­ben belie­fen sich im Jahr 2023 auf knapp 90 Mil­li­ar­den Euro. Finan­ziert wer­den die­se Staats-Aus­ga­ben durch Steu­ern, also zum gro­ßen Teil von gesetz­lich ver­si­cher­ten Arbeit­neh­mern und Rent­nern, die mit­hin nicht nur für das eige­ne Alter vor­sor­gen, son­dern auch für den Ruhe­stand der Beam­ten. Fak­tisch ist also der Alters­vor­sor­ge-Bei­trag um eini­ges höher als der von der Ren­ten­ver­si­che­rungs­an­stalt ein­ge­for­der­te Beitragssatz.

Anstatt aber über all dies ein­mal »poli­tisch«, im Zusam­men­hang zu dis­ku­tie­ren, wird, nicht sel­ten inter­es­sen­ge­lei­tet und Lob­by-gelenkt, »unpo­li­tisch« dif­fe­ren­ziert und, wie ein­gangs erwähnt, mit Zah­len »rum­ge­ei­ert«, die irgend­wie kor­rekt sein mögen, die aber von unse­rer Lebens­wirk­lich­keit all­zu weit ent­fernt sind. Und wir? Wir sto­chern wei­ter im Nebel.