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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kein Mensch ist illegal – oder: Was die Wirklichkeit verschweigt

Eine Geschich­te in neun Kapiteln

Erstes Kapi­tel
Früh­jahr 1998.

Die­ser Raum ist kein Ort, um Gebor­gen­heit zu fin­den. Trotz­dem woh­nen hier seit Sonn­tag zehn Men­schen – im Musik­raum des Gemein­de­hau­ses der evan­ge­li­schen Kreuz­kir­che in Köln. In der Mit­te acht wei­ße Tische, ange­ord­net zu einem Vier­eck. Auf den Fen­ster­bän­ken trau­ri­ges Grün. Die Far­be der Vor­hän­ge irgend­et­was zwi­schen beige und grau und längst ver­bli­chen. Es riecht nach Ver­eins­sat­zun­gen und Grup­pen­ar­beit. An den Wän­den hilf­lo­se Bastel­ar­bei­ten – aus Stoff geschnit­te­ne Noten, ein grell­ro­tes Papier-Herz … Das alles erbar­mungs­los aus­ge­leuch­tet im Neonlicht.

Hin­ten in der Ecke brüllt ein Fern­se­her. Vor­ne an den Tischen sit­zen schwei­gend die Flücht­lin­ge. Frau­en, Män­ner, Kin­der. Drei Fami­li­en aus Kur­di­stan. Sie sind nach Deutsch­land geflo­hen. Vor zehn Jah­ren, vor acht Jah­ren, vor vier Jah­ren … Nun sol­len sie abge­scho­ben wer­den in die Tür­kei. Und war­ten hier – im Kir­chen­asyl – auf die Begnadigung.

*

Sani­ye besitzt die­se Art von Schön­heit, die beim Betrach­ten weh­mü­tig macht. Sie lächelt. Und sie schaut. Ihre Augen sind groß und dun­kel. Sie ist Kur­din und in Deutsch­land gebo­ren. Acht Jah­re ist sie alt. Mit bei­den Hän­den hat sich Sani­ye an das Trep­pen­ge­län­der gehängt – und ver­sucht nun, hin und her zu schwin­gen. Wir sind im Kel­ler der Evan­ge­li­schen Stu­den­ten­ge­mein­de Köln. In den bil­li­gen Zim­mern leben sonst nur Stu­den­ten. Spiel­plät­ze für klei­ne Mäd­chen gibt es nicht in die­sem Haus. Doch Sani­yes Fami­lie wohnt jetzt hier. Befin­det sich im Kir­chen­asyl. Denn die Fami­lie ist ille­gal« – so wie die Men­schen in der Kreuz­kir­che. Und hat eben­falls Angst vor der Abschie­bung in die Türkei.

*

Nip­pes, Chor­wei­ler, Esch – drei Stadt­tei­le von Köln. Für die Fami­lie Mal­dur frem­de Namen an einem frem­den Ort. Ihre Hei­mat ist Pazar­cık in Kur­di­stan, aber in der Hei­mat kann die Fami­lie nicht mehr leben. Zwei Cou­sins von Ahmet Mal­dur sind von der tür­ki­schen Mili­tär­po­li­zei erschos­sen wor­den, ein Ver­wand­ter sei­ner Frau Hati­ce sitzt im Gefäng­nis. 1990 flo­hen Ahmet und Hati­ce, die Eltern, zusam­men mit ihren bei­den Söh­nen nach Deutsch­land. Doch seit dem 3. April ist die letz­te Ver­län­ge­rung der »Auf­ent­halts­ge­stat­tung zur Durch­füh­rung des Asyl­ver­fah­rens« abge­lau­fen. Ahmet Mal­dur zeigt mir das jetzt wert­lo­se grü­ne Dul­dungs­pa­pier der Aus­län­der­be­hör­de. Die Abschie­bung in die Tür­kei war schon ange­kün­digt. Glück­li­cher­wei­se hör­te Ahmet Mal­dur gera­de noch recht­zei­tig von der Mög­lich­keit eines Kir­chen­asyls in Köln. Und wag­te noch ein­mal die Flucht – dies­mal aus Kre­feld, wo die Fami­lie acht Jah­re lang in einem Zim­mer des »Asy­lan­ten­hei­mes« an der c woh­nen muss­te. Nach den Kir­chen­un­ter­künf­ten in Nip­pes und Chor­wei­ler ist die evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­mein­de in Köln-Esch nun die drit­te Sta­ti­on für die vier­köp­fi­ge Fami­lie. Sieb­zehn Men­schen tei­len sich dort drei Zim­mer im Gemein­de­zen­trum. An die­sem Sonn­tag­nach­mit­tag sind sie heim­lich ins Haus der Evan­ge­li­schen Stu­den­ten­ge­mein­de gekom­men – zum wöchent­li­chen Ple­num aller ille­ga­li­sier­ten kur­di­schen Flücht­lin­ge aus dem Köl­ner Kirchenasyl.

