Eine Geschichte in neun Kapiteln
Erstes Kapitel
Frühjahr 1998.
Dieser Raum ist kein Ort, um Geborgenheit zu finden. Trotzdem wohnen hier seit Sonntag zehn Menschen – im Musikraum des Gemeindehauses der evangelischen Kreuzkirche in Köln. In der Mitte acht weiße Tische, angeordnet zu einem Viereck. Auf den Fensterbänken trauriges Grün. Die Farbe der Vorhänge irgendetwas zwischen beige und grau und längst verblichen. Es riecht nach Vereinssatzungen und Gruppenarbeit. An den Wänden hilflose Bastelarbeiten – aus Stoff geschnittene Noten, ein grellrotes Papier-Herz … Das alles erbarmungslos ausgeleuchtet im Neonlicht.
Hinten in der Ecke brüllt ein Fernseher. Vorne an den Tischen sitzen schweigend die Flüchtlinge. Frauen, Männer, Kinder. Drei Familien aus Kurdistan. Sie sind nach Deutschland geflohen. Vor zehn Jahren, vor acht Jahren, vor vier Jahren … Nun sollen sie abgeschoben werden in die Türkei. Und warten hier – im Kirchenasyl – auf die Begnadigung.
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Saniye besitzt diese Art von Schönheit, die beim Betrachten wehmütig macht. Sie lächelt. Und sie schaut. Ihre Augen sind groß und dunkel. Sie ist Kurdin und in Deutschland geboren. Acht Jahre ist sie alt. Mit beiden Händen hat sich Saniye an das Treppengeländer gehängt – und versucht nun, hin und her zu schwingen. Wir sind im Keller der Evangelischen Studentengemeinde Köln. In den billigen Zimmern leben sonst nur Studenten. Spielplätze für kleine Mädchen gibt es nicht in diesem Haus. Doch Saniyes Familie wohnt jetzt hier. Befindet sich im Kirchenasyl. Denn die Familie ist illegal« – so wie die Menschen in der Kreuzkirche. Und hat ebenfalls Angst vor der Abschiebung in die Türkei.
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Nippes, Chorweiler, Esch – drei Stadtteile von Köln. Für die Familie Maldur fremde Namen an einem fremden Ort. Ihre Heimat ist Pazarcık in Kurdistan, aber in der Heimat kann die Familie nicht mehr leben. Zwei Cousins von Ahmet Maldur sind von der türkischen Militärpolizei erschossen worden, ein Verwandter seiner Frau Hatice sitzt im Gefängnis. 1990 flohen Ahmet und Hatice, die Eltern, zusammen mit ihren beiden Söhnen nach Deutschland. Doch seit dem 3. April ist die letzte Verlängerung der »Aufenthaltsgestattung zur Durchführung des Asylverfahrens« abgelaufen. Ahmet Maldur zeigt mir das jetzt wertlose grüne Duldungspapier der Ausländerbehörde. Die Abschiebung in die Türkei war schon angekündigt. Glücklicherweise hörte Ahmet Maldur gerade noch rechtzeitig von der Möglichkeit eines Kirchenasyls in Köln. Und wagte noch einmal die Flucht – diesmal aus Krefeld, wo die Familie acht Jahre lang in einem Zimmer des »Asylantenheimes« an der c wohnen musste. Nach den Kirchenunterkünften in Nippes und Chorweiler ist die evangelische Kirchengemeinde in Köln-Esch nun die dritte Station für die vierköpfige Familie. Siebzehn Menschen teilen sich dort drei Zimmer im Gemeindezentrum. An diesem Sonntagnachmittag sind sie heimlich ins Haus der Evangelischen Studentengemeinde gekommen – zum wöchentlichen Plenum aller illegalisierten kurdischen Flüchtlinge aus dem Kölner Kirchenasyl.
Mustafa, der dreizehnjährige Sohn von Ahmet Maldur, bietet sich den deutschen Gästen stolz als Dolmetscher an. »Früher«, sagt er, »als ich nach Deutschland kam, da habe ich gar nichts gewusst von Papieren und Politik, da war ich ja noch ein Kind. Aber jetzt … Ich habe viel gelernt.« Das hat er wohl. Zum Beispiel, dass der Vater im Falle der Abschiebung Angst haben muss vor den Schergen des türkischen Folterstaates. Und auch, dass deutsche Gerichte die Gefährdung in Kurdistan manchmal sogar zugeben, dann aber von »inländischen Fluchtalternativen« faseln und damit die Slums vor Ankara oder Izmir meinen. Lehrjahre eines kurdischen Flüchtlingskindes. Der Junge ist plötzlich still. Beim Nachdenken über die Zukunft zerbröseln ihm die Gedanken.
Zweites Kapitel: Eine Kampagne lernt laufen
Der Aufkleber ist klein, aber hartnäckig. »kein mensch ist illegal« steht darauf, und in Köln klebt er vorwitzig auf Plakatwänden, Verkehrsschildern oder öffentlichen Klowänden, an Toreinfahrten, in der Straßenbahn oder gar auf mancher Behördentür des Ausländeramtes. Auf den ersten Blick ist er eher unscheinbar, dieser Aufkleber, aber das täuscht. Er ist eindringlich und er vermehrt sich.
Denn »Illegale« – Flüchtlinge also, die bleiben, obwohl ihr Aufenthalt nicht (mehr) erlaubt oder geduldet ist – haben begonnen, ihre »Illegalität« öffentlich zu machen. Seit dem 19. Januar suchen und finden sie, unterstützt vom Kölner Netzwerk kein mensch ist illegal, Zuflucht in immer mehr Kirchen Nordrhein-Westfalens. An Abend dieses 19. Januar, es ist schon 23 Uhr, entscheidet das Presbyterium der evangelischen Gemeinde Köln nach einer schwierigen Sitzung, drei kurdische Familien, insgesamt 21 Menschen, für vier Wochen unterzubringen. Menschen ohne weiteres Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik, Menschen, die unser Asylrecht nach der Ablehnung ihrer Asylanträge zu »Illegalen« gemacht hat. Schon zwei Tage später ziehen die Familien, begleitet von Mitgliedern des Netzwerkes, in die Kölner Antoniterkirche. Die erste Station einer Protestaktion, die drei Jahre dauern sollte.
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Ein organisationsaufwendiger, mühseliger, belastender Alltag beginnt. Matratzen müssen besorgt, Decken gebracht, Nahrungsmittel gekauft und zubereitet werden. Kirchen werden eben nicht als Wohnstatt für Menschen erbaut. Es fehlen Duschen oder Umkleideräume für Männer und Frauen, es fehlen Töpfe, Teller und Gläser, es fehlen Spielmöglichkeiten für die Kinder. Spenden werden erbeten, es muss improvisiert werden. Die Mitglieder des Netzwerkes versuchen außerdem, die Verfolgungs- und Fluchtgeschichte jedes Einzelnen aufzuschreiben, organisieren Informationsveranstaltungen, drucken Flugblätter, bitten Ärzte oder Rechtsanwälte um kostenlose Unterstützung. Und es kommen immer mehr kurdische Flüchtlinge, die sich der Protestaktion anschließen wollen, die einen Platz in einer Kirche suchen. Weitere Kirchengemeinden, die bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, müssen also gefunden werden. Denn nur die Kirchen können einen halbwegs sicheren Schutz vor Abschiebung bieten. Noch sind sie moralische Instanzen, gegen die sich staatliche Gewalt aus Sorge vor negativen Reaktionen und Schlagzeilen nur zögerlich wendet. Doch die Kirchen haben Angst vor Dauergästen. »Asyl« gewähren sie in der Regel nur, wenn es eine Chance für weitere