- Mai 1945. Aus einem Volk von Jublern war ein Volk von Stummen geworden. Als das »Tausendjährige Reich« in Schutt und Asche versank, übten sich Hitlers Deutsche im notorischen Beschweigen oder verloren sich im rhetorischen Schleier: Alle waren »eigentlich« immer schon dagegen gewesen.
Doch das nationalsozialistische Deutschland bestand nicht nur aus einem Führer, sondern aus Millionen Begeisterten und Überzeugten. Zeitweise wollten so viele Deutsche in die NSDAP eintreten, dass die Partei mehrere Aufnahmestopps beschloss. Noch kurz vor dem Kriegsende waren es 8,5 Millionen NSDAP-Mitglieder. Nun sollte die »Stunde null« die Stunde der notwendigen »Säuberung« werden. Dazu trafen sich in Potsdam die drei Regierungschefs der Siegermächte und unterschrieben ein Dekret, in dem es hieß: »Alle Mitglieder der nationalsozialistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit teilgenommen haben, (…) sind aus den öffentlichen und halböffentlichen Ämtern zu entfernen. «
Ein Volk stand vor einer politischen und moralischen Reinigungsprozedur. Und das, was die Siegermächte Entnazifizierung nannten, war als Vorbedingung für eine kollektive Rehabilitierung der Deutschen konzipiert. Die Entnazifizierung sollte einheitlich und allein in der Zuständigkeit des Kontrollrats durchgeführt werden. Anfang 1946 wurde eine weitere Direktive erlassen, in der genau definiert und kategorisiert war, welche Personen aus welchen Ämtern und Stellungen entfernt werden sollten. Ein schwieriges Unterfangen. Wer war Täter, wer nur ein Mitläufer? Hatte nicht jeder eine Ausrede, eine Erklärung? Damit die »Potsdamer Grundsätze« auch in die Praxis umgesetzt werden konnten, einigte man sich zunächst auf fünf Gruppen zur »Heranziehung von Sühnemaßnahmen«: Hauptschuldige – Belastete (Aktivisten, Militaristen und Nutznießer) – Minderbelastete – Mitläufer – und Entlastete (Personen, die nachweisen konnten, dass sie unschuldig waren).
Mit großem Elan begannen die Amerikaner. Sie verteilten einen sechsseitigen Fragebogen, der von den Deutschen auszufüllen war. Auf 131 Fragen – vom Körpergewicht über Vermögensverhältnisse, Militärdienst, Auslandsreisen, Vorstrafen bis hin zu religiösen Bindungen – wurden eindeutige Antworten verlangt. Unvollständigkeit und Auslassungen standen unter Strafe. Kernstück des Fragebogens waren die Punkte, unter denen Angaben über die Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen gefordert wurden. Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte mussten zudem einen Ergänzungsbogen ausfüllen, dessen erste Frage der Mitgliedschaft zum Volksgerichtshof galt. Anfang Dezember 1945 waren bei den amerikanischen Dienststellen mehr als 13 Millionen Fragebogen eingegangen. Die Säuberung beschränkte sich darauf, die Angaben zu überprüfen und die belastete NS-Spreu vom unbelasteten Weizen zu trennen. Die schlimmsten Nazis fielen in die Kategorie »automatischer Arrest«, andere wurden aus ihren Arbeitsverhältnissen entfernt, harmlose Mitläufer durften ihre Arbeitsplätze und Ämter behalten.
In der französischen und der britischen Zone konzentrierte man sich in erster Linie darauf, die Eliten des NS-Systems auszuwechseln. Es galt, die Aufrechterhaltung der Verwaltung nicht zu gefährden, und so praktizierte man die Säuberung nicht allzu streng. In der britischen Zone beispielsweise trat neben die Bezeichnung »politisch nicht tragbar« und »politisch tragbar« die Zwischenbewertung »tragbar mit Amtsveränderung«.
Am konsequentesten wurde die Säuberung ehemaliger Exponenten des NS-Regimes in der sowjetischen Besatzungszone durchgeführt, denn hier verfolgte man einen radikalen personellen Neubeginn. Freilich, auch dort rückte bereits ab 1947 der Gedanke der Rehabilitierung in den Vordergrund, vor allem, wenn es sich um einfache NSDAP-Mitläufer handelte. Die Justiz sollte sich ausführlich mit den Vergehen der Aktivisten beschäftigen – doch gab es noch Richter? Bereits im September 1945 hatte die Militäradministration den Aufbau einer demokratischen Justiz befohlen, worin ehemalige NS-Juristen keinen Platz finden sollten. Beinahe 90 Prozent des Justizpersonals wurden entlassen. Um das entstandene Vakuum rasch zu füllen, wurden sogenannte Volksrichterschulen errichtet, wo Laien in Schnellkursen die Rechtsprechung erlernten.