Musta­fa, der drei­zehn­jäh­ri­ge Sohn von Ahmet Mal­dur, bie­tet sich den deut­schen Gästen stolz als Dol­met­scher an. »Frü­her«, sagt er, »als ich nach Deutsch­land kam, da habe ich gar nichts gewusst von Papie­ren und Poli­tik, da war ich ja noch ein Kind. Aber jetzt … Ich habe viel gelernt.« Das hat er wohl. Zum Bei­spiel, dass der Vater im Fal­le der Abschie­bung Angst haben muss vor den Scher­gen des tür­ki­schen Fol­ter­staa­tes. Und auch, dass deut­sche Gerich­te die Gefähr­dung in Kur­di­stan manch­mal sogar zuge­ben, dann aber von »inlän­di­schen Flucht­al­ter­na­ti­ven« faseln und damit die Slums vor Anka­ra oder Izmir mei­nen. Lehr­jah­re eines kur­di­schen Flücht­lings­kin­des. Der Jun­ge ist plötz­lich still. Beim Nach­den­ken über die Zukunft zer­brö­seln ihm die Gedanken.

 Zwei­tes Kapi­tel: Eine Kam­pa­gne lernt laufen
Der Auf­kle­ber ist klein, aber hart­näckig. »kein mensch ist ille­gal« steht dar­auf, und in Köln klebt er vor­wit­zig auf Pla­kat­wän­den, Ver­kehrs­schil­dern oder öffent­li­chen Klo­wän­den, an Tor­ein­fahr­ten, in der Stra­ßen­bahn oder gar auf man­cher Behör­den­tür des Aus­län­der­am­tes. Auf den ersten Blick ist er eher unschein­bar, die­ser Auf­kle­ber, aber das täuscht. Er ist ein­dring­lich und er ver­mehrt sich.

Denn »Ille­ga­le« – Flücht­lin­ge also, die blei­ben, obwohl ihr Auf­ent­halt nicht (mehr) erlaubt oder gedul­det ist – haben begon­nen, ihre »Ille­ga­li­tät« öffent­lich zu machen. Seit dem 19. Janu­ar suchen und fin­den sie, unter­stützt vom Köl­ner Netz­werk kein mensch ist ille­gal, Zuflucht in immer mehr Kir­chen Nord­rhein-West­fa­lens. An Abend die­ses 19. Janu­ar, es ist schon 23 Uhr, ent­schei­det das Pres­by­te­ri­um der evan­ge­li­schen Gemein­de Köln nach einer schwie­ri­gen Sit­zung, drei kur­di­sche Fami­li­en, ins­ge­samt 21 Men­schen, für vier Wochen unter­zu­brin­gen. Men­schen ohne wei­te­res Auf­ent­halts­recht in der Bun­des­re­pu­blik, Men­schen, die unser Asyl­recht nach der Ableh­nung ihrer Asyl­an­trä­ge zu »Ille­ga­len« gemacht hat. Schon zwei Tage spä­ter zie­hen die Fami­li­en, beglei­tet von Mit­glie­dern des Netz­wer­kes, in die Köl­ner Anto­ni­ter­kir­che. Die erste Sta­ti­on einer Pro­test­ak­ti­on, die drei Jah­re dau­ern sollte.