rechtliche Schritte gibt, wenn zum Beispiel ein Asylfolgeantrag Aussicht auf Erfolg hat. Aber für die Mehrheit der Flüchtlinge, um die es sich hier handelt, hat das deutsche Asylrecht keine Lücke mehr offengelassen. Hier geht es ums Ganze. Hier geht es um eine rein politische Forderung. Um einen generellen Abschiebestopp in die Türkei. Um Bürger- und Menschenrechte auch für Menschen ohne Papiere. »Sans-Papiers« heißen sie ihn Frankreich. Kirchengemeinde um Kirchengemeinde schließt sich ab dem 19. Januar den Forderungen an, sie alle öffnen den Flüchtlingen ihre Türen. Mal für eine Woche, mal für drei Wochen, mal für sechs. Und im Laufe der Zeit immer wieder. Nicht nur in Köln, auch in Brühl, Düren, Aachen oder Bielefeld. Am Anfang sind es nur evangelische Gemeinden, doch schon bald beteiligen sich auch katholische Kirchen aus Nordrhein-Westfalen. Bisher sind es schon mehr als zwanzig Kirchengemeinden, an deren Pforten der kleine Aufkleber zu finden ist: kein mensch ist illegal. Am Ende, nach drei Jahren, waren es mehr als einhundert, die regelmäßig Zuflucht für insgesamt 475 illegalisierte Flüchtlinge geboten haben.
Die Flüchtlinge ziehen von Kirche zu Kirche, von Stadt zu Stadt. Immer transportiert und begleitet und beschützt von Mitgliedern des Kölner Netzwerk kein mensch ist illegal. Deutschland erlebt sein erstes und – wie wir heute wissen – einziges Wanderkirchenasyl.
Drittes Kapitel: Wenn das Warten sich im Kreis dreht
Sonntagabend im Gemeindehaus in der Kreuzkirche. In die erstarrte Gruppe ist ein wenig Leben gekommen. In der Küche gegenüber vom Musikraum kocht die 17jährige Binay Tee. Die Männer haben sich Zigaretten gedreht. Mein Besuch ist eine willkommene Abwechslung, eine Gelegenheit, zu reden. Denn untereinander ist jedes Wort längst gesagt. Neue Geschichten gibt es nicht, seit Wochen nur noch die immer gleiche Geschichte des gemeinsamen Wartens, der gemeinsamen Wanderung durch die verschiedenen Kirchen. Für den 16jährigen Ali Hassan und seine Eltern ist es schon die fünfte oder sechste, er weiß es nicht mehr genau. »Und immer müssen wir wieder weg.«
Vier Matratzen sind mit Hilfe der SSK, der Sozialistischen Selbsthilfe Köln, am Nachmittag von der Antoniterkirche in den Musikraum der Kreuzkirche getragen worden, vier Matratzen für zehn Menschen – beinahe ihre ganze derzeitige Habe. Auf eine der Matratzen neben der Heizung hat sich Binays Mutter zurückgezogen, um zu stricken. »Die Frauen machen Handarbeiten den ganzen Tag«, erzählt Binay. »Wir können nichts tun« – »Immer drin«, ergänzt Güley Dönekli, »nie draußen. Das ist schlimm.«
Draußen ist es zu gefährlich. An den am Wanderkirchenasyl beteiligten Kirchen fahren ständig Polizeiwagen vorbei. Wohl in der Hoffnung, dass ein Flüchtling einen Fehler macht und das sichere Asyl für einen Moment verlässt, um frische Luft zu schnappen oder den Himmel zu sehen.
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Das Übungsklavier der Organistin steht nun vorübergehend auf der Kirchenempore, der Chor der Kirchengemeinde, der sich sonst im Musikraum zur Probe trifft, muss in den kommenden drei Wochen seine Stimmen an einem anderen Ort erschallen lassen. Wo, weiß Pfarrer Endemann noch nicht. Gerade kommt er die Treppe hoch – mit einer Iso-Matte unter dem Arm. Den 60jährigen Hüseyin Donat, Binays Vater, schmerzt der Rücken, er hat um zusätzlichen Schutz vor dem kalten Boden gebeten.
