»Die Nacht ist angebrochen, und sie hat das Klopfen nicht gehört.« Das Grauen kommt auf leisen Sohlen. »Sie öffnet die Haustür, da stehen zwei Männer vor der Scheibe des Vorraums, fast gesichtslos in dem Dunkel.« Sie fragen die Frau, ob ihr Mann zu Hause ist, der stellvertretende Generalsekretär der Lehrergewerkschaft Irlands. Nein, er ist nicht zu Hause. »Würden Sie ihm sagen, wenn er nach Hause kommt, er möchte uns schnellstmöglich anrufen, hier ist meine Karte.« Als die Männer gegangen sind und die Frau wieder zurück in die Wohnung geht, hat sie das Gefühl, »dass etwas ins Haus gekommen ist, etwas Formloses und dennoch Wahrgenommenes«.
Selten habe ich schon auf den ersten Seiten eines Romans eine solch stilistisch und emotional beklemmende Tonsetzung gelesen, ja, ich glaubte beinahe körperlich zu spüren, wie das Dunkle neben der Frau herschleicht, dunkler als die hereinbrechende Nacht im Garten. Die beiden Zivilbeamten kommen von dem Garda National Services Bureau, dem GNSB, der Geheimpolizei der immer radikaler und tyrannischer werdenden Regierung Irlands. Sie macht gerade Jagd auf Gewerkschafter, denn die Lehrer wollen streiken. Die Geheimpolizisten werden den Mann verhören, der immer noch glaubt, Rechte zu haben. Er darf noch mal nach Hause, doch dann ist er verschwunden und kehrt nicht mehr zu seiner Familie zurück, wie andere Gewerkschafter auch. Alle haben sie zu spät erkannt, dass bestehendes Recht und Gesetz nichts gegenüber Kräften bedeuten, die sich der Kontrolle entziehen können, etwa durch eine Notverordnung der Regierung »zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung«.
Was in dem mitreißenden Roman Das Lied des Propheten, dem vor zwei Jahren erschienenen, jetzt als Taschenbuch vorliegenden Beststeller des irischen Autors Paul Lynch, »Notverordnungen« sind, das sind in den USA unserer Tage die »Dekrete« des Präsidenten. Wechseln wir daher aus dem fiktiven Irland mit seiner fiktiven tyrannischen Regierung in die realen USA der Gegenwart, wo die reale tyrannische Regierung mit Trumpetenstößen eine gesellschaftliche Kehrtwende erzwingen will.
Als diese Zeilen geschrieben wurden, war es gerade einen Tag her, dass US-Verteidigungsminister Hegseth, der sich neuerdings »Kriegsminister« nennt, über 800 Generäle und Admirale zu einem Treffen auf einen Militärstützpunkt in Virginia geladen hat. Den »Kriegergeist« will er neu erwecken, nach »Jahrzehnten des Niedergangs«. Als Ursache des behaupteten Abgleitens nennt Hegseth von »verblendeten und rücksichtslosen politischen Führern« initiierte Programme, zum Beispiel für Gleichstellung und gegen Diskriminierung. Weg damit! Heute sei die einzige Mission der Streitkräfte, sich auf »Krieg und Sieg« vorzubereiten. Wer diesen Kurs nicht mittragen wolle, habe keinen Platz mehr im US-Militär. Korrespondenten berichteten, die auf die US-amerikanische Verfassung – und nicht auf den Präsidenten – vereidigten obersten Soldaten hätten schweigend zugehört.
Auf derselben Veranstaltung schwor Trump »das Militär auf weitere Einsätze im Inneren ein«, und dies in einer »faschistischen« Rhetorik, wie die gelernte Historikerin und Journalistin Annika Brockschmidt in einem Gespräch mit dem Deutschlandfunk urteilte. Trump warf »radikalen linken Demokraten« vor, von ihnen regierte Städte wie San Francisco, Chicago, New York und Los Angeles unkontrollierter Kriminalität und Einwanderung preisgegeben zu haben: »Wir sollten einige dieser gefährlichen Städte als Übungsgelände für die Nationalgarde, aber auch das Militär nutzen«, das den »Feind im Inneren« bekämpfen müsse. Eine noch aufzustellende »schnelle Einsatztruppe, die Bürgerunruhen niederschlagen kann«, müsse »eingreifen, bevor die Lage außer Kontrolle gerate«. Lynchs Irland lässt grüßen (Quelle aller Zitate: DLF und tageschau.de).
Ist dies schon Wahnsinn, so hat es doch Methode. Dabei ist abseits des MAGA-Lagers (»Make America Great Again«) längst Konsens, dass Trumps Behauptung, Städte, die von Bürgermeistern der Demokratischen Partei regiert würden, wiesen höhere Kriminalitätsraten auf als republikanisch geführte, keinem Fakten-Check standhält. Es ist eine »Kriegserklärung« (Brockschmidt) an die von den Demokraten regierten Städte, und der Präsident verbreitet dazu falsche oder irreführende Nachrichten, Fake News.
Solchen Fake News hat in dem neuesten Buch der Wiener Schriftstellerin Raphaela Edelbauer mit dem Titel Die echtere Wirklichkeit die vierköpfige Aktivistengruppe Aletheia den Kampf angesagt; Aletheia ist das altgriechische Wort für Wahrheit. Die Gruppe begreift sich als »philosophische Terrororganisation im Kampf für die absolute Wahrheit«. Für sie sind »Verschwörungstheorien, Fehlinformationen und alternative Wahrheiten die größten Probleme unserer Zeit«.