*

Ein orga­ni­sa­ti­ons­auf­wen­di­ger, müh­se­li­ger, bela­sten­der All­tag beginnt. Matrat­zen müs­sen besorgt, Decken gebracht, Nah­rungs­mit­tel gekauft und zube­rei­tet wer­den. Kir­chen wer­den eben nicht als Wohn­statt für Men­schen erbaut. Es feh­len Duschen oder Umklei­de­räu­me für Män­ner und Frau­en, es feh­len Töp­fe, Tel­ler und Glä­ser, es feh­len Spiel­mög­lich­kei­ten für die Kin­der. Spen­den wer­den erbe­ten, es muss impro­vi­siert wer­den. Die Mit­glie­der des Netz­wer­kes ver­su­chen außer­dem, die Ver­fol­gungs- und Flucht­ge­schich­te jedes Ein­zel­nen auf­zu­schrei­ben, orga­ni­sie­ren Infor­ma­ti­ons­ver­an­stal­tun­gen, drucken Flug­blät­ter, bit­ten Ärz­te oder Rechts­an­wäl­te um kosten­lo­se Unter­stüt­zung. Und es kom­men immer mehr kur­di­sche Flücht­lin­ge, die sich der Pro­test­ak­ti­on anschlie­ßen wol­len, die einen Platz in einer Kir­che suchen. Wei­te­re Kir­chen­ge­mein­den, die bereit sind, Flücht­lin­ge auf­zu­neh­men, müs­sen also gefun­den wer­den. Denn nur die Kir­chen kön­nen einen halb­wegs siche­ren Schutz vor Abschie­bung bie­ten. Noch sind sie mora­li­sche Instan­zen, gegen die sich staat­li­che Gewalt aus Sor­ge vor nega­ti­ven Reak­tio­nen und Schlag­zei­len nur zöger­lich wen­det. Doch die Kir­chen haben Angst vor Dau­er­gä­sten. »Asyl« gewäh­ren sie in der Regel nur, wenn es eine Chan­ce für wei­te­re recht­li­che Schrit­te gibt, wenn zum Bei­spiel ein Asyl­fol­ge­an­trag Aus­sicht auf Erfolg hat. Aber für die Mehr­heit der Flücht­lin­ge, um die es sich hier han­delt, hat das deut­sche Asyl­recht kei­ne Lücke mehr offen­ge­las­sen. Hier geht es ums Gan­ze. Hier geht es um eine rein poli­ti­sche For­de­rung. Um einen gene­rel­len Abschie­be­stopp in die Tür­kei. Um Bür­ger- und Men­schen­rech­te auch für Men­schen ohne Papie­re. »Sans-Papiers« hei­ßen sie ihn Frank­reich. Kir­chen­ge­mein­de um Kir­chen­ge­mein­de schließt sich ab dem 19. Janu­ar den For­de­run­gen an, sie alle öff­nen den Flücht­lin­gen ihre Türen. Mal für eine Woche, mal für drei Wochen, mal für sechs. Und im Lau­fe der Zeit immer wie­der. Nicht nur in Köln, auch in Brühl, Düren, Aachen oder Bie­le­feld. Am Anfang sind es nur evan­ge­li­sche Gemein­den, doch schon bald betei­li­gen sich auch katho­li­sche Kir­chen aus Nord­rhein-West­fa­len. Bis­her sind es schon mehr als zwan­zig Kir­chen­ge­mein­den, an deren Pfor­ten der klei­ne Auf­kle­ber zu fin­den ist: kein mensch ist ille­gal. Am Ende, nach drei Jah­ren, waren es mehr als ein­hun­dert, die regel­mä­ßig Zuflucht für ins­ge­samt 475 ille­ga­li­sier­te Flücht­lin­ge gebo­ten haben.

Die Flücht­lin­ge zie­hen von Kir­che zu Kir­che, von Stadt zu Stadt. Immer trans­por­tiert und beglei­tet und beschützt von Mit­glie­dern des Köl­ner Netz­werk kein mensch ist ille­gal. Deutsch­land erlebt sein erstes und – wie wir heu­te wis­sen – ein­zi­ges Wanderkirchenasyl.

Drit­tes Kapi­tel: Wenn das War­ten sich im Kreis dreht
Sonn­tag­abend im Gemein­de­haus in der Kreuz­kir­che. In die erstarr­te Grup­pe ist ein wenig Leben gekom­men. In der Küche gegen­über vom Musik­raum kocht die 17jährige Binay Tee. Die Män­ner haben sich Ziga­ret­ten gedreht. Mein Besuch ist eine will­kom­me­ne Abwechs­lung, eine Gele­gen­heit, zu reden. Denn unter­ein­an­der ist jedes Wort längst gesagt. Neue Geschich­ten gibt es nicht, seit Wochen nur noch die immer glei­che Geschich­te des gemein­sa­men War­tens, der gemein­sa­men Wan­de­rung durch die ver­schie­de­nen Kir­chen. Für den 16jährigen Ali Hassan und sei­ne Eltern ist es schon die fünf­te oder sech­ste, er weiß es nicht mehr genau. »Und immer müs­sen wir wie­der weg.«