Insgesamt jedoch war bereits Ende 1947 das Interesse der westlichen Alliierten an der Entnazifizierung erkennbarer erlahmt. Die Säuberung von außen, in Anspielung an die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Prominenz auch »Nürnberg des kleinen Mannes« genannt, war gescheitert. So wurden die Aufgaben bald den neu errichteten Bundesländern übertragen. Mit zweifelhaftem Erfolg. Denn noch immer waren viele Deutsche der Meinung, der Nationalsozialismus sei im Großen und Ganzen eine gute Sache gewesen, die allenfalls schlecht durchgeführt worden sei. Nun sollten diese Deutschen in Eigenregie ihre Entnazifizierung organisieren. Doch alle Versuche, die anständigen Deutschen von den Nazis, die anständigen Nazis von den schlimmen Deutschen zu trennen, erwiesen sich als unmöglich. Kaum einer mochte als Belastungszeuge auftreten, an Entlastungszeugen dagegen herrschte kein Mangel. Die Deutschen fühlten sich durch die Niederlage schon genug bestraft. Schuldbewusstsein, Sühnebedürfnis oder Scham hatten keinen Platz.
Die »wahren Schuldigen« sollten bestraft, die gutgläubigen Nazis aber – das war die vorherrschende Meinung – in Gnaden entlassen werden. So setzte sich ein Nazi-Begriff durch, der sich allein auf exponierte Parteifunktionäre, auf NS-Verbrecher und KZ-Schergen reduzierte, nicht aber auf Zellenleiter und Blockwarte, auf Kassenverwalter und Unterführer, die alle doch nur das »Beste für Deutschland und das deutsche Volk« gewollt hatten.
Diejenigen, die jetzt die gigantische Selbstreinigung vornahmen – die Vertreter der neugeschaffenen Parteien –, waren zwar unbelastet, aber überfordert, und jene, die in den Spruch- und Berufungskammern ihren Juristenverstand bereits wieder für die »deutsche Sache« einsetzten, einigte vor allem das Bedürfnis, mit der NS-Vergangenheit endlich Schluss zu machen. Vor allem Juristen, geübt in Anpassungsfähigkeit und Opportunismus, die jetzt mit den »Entsorgungsarbeiten« der Vergangenheit betraut waren, begriffen die ihnen übertragene Säuberung ganz positivistisch vor allem als Prozedur zur Rettung der eigenen Karriere – und der ihrer Zunftkollegen. Waren sie nicht lediglich Vollstreckungsbeamte, die geltendes Gesetz angewandt hatten? Und Treue zum Gesetz konnte doch wohl niemanden zum Kriminellen machen. Diese Logik sollte in den nächsten Jahren zur eisernen Rechtsüberzeugung werden.
Ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Komplizenschaft in der Nazi-Zeit konnten die Juristen so kaum entwickeln. Die Verantwortung für das, was geschehen war, bürdeten sie der politischen Führung auf. Selbst NS-Juristen, die sich im Hitler-Deutschland besonders eifrig hervorgetan hatten, mussten um ihre Nachkriegskarriere nicht bangen. Tausende von belasteten Richtern wurden also nicht nur verschont, sie durften wieder amtieren. Von dieser Richtergeneration war kaum ein Beitrag zur Vergangenheitsbewältigung zu erwarten. Sowohl die institutionelle wie auch die personelle Kontinuität war damit gesichert. Im Bonner Justizministerium agierten Juristen, die schon dem NS-Regime willfährig gedient hatten. Denn warum sollte für das Justizministerium nicht dasselbe gelten wie für andere Ministerien, beispielsweise das Auswärtige Amt, wo beinahe zwei Drittel der Beschäftigten ehemalige Nationalsozialisten waren und nun die Auslandspolitik der Deutschen besorgten. Adenauer beschwichtigte Kritiker mit dem Argument, man könne »doch ein Auswärtiges Amt nicht aufbauen, wenn man nicht wenigstens an den leitenden Stellen Leute hat, die von der Geschichte von früher etwas verstehen«. Beispielsweise Leute wie sein Kanzleramtssekretär Dr. Hans Globke, der nicht nur an der Ausarbeitung des »Blutschutzgesetzes« und des »Erbgesundheitsgesetzes« von 1935 beteiligt gewesen war, sondern sich auch als Kommentator der Rassengesetze hervorgetan hatte. Als Rassenschande-Experte hatte er auch 1942 an der Wannsee Konferenz über die »Endlösung« der Judenfrage teilgenommen.
Freilich: Eine Vorbildfunktion in Sachen »Vergangenheits-Bewältigung« konnte für demokratisch gesinnte Westjuristen auch die DDR-Justiz nicht sein. Schließlich hatte es 1950 die »Waldheimer Prozesse« gegeben, ein Schnellverfahren, in dem im Stile der NS-Justiz zahlreiche Todesurteile gegen ehemalige Nationalsozialisten gefällt worden waren. