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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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In finsteren Zeiten

»Die Nacht ist ange­bro­chen, und sie hat das Klop­fen nicht gehört.« Das Grau­en kommt auf lei­sen Soh­len. »Sie öff­net die Haus­tür, da ste­hen zwei Män­ner vor der Schei­be des Vor­raums, fast gesichts­los in dem Dun­kel.« Sie fra­gen die Frau, ob ihr Mann zu Hau­se ist, der stell­ver­tre­ten­de Gene­ral­se­kre­tär der Leh­rer­ge­werk­schaft Irlands. Nein, er ist nicht zu Hau­se. »Wür­den Sie ihm sagen, wenn er nach Hau­se kommt, er möch­te uns schnellst­mög­lich anru­fen, hier ist mei­ne Kar­te.« Als die Män­ner gegan­gen sind und die Frau wie­der zurück in die Woh­nung geht, hat sie das Gefühl, »dass etwas ins Haus gekom­men ist, etwas Form­lo­ses und den­noch Wahrgenommenes«.

Sel­ten habe ich schon auf den ersten Sei­ten eines Romans eine solch sti­li­stisch und emo­tio­nal beklem­men­de Ton­set­zung gele­sen, ja, ich glaub­te bei­na­he kör­per­lich zu spü­ren, wie das Dunk­le neben der Frau her­schleicht, dunk­ler als die her­ein­bre­chen­de Nacht im Gar­ten. Die bei­den Zivil­be­am­ten kom­men von dem Gar­da Natio­nal Ser­vices Bureau, dem GNSB, der Geheim­po­li­zei der immer radi­ka­ler und tyran­ni­scher wer­den­den Regie­rung Irlands. Sie macht gera­de Jagd auf Gewerk­schaf­ter, denn die Leh­rer wol­len strei­ken. Die Geheim­po­li­zi­sten wer­den den Mann ver­hö­ren, der immer noch glaubt, Rech­te zu haben. Er darf noch mal nach Hau­se, doch dann ist er ver­schwun­den und kehrt nicht mehr zu sei­ner Fami­lie zurück, wie ande­re Gewerk­schaf­ter auch. Alle haben sie zu spät erkannt, dass bestehen­des Recht und Gesetz nichts gegen­über Kräf­ten bedeu­ten, die sich der Kon­trol­le ent­zie­hen kön­nen, etwa durch eine Not­ver­ord­nung der Regie­rung »zur Auf­recht­erhal­tung der öffent­li­chen Ordnung«.

Was in dem mit­rei­ßen­den Roman Das Lied des Pro­phe­ten, dem vor zwei Jah­ren erschie­ne­nen, jetzt als Taschen­buch vor­lie­gen­den Best­stel­ler des iri­schen Autors Paul Lynch, »Not­ver­ord­nun­gen« sind, das sind in den USA unse­rer Tage die »Dekre­te« des Prä­si­den­ten. Wech­seln wir daher aus dem fik­ti­ven Irland mit sei­ner fik­ti­ven tyran­ni­schen Regie­rung in die rea­len USA der Gegen­wart, wo die rea­le tyran­ni­sche Regie­rung mit Trumpeten­stö­ßen eine gesell­schaft­li­che Kehrt­wen­de erzwin­gen will.

Als die­se Zei­len geschrie­ben wur­den, war es gera­de einen Tag her, dass US-Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Hegs­eth, der sich neu­er­dings »Kriegs­mi­ni­ster« nennt, über 800 Gene­rä­le und Admi­ra­le zu einem Tref­fen auf einen Mili­tär­stütz­punkt in Vir­gi­nia gela­den hat. Den »Krie­ger­geist« will er neu erwecken, nach »Jahr­zehn­ten des Nie­der­gangs«. Als Ursa­che des behaup­te­ten Abglei­tens nennt Hegs­eth von »ver­blen­de­ten und rück­sichts­lo­sen poli­ti­schen Füh­rern« initi­ier­te Pro­gram­me, zum Bei­spiel für Gleich­stel­lung und gegen Dis­kri­mi­nie­rung. Weg damit! Heu­te sei die ein­zi­ge Mis­si­on der Streit­kräf­te, sich auf »Krieg und Sieg« vor­zu­be­rei­ten. Wer die­sen Kurs nicht mit­tra­gen wol­le, habe kei­nen Platz mehr im US-Mili­tär. Kor­re­spon­den­ten berich­te­ten, die auf die US-ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung – und nicht auf den Prä­si­den­ten – ver­ei­dig­ten ober­sten Sol­da­ten hät­ten schwei­gend zugehört.

Auf der­sel­ben Ver­an­stal­tung schwor Trump »das Mili­tär auf wei­te­re Ein­sät­ze im Inne­ren ein«, und dies in einer »faschi­sti­schen« Rhe­to­rik, wie die gelern­te Histo­ri­ke­rin und Jour­na­li­stin Anni­ka Brock­schmidt in einem Gespräch mit dem Deutsch­land­funk urteil­te. Trump warf »radi­ka­len lin­ken Demo­kra­ten« vor, von ihnen regier­te Städ­te wie San Fran­cis­co, Chi­ca­go, New York und Los Ange­les unkon­trol­lier­ter Kri­mi­na­li­tät und Ein­wan­de­rung preis­ge­ge­ben zu haben: »Wir soll­ten eini­ge die­ser gefähr­li­chen Städ­te als Übungs­ge­län­de für die Natio­nal­gar­de, aber auch das Mili­tär nut­zen«, das den »Feind im Inne­ren« bekämp­fen müs­se. Eine noch auf­zu­stel­len­de »schnel­le Ein­satz­trup­pe, die Bür­ger­un­ru­hen nie­der­schla­gen kann«, müs­se »ein­grei­fen, bevor die Lage außer Kon­trol­le gera­te«. Lynchs Irland lässt grü­ßen (Quel­le aller Zita­te: DLF und tageschau.de).

Ist dies schon Wahn­sinn, so hat es doch Metho­de. Dabei ist abseits des MAGA-Lagers (»Make Ame­ri­ca Gre­at Again«) längst Kon­sens, dass Trumps Behaup­tung, Städ­te, die von Bür­ger­mei­stern der Demo­kra­ti­schen Par­tei regiert wür­den, wie­sen höhe­re Kri­mi­na­li­täts­ra­ten auf als repu­bli­ka­nisch geführ­te, kei­nem Fak­ten-Check stand­hält. Es ist eine »Kriegs­er­klä­rung« (Brock­schmidt) an die von den Demo­kra­ten regier­ten Städ­te, und der Prä­si­dent ver­brei­tet dazu fal­sche oder irre­füh­ren­de Nach­rich­ten, Fake News.

Sol­chen Fake News hat in dem neue­sten Buch der Wie­ner Schrift­stel­le­rin Rapha­e­la Edel­bau­er mit dem Titel Die ech­te­re Wirk­lich­keit die vier­köp­fi­ge Akti­vi­sten­grup­pe Alet­heia den Kampf ange­sagt; Alet­heia ist das alt­grie­chi­sche Wort für Wahr­heit. Die Grup­pe begreift sich als »phi­lo­so­phi­sche Ter­ror­or­ga­ni­sa­ti­on im Kampf für die abso­lu­te Wahr­heit«. Für sie sind »Ver­schwö­rungs­theo­rien, Fehl­in­for­ma­tio­nen und alter­na­ti­ve Wahr­hei­ten die größ­ten Pro­ble­me unse­rer Zeit«.

Edel­bau­er ist regel­mä­ßi­gen Lese­rin­nen und Lesern von Ossietzky nicht unbe­kannt: Im März 2023 (Nr. 6) habe ich ihren Roman Die Inkom­men­sur­a­blen vor­ge­stellt, der auf der Longlist des Deut­schen Buch­prei­ses stand, im April 2022 (Nr. 4) Dave, wofür die Autorin den Öster­rei­chi­schen Buch­preis erhielt.

Das neue Buch, das im Sep­tem­ber auf Platz 8 der SWR-Besten­li­ste stand, beginnt mit einem acht Punk­te umfas­sen­den »Mani­fest« der Grup­pe. Unter Punkt 1 heißt es: »Es gibt nur eine Wahr­heit, und sie ist abso­lut. Die­se Wahr­heit ist weder eine sozia­le Kon­struk­ti­on noch sub­jek­tiv oder bloß eine unter vie­len Per­spek­ti­ven auf die Din­ge.« Und unter Punkt 2 steht: »Irra­tio­na­li­tät, Wahn­haf­tig­keit und das Behar­ren auf der ›eige­nen Wahr­heit‹ zie­hen sich durch alle poli­ti­schen Lager und Gesell­schafts­schich­ten und dro­hen das mensch­li­che Zusam­men­le­ben zu zersetzen.«

Sicher­lich ist es eine anspruchs­vol­le Lek­tü­re, denn nicht nur Kant wird erwähnt. Im Mot­to des Buches kom­men der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Pas­cal Engels und der grie­chi­sche Vor­so­kra­ti­ker Par­men­i­des zu Wort. Und in den Dis­kus­sio­nen der Akti­vi­sten­grup­pe geht es immer mal wie­der um phi­lo­so­phi­sche Begrif­fe wie Kon­struk­ti­vis­mus, Dekon­struk­ti­on, Rela­ti­vis­mus, Skep­ti­zis­mus und damit um die Post­mo­der­ne und die Denk­sy­ste­me des fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen Michel Foucault.