Vier Matrat­zen sind mit Hil­fe der SSK, der Sozia­li­sti­schen Selbst­hil­fe Köln, am Nach­mit­tag von der Anto­ni­ter­kir­che in den Musik­raum der Kreuz­kir­che getra­gen wor­den, vier Matrat­zen für zehn Men­schen – bei­na­he ihre gan­ze der­zei­ti­ge Habe. Auf eine der Matrat­zen neben der Hei­zung hat sich Binays Mut­ter zurück­ge­zo­gen, um zu stricken. »Die Frau­en machen Hand­ar­bei­ten den gan­zen Tag«, erzählt Binay. »Wir kön­nen nichts tun« – »Immer drin«, ergänzt Güley Döne­kli, »nie drau­ßen. Das ist schlimm.«

Drau­ßen ist es zu gefähr­lich. An den am Wan­der­kir­chen­asyl betei­lig­ten Kir­chen fah­ren stän­dig Poli­zei­wa­gen vor­bei. Wohl in der Hoff­nung, dass ein Flücht­ling einen Feh­ler macht und das siche­re Asyl für einen Moment ver­lässt, um fri­sche Luft zu schnap­pen oder den Him­mel zu sehen.

*

Das Übungs­kla­vier der Orga­ni­stin steht nun vor­über­ge­hend auf der Kir­chen­em­po­re, der Chor der Kir­chen­ge­mein­de, der sich sonst im Musik­raum zur Pro­be trifft, muss in den kom­men­den drei Wochen sei­ne Stim­men an einem ande­ren Ort erschal­len las­sen. Wo, weiß Pfar­rer Ende­mann noch nicht. Gera­de kommt er die Trep­pe hoch – mit einer Iso-Mat­te unter dem Arm. Den 60jährigen Hüsey­in Donat, Binays Vater, schmerzt der Rücken, er hat um zusätz­li­chen Schutz vor dem kal­ten Boden gebeten.

Pfar­rer Ende­mann ist noch unsi­cher im Umgang mit den Flücht­lin­gen in sei­nem Gemein­de­haus, das spürt man. Mor­gen müs­se erst ein­mal ein Plan gemacht wer­den für die Grup­pen, die regel­mä­ßig den Musik­raum nut­zen und die Küche. Zwar ist es schon das zwei­te Mal, dass die Kreuz­kir­che im Rah­men der Pro­test­ak­ti­on eine Grup­pe von Flücht­lin­gen auf­nimmt, aber die beim ersten Mal zuge­stan­de­ne eine Woche war über­schau­ba­rer und außer­dem gab es damals noch eine freie Woh­nung im zwei­ten Stock und damit mehr Abge­schlos­sen­heit, mehr Räu­me und eine Dusche. Die gibt es jetzt nicht. »Wir wer­den uns schon anein­an­der gewöh­nen«, sucht Pfar­rer Ende­mann nicht nur die Flücht­lin­ge, son­dern auch sich selbst zu beru­hi­gen. Den von Binay ange­bo­te­nen Tee schlägt er jedoch aus – »auf gute Nach­bar­schaft« mur­melt er, dann ist er ver­schwun­den. Und so suchen die Flücht­lin­ge eine Zuhö­re­rin in mir. Sie sind eigent­lich zu müde, zu hoff­nungs­los, um das Unab­än­der­li­che immer wie­der auf­zu­rüh­ren. Und doch müs­sen sie reden. Müs­sen sie jedem Besu­cher die­sel­ben Geschich­ten erzäh­len. Von dem Krieg, vor dem sie geflo­hen sind; von der Hei­mat, die sie nicht haben; von ver­wü­ste­ten Dör­fern; von ermor­de­ten Ver­wand­ten oder von sol­chen im Gefäng­nis; von Wit­ten­berg, Olpe oder Eus­kir­chen, ihren bis­he­ri­gen Auf­ent­halts­or­ten in Deutsch­land vor dem Kir­chen­asyl; von der Arbeit, die sie mal hat­ten, auf dem Bau oder in der Küche – »da haben wir alles selbst gezahlt, wie die Deut­schen«. – »Und jetzt schicken sie uns weg, ein­fach weg.«

Ali Döne­kli kramt in sei­nen Taschen, holt ein zer­knit­ter­tes Stück Papier her­vor. Wür­de er ver­haf­tet, müss­te er vor der Abschie­bung in die Tür­kei hier in Deutsch­land noch eine Gefäng­nis­stra­fe von vier­zig Tagen absit­zen. Das Gerichts­ur­teil für die Teil­nah­me an einer ver­bo­te­nen PKK-Demon­stra­ti­on in Dort­mund. – »Wir hat­ten Angst in Kur­di­stan, jetzt haben wir Angst hier.«

Vier­tes Kapi­tel: Was die Wirk­lich­keit verschweigt
Solan­ge man nur über­lebt, fin­det das Leben nicht statt. In einer sol­chen Zeit wird man weder jün­ger noch älter. In alle Rich­tun­gen gezerrt. Wund­ge­war­tet. Wohin wird es gehen? Die Zuflucht eine Hoff­nung und eine Stra­fe. Denn die Macht hat längst genom­men, was doch nie­man­dem gehört.