Pfarrer Endemann ist noch unsicher im Umgang mit den Flüchtlingen in seinem Gemeindehaus, das spürt man. Morgen müsse erst einmal ein Plan gemacht werden für die Gruppen, die regelmäßig den Musikraum nutzen und die Küche. Zwar ist es schon das zweite Mal, dass die Kreuzkirche im Rahmen der Protestaktion eine Gruppe von Flüchtlingen aufnimmt, aber die beim ersten Mal zugestandene eine Woche war überschaubarer und außerdem gab es damals noch eine freie Wohnung im zweiten Stock und damit mehr Abgeschlossenheit, mehr Räume und eine Dusche. Die gibt es jetzt nicht. »Wir werden uns schon aneinander gewöhnen«, sucht Pfarrer Endemann nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch sich selbst zu beruhigen. Den von Binay angebotenen Tee schlägt er jedoch aus – »auf gute Nachbarschaft« murmelt er, dann ist er verschwunden. Und so suchen die Flüchtlinge eine Zuhörerin in mir. Sie sind eigentlich zu müde, zu hoffnungslos, um das Unabänderliche immer wieder aufzurühren. Und doch müssen sie reden. Müssen sie jedem Besucher dieselben Geschichten erzählen. Von dem Krieg, vor dem sie geflohen sind; von der Heimat, die sie nicht haben; von verwüsteten Dörfern; von ermordeten Verwandten oder von solchen im Gefängnis; von Wittenberg, Olpe oder Euskirchen, ihren bisherigen Aufenthaltsorten in Deutschland vor dem Kirchenasyl; von der Arbeit, die sie mal hatten, auf dem Bau oder in der Küche – »da haben wir alles selbst gezahlt, wie die Deutschen«. – »Und jetzt schicken sie uns weg, einfach weg.«
Ali Dönekli kramt in seinen Taschen, holt ein zerknittertes Stück Papier hervor. Würde er verhaftet, müsste er vor der Abschiebung in die Türkei hier in Deutschland noch eine Gefängnisstrafe von vierzig Tagen absitzen. Das Gerichtsurteil für die Teilnahme an einer verbotenen PKK-Demonstration in Dortmund. – »Wir hatten Angst in Kurdistan, jetzt haben wir Angst hier.«
Viertes Kapitel: Was die Wirklichkeit verschweigt
Solange man nur überlebt, findet das Leben nicht statt. In einer solchen Zeit wird man weder jünger noch älter. In alle Richtungen gezerrt. Wundgewartet. Wohin wird es gehen? Die Zuflucht eine Hoffnung und eine Strafe. Denn die Macht hat längst genommen, was doch niemandem gehört.