Edelbauer ist regelmäßigen Leserinnen und Lesern von Ossietzky nicht unbekannt: Im März 2023 (Nr. 6) habe ich ihren Roman Die Inkommensurablen vorgestellt, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, im April 2022 (Nr. 4) Dave, wofür die Autorin den Österreichischen Buchpreis erhielt.
Das neue Buch, das im September auf Platz 8 der SWR-Bestenliste stand, beginnt mit einem acht Punkte umfassenden »Manifest« der Gruppe. Unter Punkt 1 heißt es: »Es gibt nur eine Wahrheit, und sie ist absolut. Diese Wahrheit ist weder eine soziale Konstruktion noch subjektiv oder bloß eine unter vielen Perspektiven auf die Dinge.« Und unter Punkt 2 steht: »Irrationalität, Wahnhaftigkeit und das Beharren auf der ›eigenen Wahrheit‹ ziehen sich durch alle politischen Lager und Gesellschaftsschichten und drohen das menschliche Zusammenleben zu zersetzen.«
Sicherlich ist es eine anspruchsvolle Lektüre, denn nicht nur Kant wird erwähnt. Im Motto des Buches kommen der französische Philosoph Pascal Engels und der griechische Vorsokratiker Parmenides zu Wort. Und in den Diskussionen der Aktivistengruppe geht es immer mal wieder um philosophische Begriffe wie Konstruktivismus, Dekonstruktion, Relativismus, Skeptizismus und damit um die Postmoderne und die Denksysteme des französischen Philosophen Michel Foucault.
Doch keine Angst, trotz aller ab und an auftauchender philosophischer Einsprengsel und der Komplexität der Handlung ist dies ein sehr gut lesbarer, unterhaltsamer Roman, vielleicht sogar ein Krimi. Die im Mittelpunkt der Handlung stehende »philosophische Terrorgruppe« diskutiert Monat für Monat ihre Probleme mit der Wahrheitsfindung, denn aus der Theorie soll die Praxis erwachsen: der Kampf gegen die sogenannten alternativen Fakten und Fake News mit künstlerischen Interventionen. Handlungsort ist der Raum Wien. Doch wozu gibt es als neues, fünftes Mitglied der Gruppe eine Sprengstoffexpertin?
Wer als Leserin und Leser eine gewisse Affinität für philosophische Themen mitbringt, hat sicherlich einen Vorteil auf seiner Seite, doch jedem dürfte Edelbauers Roman bei der eigenen Suche nach der »echteren Wirklichkeit« die eine oder andere Erkenntnis vermitteln, denn wie heißt es im schon erwähnten »Manifest«: »Mögen sich im Laufe der Zeiten auch die Sicht auf die Wahrheit oder die Methoden, zu jener zu gelangen, geändert haben, und mag in vielen Fällen die Sinnesbeschränkung der Lebewesen nicht hinreichen, zu ihr zu gelangen, so ist doch hinter den Phänomenen die absolute Wahrheit jenseits allen Meinens vorhanden. – Wir wissen, dass der Aufstieg des Populismus und seiner alternativen Fakten, dass Verschwörungstheorien oder das Sabotieren der Wissenschaft dem unbeabsichtigten Wirken des Krebses Postmoderne zuzuschreiben sind. Deswegen streben wir nach einer philosophischen Revolution. Auch wenn sich der Verfall in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre ereignet, so kann dieser Verfall nicht ohne einen Umsturz der Begriffe aufgehalten werden. Ohne den Anker eines Wahrheitsbegriffs läuft jede politische Maßnahme ins Nichts.«
Ich glaube, es ist kein Zufall, sondern gehört zur Signatur dieser Zeit des globalen Aufstiegs autoritärer Parteien und Bewegungen, dass Bücher erscheinen wie Lynchs komplexe Dystopie aus dem fiktiven Irland, wo am Ende nur die Flucht übers Meer die Verfolgten, die Widerständler vor dem tödlichen Zugriff des totalitären Regimes retten kann, oder Edelbauers Roman über die »Bedingungen unserer Gegenwart und die Grundlagen unseres Denkens«. Oder, ich erlaube mir einen Abstecher, wie der Kinofilm One Battle After Another von Paul Thomas Anderson, der am 25. September in Deutschland startete, der mit der Befreiung zahlreicher Insassen einer Abschiebehaftanstalt und der Bombardierung des Büros eines sich für ein Abtreibungsverbot einsetzenden Senators beginnt. Der Film basiert auf dem Roman Vineland von Thomas Pynchon, 1993 in der Übersetzung von Dirk van Gunsteren im Rowohlt Verlag erschienen. Die Handlung spielt in den USA des Jahres 1984 (!), während der Präsidentschaft Reagans, in einer Zeit staatlicher Repression und Verfolgung von Bürgerinnen und Bürgern unter dem Deckmantel des Kalten Krieges.
In Bertolt Brechts Svendborger Gedichten aus dem Jahr 1939 heißt es: »In den finsteren Zeiten / Wird da auch gesungen werden? / Da wird auch gesungen werden / Von den finsteren Zeiten.« Lynch hat diese Zeilen als Motto für seinen Roman gewählt.
Raphaela Edelbauer: Die echtere Wirklichkeit, 442 S., 28 €. – Paul Lynch: Das Lied des Propheten, Übersetzung: Eike Schönfeld, 311 S., 14 €. Beide Bücher erschienen 2025 im Verlag Klett-Cotta. – Bei Rowohlt erschien 2024 von Annika Brockschmidt: Die Brandstifter. Wie Extremisten die Republikanische Partei übernahmen.