Fünf­tes Kapi­tel: Eini­ge Wor­te über das Netz­werk kein mensch ist illegal
Das Netz­werk wur­de 1997 auf der docu­men­ta X in Kas­sel gegrün­det. In weni­gen Wochen schlos­sen sich mehr als 200 Grup­pen und Orga­ni­sa­tio­nen (auch aus kirch­li­chen Krei­sen) sowie Tau­sen­de von Ein­zel­per­so­nen dem Grün­dungs­ma­ni­fest an, einem Appell. in dem dazu auf­ge­ru­fen wur­de, Flücht­lin­ge und Migran­ten unab­hän­gig von ihrem Auf­ent­halts­sta­tus »bei der Ein- oder Wei­ter­rei­se zu unter­stüt­zen«, Migran­ten »Arbeit und Papie­re« zu ver­schaf­fen, ihnen » medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung, Schu­le und Aus­bil­dung, Unter­kunft und mate­ri­el­les Über­le­ben zu gewähr­lei­sten« – gemeint war: Men­schen, denen alle oder fast alle Rech­te genom­men wer­den, im Zwei­fel auch gegen gel­ten­des »Recht« Recht zu ver­schaf­fen. Eine Akzep­tanz für Akti­ons­for­men, bei denen der Anspruch der staat­li­chen Exe­ku­ti­ve, Men­schen abzu­schie­ben, in Fra­ge gestellt oder bekämpft wur­de, gab es 1997 bis weit in kon­ser­va­ti­ve Krei­se hin­ein. Mit­ge­fühl oder der Kampf für einen Rechts­staat, der das Recht schützt, galt damals noch nicht als gefähr­lich. Beschäf­tig­te aber den Ver­fas­sungs­schutz, der die Grün­dung von kein mensch ist ille­gal mit den Wor­ten kom­men­tier­te: »Es bil­den sich Bünd­nis­se von kirch­li­chen und anti­ras­si­sti­schen Grup­pen, die bis­her ein distan­zier­tes Ver­hält­nis zuein­an­der hat­ten.« Gut beob­ach­tet! Die Men­schen, die 1997 die Köl­ner Grup­pe von kein mensch ist ille­gal grün­de­ten, kamen über­wie­gend aus der links-auto­no­men Sze­ne. Mit akti­ven Kir­chen­ge­mein­de­mit­glie­dern hat­ten wir in unse­rer Bla­se nichts zu tun. Was sich schnell änder­te. Die Unter­brin­gung, die Betreu­ung, die Ver­kö­sti­gung der Flücht­lin­ge in den Kir­chen­ge­mei­nen wäre ohne das gro­ße Enga­ge­ment vie­ler Gemein­de­mit­glie­der nicht mög­lich gewe­sen. Sie koch­ten Ein­töp­fe, hol­ten Hun­der­te von Kuchen aus den Back­röh­ren, spiel­ten mit den Kin­dern, berei­te­ten die Unter­künf­te vor und räum­ten sie gemein­sam mit uns wie­der auf; sie baten ande­re Gemein­de­mit­glie­der um Spen­den: Lebens­mit­tel, Spiel­zeug, Geld…

Jede Woche tra­fen wir uns in Köln zu einem gemein­sa­men Ple­num: Wir vom lin­ken Netz­werk, die beim Wan­der­kir­chen­asyl akti­ven Köl­ner Gemein­de­mit­glie­der, die evan­ge­li­schen und katho­li­schen Pfar­rer aller in Köln betei­lig­ten Gemein­den – oft 200 Men­schen und mehr. Mus­li­me und Chri­sten und radi­ka­le Athe­isten. Wel­ten prall­ten auf­ein­an­der, Men­schen, die sich anfangs miss­trau­isch oder min­de­stens unsi­cher beäug­ten. Klei­dungs­sti­le und Glau­bens­fra­gen, ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gun­gen und Lebens­for­men, nichts pass­te zuein­an­der. Und am Ende doch!