Fünftes Kapitel: Einige Worte über das Netzwerk kein mensch ist illegal
Das Netzwerk wurde 1997 auf der documenta X in Kassel gegründet. In wenigen Wochen schlossen sich mehr als 200 Gruppen und Organisationen (auch aus kirchlichen Kreisen) sowie Tausende von Einzelpersonen dem Gründungsmanifest an, einem Appell. in dem dazu aufgerufen wurde, Flüchtlinge und Migranten unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus »bei der Ein- oder Weiterreise zu unterstützen«, Migranten »Arbeit und Papiere« zu verschaffen, ihnen » medizinische Versorgung, Schule und Ausbildung, Unterkunft und materielles Überleben zu gewährleisten« – gemeint war: Menschen, denen alle oder fast alle Rechte genommen werden, im Zweifel auch gegen geltendes »Recht« Recht zu verschaffen. Eine Akzeptanz für Aktionsformen, bei denen der Anspruch der staatlichen Exekutive, Menschen abzuschieben, in Frage gestellt oder bekämpft wurde, gab es 1997 bis weit in konservative Kreise hinein. Mitgefühl oder der Kampf für einen Rechtsstaat, der das Recht schützt, galt damals noch nicht als gefährlich. Beschäftigte aber den Verfassungsschutz, der die Gründung von kein mensch ist illegal mit den Worten kommentierte: »Es bilden sich Bündnisse von kirchlichen und antirassistischen Gruppen, die bisher ein distanziertes Verhältnis zueinander hatten.« Gut beobachtet! Die Menschen, die 1997 die Kölner Gruppe von kein mensch ist illegal gründeten, kamen überwiegend aus der links-autonomen Szene. Mit aktiven Kirchengemeindemitgliedern hatten wir in unserer Blase nichts zu tun. Was sich schnell änderte. Die Unterbringung, die Betreuung, die Verköstigung der Flüchtlinge in den Kirchengemeinen wäre ohne das große Engagement vieler Gemeindemitglieder nicht möglich gewesen. Sie kochten Eintöpfe, holten Hunderte von Kuchen aus den Backröhren, spielten mit den Kindern, bereiteten die Unterkünfte vor und räumten sie gemeinsam mit uns wieder auf; sie baten andere Gemeindemitglieder um Spenden: Lebensmittel, Spielzeug, Geld…
Jede Woche trafen wir uns in Köln zu einem gemeinsamen Plenum: Wir vom linken Netzwerk, die beim Wanderkirchenasyl aktiven Kölner Gemeindemitglieder, die evangelischen und katholischen Pfarrer aller in Köln beteiligten Gemeinden – oft 200 Menschen und mehr. Muslime und Christen und radikale Atheisten. Welten prallten aufeinander, Menschen, die sich anfangs misstrauisch oder mindestens unsicher beäugten. Kleidungsstile und Glaubensfragen, ideologische Überzeugungen und Lebensformen, nichts passte zueinander. Und am Ende doch!
Es gab Streit und Missverständnisse, auch im übertragenen Sinn musste ständig Sprache übersetzt werden, aber wir lernten interessante und liebenswerte Menschen kennen, lachten immer öfter über unsere Unterschiedlichkeiten, respektierten uns. Wir hatten eine gemeinsame Aufgabe und vereinten uns über unsere gemeinsamen Überzeugungen: Kein Mensch ist illegal, jeder hat das Recht auf Würde und einen geschützten Platz auf der Welt, jeder hat die gleichen Rechte.
Ich bin froh über die Jahre mit dem Wanderkirchenasyl. Es war das größte soziale Experiment meines Lebens, ein gelungenes Modell für ein mögliches besseres Miteinander. Ich befürchte aber, dass es heute nicht mehr möglich wäre. Die dafür nötige Toleranz und Offenheit, die Wahrnehmung der wirklichen Probleme, statt der verbissenen Konzentration auf den eigenen woken Bauchnabel, das Selberdenken als Schutz vor den täglichen Manipulationen durch Medien und Herrschaftssprache sind gerade nicht zu finden.
Sechstes Kapitel: Das Alphabet des Erfolges
An jedem Dienstag treffen sich die Mitglieder der Kölner Kampagne kein mensch ist illegal zu einem eigenen Plenum. Hier gibt es Informationen aus den Arbeitsgruppen - der Rechtsgruppe, der Gruppe für die medizinische Betreuung oder der für die Suche nach weiteren Kirchengemeinden. Hier werden gemeinsame Aktionen geplant und Diskussionen über die politischen Perspektiven geführt. Wie wird es weitergehen mit der Kampagne, was ist, wenn sie keinen Erfolg hat? Aber was heißt Erfolg, wie buchstabiert man ihn?
An manchen Abenden ist die Stimmung im Plenum angestrengt, geradezu gereizt. Wer wagt zu fragen, wie lange die Protestaktion den Beteiligten zuzumuten ist? Den Flüchtlingen, getrieben von einer Kirche in die nächste, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Beschäftigungsmöglichkeiten, ohne das kleinste bisschen Geborgenheit. Aber auch den vielen ehrenamtlichen Helfern aus den verschiedenen Kirchengemeinden. Und uns selbst. Halten wir durch? Wie lange müssen wir durchhalten? Wann müssen wir einsehen, dass unser Ziel vielleicht nicht zu erreichen ist? Aber was ist unser Ziel, wie nennen wir es?