Doch kei­ne Angst, trotz aller ab und an auf­tau­chen­der phi­lo­so­phi­scher Ein­spreng­sel und der Kom­ple­xi­tät der Hand­lung ist dies ein sehr gut les­ba­rer, unter­halt­sa­mer Roman, viel­leicht sogar ein Kri­mi. Die im Mit­tel­punkt der Hand­lung ste­hen­de »phi­lo­so­phi­sche Ter­ror­grup­pe« dis­ku­tiert Monat für Monat ihre Pro­ble­me mit der Wahr­heits­fin­dung, denn aus der Theo­rie soll die Pra­xis erwach­sen: der Kampf gegen die soge­nann­ten alter­na­ti­ven Fak­ten und Fake News mit künst­le­ri­schen Inter­ven­tio­nen. Hand­lungs­ort ist der Raum Wien. Doch wozu gibt es als neu­es, fünf­tes Mit­glied der Grup­pe eine Sprengstoffexpertin?

Wer als Lese­rin und Leser eine gewis­se Affi­ni­tät für phi­lo­so­phi­sche The­men mit­bringt, hat sicher­lich einen Vor­teil auf sei­ner Sei­te, doch jedem dürf­te Edel­bau­ers Roman bei der eige­nen Suche nach der »ech­te­ren Wirk­lich­keit« die eine oder ande­re Erkennt­nis ver­mit­teln, denn wie heißt es im schon erwähn­ten »Mani­fest«: »Mögen sich im Lau­fe der Zei­ten auch die Sicht auf die Wahr­heit oder die Metho­den, zu jener zu gelan­gen, geän­dert haben, und mag in vie­len Fäl­len die Sin­nes­be­schrän­kung der Lebe­we­sen nicht hin­rei­chen, zu ihr zu gelan­gen, so ist doch hin­ter den Phä­no­me­nen die abso­lu­te Wahr­heit jen­seits allen Mei­nens vor­han­den. – Wir wis­sen, dass der Auf­stieg des Popu­lis­mus und sei­ner alter­na­ti­ven Fak­ten, dass Ver­schwö­rungs­theo­rien oder das Sabo­tie­ren der Wis­sen­schaft dem unbe­ab­sich­tig­ten Wir­ken des Kreb­ses Post­mo­der­ne zuzu­schrei­ben sind. Des­we­gen stre­ben wir nach einer phi­lo­so­phi­schen Revo­lu­ti­on. Auch wenn sich der Ver­fall in der poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Sphä­re ereig­net, so kann die­ser Ver­fall nicht ohne einen Umsturz der Begrif­fe auf­ge­hal­ten wer­den. Ohne den Anker eines Wahr­heits­be­griffs läuft jede poli­ti­sche Maß­nah­me ins Nichts.«

Ich glau­be, es ist kein Zufall, son­dern gehört zur Signa­tur die­ser Zeit des glo­ba­len Auf­stiegs auto­ri­tä­rer Par­tei­en und Bewe­gun­gen, dass Bücher erschei­nen wie Lynchs kom­ple­xe Dys­to­pie aus dem fik­ti­ven Irland, wo am Ende nur die Flucht übers Meer die Ver­folg­ten, die Wider­ständ­ler vor dem töd­li­chen Zugriff des tota­li­tä­ren Regimes ret­ten kann, oder Edel­bau­ers Roman über die »Bedin­gun­gen unse­rer Gegen­wart und die Grund­la­gen unse­res Den­kens«. Oder, ich erlau­be mir einen Abste­cher, wie der Kino­film One Batt­le After Ano­ther von Paul Tho­mas Ander­son, der am 25. Sep­tem­ber in Deutsch­land star­te­te, der mit der Befrei­ung zahl­rei­cher Insas­sen einer Abschie­be­haft­an­stalt und der Bom­bar­die­rung des Büros eines sich für ein Abtrei­bungs­ver­bot ein­set­zen­den Sena­tors beginnt. Der Film basiert auf dem Roman Vine­land von Tho­mas Pyn­chon, 1993 in der Über­set­zung von Dirk van Gun­ste­ren im Rowohlt Ver­lag erschie­nen. Die Hand­lung spielt in den USA des Jah­res 1984 (!), wäh­rend der Prä­si­dent­schaft Rea­gans, in einer Zeit staat­li­cher Repres­si­on und Ver­fol­gung von Bür­ge­rin­nen und Bür­gern unter dem Deck­man­tel des Kal­ten Krieges.

In Ber­tolt Brechts Svend­bor­ger Gedich­ten aus dem Jahr 1939 heißt es: »In den fin­ste­ren Zei­ten /​ Wird da auch gesun­gen wer­den? /​ Da wird auch gesun­gen wer­den /​ Von den fin­ste­ren Zei­ten.« Lynch hat die­se Zei­len als Mot­to für sei­nen Roman gewählt.

 Rapha­e­la Edel­bau­er: Die ech­te­re Wirk­lich­keit, 442 S., 28 €. – Paul Lynch: Das Lied des Pro­phe­ten, Über­set­zung: Eike Schön­feld, 311 S., 14 €. Bei­de Bücher erschie­nen 2025 im Ver­lag Klett-Cot­ta. – Bei Rowohlt erschien 2024 von Anni­ka Brock­schmidt: Die Brand­stif­ter. Wie Extre­mi­sten die Repu­bli­ka­ni­sche Par­tei übernahmen.