Es gab Streit und Miss­ver­ständ­nis­se, auch im über­tra­ge­nen Sinn muss­te stän­dig Spra­che über­setzt wer­den, aber wir lern­ten inter­es­san­te und lie­bens­wer­te Men­schen ken­nen, lach­ten immer öfter über unse­re Unter­schied­lich­kei­ten, respek­tier­ten uns. Wir hat­ten eine gemein­sa­me Auf­ga­be und ver­ein­ten uns über unse­re gemein­sa­men Über­zeu­gun­gen: Kein Mensch ist ille­gal, jeder hat das Recht auf Wür­de und einen geschütz­ten Platz auf der Welt, jeder hat die glei­chen Rechte.

Ich bin froh über die Jah­re mit dem Wan­der­kir­chen­asyl. Es war das größ­te sozia­le Expe­ri­ment mei­nes Lebens, ein gelun­ge­nes Modell für ein mög­li­ches bes­se­res Mit­ein­an­der. Ich befürch­te aber, dass es heu­te nicht mehr mög­lich wäre. Die dafür nöti­ge Tole­ranz und Offen­heit, die Wahr­neh­mung der wirk­li­chen Pro­ble­me, statt der ver­bis­se­nen Kon­zen­tra­ti­on auf den eige­nen woken Bauch­na­bel, das Sel­ber­den­ken als Schutz vor den täg­li­chen Mani­pu­la­tio­nen durch Medi­en und Herr­schafts­spra­che sind gera­de nicht zu finden.

Sech­stes Kapi­tel: Das Alpha­bet des Erfolges
An jedem Diens­tag tref­fen sich die Mit­glie­der der Köl­ner Kam­pa­gne kein mensch ist ille­gal zu einem eige­nen Ple­num. Hier gibt es Infor­ma­tio­nen aus den Arbeits­grup­pen - der Rechts­grup­pe, der Grup­pe für die medi­zi­ni­sche Betreu­ung oder der für die Suche nach wei­te­ren Kir­chen­ge­mein­den. Hier wer­den gemein­sa­me Aktio­nen geplant und Dis­kus­sio­nen über die poli­ti­schen Per­spek­ti­ven geführt. Wie wird es wei­ter­ge­hen mit der Kam­pa­gne, was ist, wenn sie kei­nen Erfolg hat? Aber was heißt Erfolg, wie buch­sta­biert man ihn?

An man­chen Aben­den ist die Stim­mung im Ple­num ange­strengt, gera­de­zu gereizt. Wer wagt zu fra­gen, wie lan­ge die Pro­test­ak­ti­on den Betei­lig­ten zuzu­mu­ten ist? Den Flücht­lin­gen, getrie­ben von einer Kir­che in die näch­ste, ohne Arbeit, ohne Geld, ohne Beschäf­ti­gungs­mög­lich­kei­ten, ohne das klein­ste biss­chen Gebor­gen­heit. Aber auch den vie­len ehren­amt­li­chen Hel­fern aus den ver­schie­de­nen Kir­chen­ge­mein­den. Und uns selbst. Hal­ten wir durch? Wie lan­ge müs­sen wir durch­hal­ten? Wann müs­sen wir ein­se­hen, dass unser Ziel viel­leicht nicht zu errei­chen ist? Aber was ist unser Ziel, wie nen­nen wir es?

Kaum jemand in der Kam­pa­gne glaubt wirk­lich, dass sich die nord­rhein-west­fä­li­sche Lan­des­re­gie­rung zu einem gene­rel­len Abschie­be­stopp für kur­di­sche Flücht­lin­ge ent­schlie­ßen wird. Und selbst wenn – län­ger als ein hal­bes Jahr liegt eine sol­che Ent­schei­dung sowie­so nicht in ihrer Macht, dann hat die bun­des­deut­sche Asyl­ge­setz­ge­bung das letz­te Wort des Bun­des­in­nen­mi­ni­sters vor­ge­se­hen. Also lie­ber alle Hoff­nung auf eine spe­zi­el­le huma­ni­tä­re Lösung rich­ten – für jene Flücht­lin­ge, die sich der­zeit im Kir­chen­asyl befin­den? Also lie­ber Hoff­nung auf eine Art Son­der-Dul­dung, weil ihre Teil­nah­me an der Akti­on sie in der Tür­kei zusätz­lich gefähr­den wür­de? Auf eine kol­lek­ti­ve außer­ju­ri­sti­sche Aner­ken­nung von Nach­flucht­grün­den also?