Kaum jemand in der Kampagne glaubt wirklich, dass sich die nordrhein-westfälische Landesregierung zu einem generellen Abschiebestopp für kurdische Flüchtlinge entschließen wird. Und selbst wenn – länger als ein halbes Jahr liegt eine solche Entscheidung sowieso nicht in ihrer Macht, dann hat die bundesdeutsche Asylgesetzgebung das letzte Wort des Bundesinnenministers vorgesehen. Also lieber alle Hoffnung auf eine spezielle humanitäre Lösung richten – für jene Flüchtlinge, die sich derzeit im Kirchenasyl befinden? Also lieber Hoffnung auf eine Art Sonder-Duldung, weil ihre Teilnahme an der Aktion sie in der Türkei zusätzlich gefährden würde? Auf eine kollektive außerjuristische Anerkennung von Nachfluchtgründen also?
Nachfluchtgründe – auch so ein Begriff aus dem Wörterbuch des neudeutschen Unmenschen, in diesem Fall vorgelegt im Asylrecht. Es gesteht zu, dass bestimmte Aktivitäten außerhalb des Heimatlandes bei einer Rückkehr (zusätzlich) die Gefahr einer politischen Verfolgung bedeuten können. Doch diese »Nachfluchtgründe« dürfen nicht fahrlässig herbeigeführt werden und Fahrlässigkeit wird in diesem Fall politisch definiert. Rechtsanwälte schätzen, dass vielleicht drei oder vier Hauptaktivisten unter den kurdischen Flüchtlingen mit einer solchen Begründung eine Chance für ein erneutes Asylverfahren und eine Anerkennung hätten.
Doch was ist mit den anderen Flüchtlingen? Ist im Falle von Abschiebungen das, was auf deutschem Boden nicht als »Nachfluchtgrund« gilt, in der Türkei - um es zynisch zu formulieren – ein Nach-Foltergrund? Soll die Kampagne also weiter auf irgendeine gemeinsame Lösung für alle drängen oder doch lieber nach so vielen Einzelfalllösungen wie möglich suchen? Oder beides? Das eine still, das andere öffentlich?
Wo liegt unsere Verantwortung? Und wo endet sie?
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Die kurdischen Familien haben sich entschieden, beherbergt in immer wechselnden Kirchengemeinden, gegen die Abschiebung aus der Bundesrepublik Deutschland zu protestieren. Sie sind dadurch gezwungen, die enorme psychische Belastung ständig wechselnder Unterkünfte auf sich zu nehmen und sich der Gefahr des staatlichen Zugriffs auszusetzen. Aber es geht um ihr Leben, um eine Chance auf Zukunft. Die Kirchengemeinden wiederum, die sich entschieden haben, den bedrängen Menschen beizustehen, müssen zunehmenden innerkirchlichen und staatlich politischen Druck auszuhalten. Aber sie haben längst begriffen, dass Beten nicht reicht. Und wir? Die kleine Kampagne kein mensch ist illegal, die das ganze Wanderkirchenasyl organisiert? Wir müssen einfach nur weitermachen. Was wir dann auch tun. Übrigens ständig beobachtet vom Verfassungsschutz.
Siebtes Kapitel: Was die Wirklichkeit verschweigt
Aus der als illegal definierten Existenz in die Öffentlichkeit gehen. Das Gesicht zeigen. Den Häschern, aber auch den Helfern. Sich anschauen. Sich erkennen. Und auch erkennen, dass wir die erneute Aufteilung in Passinhaber und Papierlose nicht zulassen dürfen, aber vielleicht zulassen werden.