Nach­flucht­grün­de – auch so ein Begriff aus dem Wör­ter­buch des neu­deut­schen Unmen­schen, in die­sem Fall vor­ge­legt im Asyl­recht. Es gesteht zu, dass bestimm­te Akti­vi­tä­ten außer­halb des Hei­mat­lan­des bei einer Rück­kehr (zusätz­lich) die Gefahr einer poli­ti­schen Ver­fol­gung bedeu­ten kön­nen. Doch die­se »Nach­flucht­grün­de« dür­fen nicht fahr­läs­sig her­bei­ge­führt wer­den und Fahr­läs­sig­keit wird in die­sem Fall poli­tisch defi­niert. Rechts­an­wäl­te schät­zen, dass viel­leicht drei oder vier Haupt­ak­ti­vi­sten unter den kur­di­schen Flücht­lin­gen mit einer sol­chen Begrün­dung eine Chan­ce für ein erneu­tes Asyl­ver­fah­ren und eine Aner­ken­nung hätten.

Doch was ist mit den ande­ren Flücht­lin­gen? Ist im Fal­le von Abschie­bun­gen das, was auf deut­schem Boden nicht als »Nach­flucht­grund« gilt, in der Tür­kei - um es zynisch zu for­mu­lie­ren – ein Nach-Fol­ter­grund? Soll die Kam­pa­gne also wei­ter auf irgend­ei­ne gemein­sa­me Lösung für alle drän­gen oder doch lie­ber nach so vie­len Ein­zel­fall­lö­sun­gen wie mög­lich suchen? Oder bei­des? Das eine still, das ande­re öffentlich?

Wo liegt unse­re Ver­ant­wor­tung? Und wo endet sie?

*

Die kur­di­schen Fami­li­en haben sich ent­schie­den, beher­bergt in immer wech­seln­den Kir­chen­ge­mein­den, gegen die Abschie­bung aus der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land zu pro­te­stie­ren. Sie sind dadurch gezwun­gen, die enor­me psy­chi­sche Bela­stung stän­dig wech­seln­der Unter­künf­te auf sich zu neh­men und sich der Gefahr des staat­li­chen Zugriffs aus­zu­set­zen. Aber es geht um ihr Leben, um eine Chan­ce auf Zukunft. Die Kir­chen­ge­mein­den wie­der­um, die sich ent­schie­den haben, den bedrän­gen Men­schen bei­zu­ste­hen, müs­sen zuneh­men­den inner­kirch­li­chen und staat­lich poli­ti­schen Druck aus­zu­hal­ten. Aber sie haben längst begrif­fen, dass Beten nicht reicht. Und wir? Die klei­ne Kam­pa­gne kein mensch ist ille­gal, die das gan­ze Wan­der­kir­chen­asyl orga­ni­siert? Wir müs­sen ein­fach nur wei­ter­ma­chen. Was wir dann auch tun. Übri­gens stän­dig beob­ach­tet vom Verfassungsschutz.

Sieb­tes Kapi­tel: Was die Wirk­lich­keit verschweigt
Aus der als ille­gal defi­nier­ten Exi­stenz in die Öffent­lich­keit gehen. Das Gesicht zei­gen. Den Häschern, aber auch den Hel­fern. Sich anschau­en. Sich erken­nen. Und auch erken­nen, dass wir die erneu­te Auf­tei­lung in Pas­s­in­ha­ber und Papier­lo­se nicht zulas­sen dür­fen, aber viel­leicht zulas­sen werden.

Das ist es, was die Wirk­lich­keit verschweigt.

Ach­tes Kapi­tel: Wir tau­chen auf
Die Vor­be­rei­tun­gen lau­fen seit Wochen und die Paro­le lau­tet »Wir tau­chen auf«.

Um die Öffent­lich­keit mit einer spek­ta­ku­lä­ren Akti­on erneut auf die Situa­ti­on der zu die­ser Zeit rund 130 kur­di­schen Flücht­lin­ge im nord­rhein-west­fä­li­schen Kir­chen­asyl auf­merk­sam zu machen und der For­de­rung nach einem Abschie­be­stopp in die Tür­kei Nach­druck zu ver­lei­hen, star­tet am 24. April ein Schiff von Köln nach Düsseldorf.

Mit­rei­sen wer­den die Flücht­lin­ge, um die es hier geht, mit­rei­sen wer­den mehr als hun­dert Unter­stüt­ze­rIn­nen der Kam­pa­gne kein mensch ist ille­gal, mit­rei­sen wer­den Kir­chen­ver­tre­ter und Anwäl­te und Jour­na­li­sten, mit­rei­sen wer­den Kaba­ret­ti­sten, Musi­ker, Schau­spie­ler – und Par­tei­po­li­ti­ker. Bar­ba­ra Stef­fens, Spre­che­rin des Lan­des­vor­stan­des der Grü­nen in Nord­rhein-West­fa­len zum Bei­spiel, oder Ulla Jelp­ke, die gera­de in Nord­rhein-West­fa­len zur PDS-Spit­zen­kan­di­da­tin für die Bun­des­tags­wahl gekürt wer­den soll. Ziel sind das Innen­mi­ni­ste­ri­um und die Frak­tio­nen im Düs­sel­dor­fer Land­tag, denen zwei Dele­ga­tio­nen – bestehend aus Kir­chen­ver­tre­tern, Anwäl­ten und Flücht­lin­gen Mate­ri­al zur Men­schen­rechts­si­tua­ti­on in der Tür­kei und Unter­schrif­ten­li­sten über­ge­ben wer­den. Beglei­tet wer­den Schiff und Demon­stra­ti­on von zahl­rei­chen Soli­da­ri­täts­er­klä­run­gen – for­mu­liert u. a. von den Schrift­stel­lern Gün­ter Grass und Ralph Giordano.

Auf den Rhein­ufer­stra­ßen beglei­ten uns außer­dem zahl­rei­che Poli­zei­wa­gen. Ein rie­si­ges Trans­pa­rent schickt ihnen unse­re Bot­schaft: kein mensch ist ille­gal.

Neun­tes Kapi­tel: Nur ein wenig Sand im Getriebe?
Das Wan­der­kir­chen­asyl hat­te nach drei Jah­ren von den ins­ge­samt 475 teil­neh­men­den ille­ga­li­sier­ten kur­di­schen Flücht­lin­gen sechs Men­schen durch Abschie­bun­gen ver­lo­ren. Die ande­ren leb­ten 2001 wei­ter hier, die mei­sten nach wie vor unter pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen: zwei­hun­dert in städ­ti­schen Flücht­lings­un­ter­künf­ten, weil ihre Asyl- oder Auf­ent­halts­be­geh­ren erneut und noch immer Fall für Fall geprüft wur­den. wei­te­re hun­dert­drei­ßig in den Kir­chen, in unsi­che­rer ille­ga­li­sier­ter Exi­stenz, ohne Aner­ken­nung als Bür­ger­kriegs­flücht­lin­ge. Immer­hin: Das Wan­der­kir­chen­asyl war Sand im Getrie­be der Abschie­be­ma­schi­ne­rie, doch wahr­schein­lich nicht mehr. Zwar konn­ten wir »unse­re« Flücht­lin­ge bis­her mit Hil­fe von Kir­chen und Anwäl­ten und auch vie­len Medi­en vor Abschie­bung schüt­zen, aber im Jahr 2000 stieg die Zahl der Abschie­bun­gen von ande­ren Flücht­lin­gen auf eine neue Höchst­zahl: Mehr als 35.000 Men­schen wur­den gegen ihren Wil­len zurück in das Elend geschickt, vor dem sie geflo­hen waren, dar­un­ter auch die sechs Flücht­lin­ge aus dem Wan­der­kir­chen­asyl. Nach drei Jah­ren, das gehört eben­falls zu die­ser Geschich­te, waren die Akti­vi­sten des Wan­der­kir­chen­asyls über­wie­gend müde gewor­den, auch des­halb, weil sie zu weni­ge waren und sich die Medi­en längst nicht mehr für die Pro­test­ak­ti­on inter­es­sier­te, die zer­mür­ben­den Spiel­chen des Staa­tes also nicht mehr unter öffent­li­cher kri­ti­scher Beob­ach­tung standen.

Am Ende, von heu­te betrach­tet, haben die aller­mei­sten Teil­neh­mer am Wan­der­kir­chen­asyl irgend­ei­ne Form von Auf­ent­halts­er­laub­nis erhal­ten. Also doch ein Erfolg? Wohl nur dann, wenn end­lich immer mehr Men­schen auf­ste­hen und sich für den Kampf um unteil­ba­re Men­schen­rech­te zusammenschließen.

Die Hoff­nung bleibt.

 

Ausgabe 15.16/2025