Das ist es, was die Wirklichkeit verschweigt.
Achtes Kapitel: Wir tauchen auf
Die Vorbereitungen laufen seit Wochen und die Parole lautet »Wir tauchen auf«.
Um die Öffentlichkeit mit einer spektakulären Aktion erneut auf die Situation der zu dieser Zeit rund 130 kurdischen Flüchtlinge im nordrhein-westfälischen Kirchenasyl aufmerksam zu machen und der Forderung nach einem Abschiebestopp in die Türkei Nachdruck zu verleihen, startet am 24. April ein Schiff von Köln nach Düsseldorf.
Mitreisen werden die Flüchtlinge, um die es hier geht, mitreisen werden mehr als hundert UnterstützerInnen der Kampagne kein mensch ist illegal, mitreisen werden Kirchenvertreter und Anwälte und Journalisten, mitreisen werden Kabarettisten, Musiker, Schauspieler – und Parteipolitiker. Barbara Steffens, Sprecherin des Landesvorstandes der Grünen in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel, oder Ulla Jelpke, die gerade in Nordrhein-Westfalen zur PDS-Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl gekürt werden soll. Ziel sind das Innenministerium und die Fraktionen im Düsseldorfer Landtag, denen zwei Delegationen – bestehend aus Kirchenvertretern, Anwälten und Flüchtlingen Material zur Menschenrechtssituation in der Türkei und Unterschriftenlisten übergeben werden. Begleitet werden Schiff und Demonstration von zahlreichen Solidaritätserklärungen – formuliert u. a. von den Schriftstellern Günter Grass und Ralph Giordano.
Auf den Rheinuferstraßen begleiten uns außerdem zahlreiche Polizeiwagen. Ein riesiges Transparent schickt ihnen unsere Botschaft: kein mensch ist illegal.
Neuntes Kapitel: Nur ein wenig Sand im Getriebe?
Das Wanderkirchenasyl hatte nach drei Jahren von den insgesamt 475 teilnehmenden illegalisierten kurdischen Flüchtlingen sechs Menschen durch Abschiebungen verloren. Die anderen lebten 2001 weiter hier, die meisten nach wie vor unter prekären Verhältnissen: zweihundert in städtischen Flüchtlingsunterkünften, weil ihre Asyl- oder Aufenthaltsbegehren erneut und noch immer Fall für Fall geprüft wurden. weitere hundertdreißig in den Kirchen, in unsicherer illegalisierter Existenz, ohne Anerkennung als Bürgerkriegsflüchtlinge. Immerhin: Das Wanderkirchenasyl war Sand im Getriebe der Abschiebemaschinerie, doch wahrscheinlich nicht mehr. Zwar konnten wir »unsere« Flüchtlinge bisher mit Hilfe von Kirchen und Anwälten und auch vielen Medien vor Abschiebung schützen, aber im Jahr 2000 stieg die Zahl der Abschiebungen von anderen Flüchtlingen auf eine neue Höchstzahl: Mehr als 35.000 Menschen wurden gegen ihren Willen zurück in das Elend geschickt, vor dem sie geflohen waren, darunter auch die sechs Flüchtlinge aus dem Wanderkirchenasyl. Nach drei Jahren, das gehört ebenfalls zu dieser Geschichte, waren die Aktivisten des Wanderkirchenasyls überwiegend müde geworden, auch deshalb, weil sie zu wenige waren und sich die Medien längst nicht mehr für die Protestaktion interessierte, die zermürbenden Spielchen des Staates also nicht mehr unter öffentlicher kritischer Beobachtung standen.
Am Ende, von heute betrachtet, haben die allermeisten Teilnehmer am Wanderkirchenasyl irgendeine Form von Aufenthaltserlaubnis erhalten. Also doch ein Erfolg? Wohl nur dann, wenn endlich immer mehr Menschen aufstehen und sich für den Kampf um unteilbare Menschenrechte zusammenschließen.
Die Hoffnung bleibt.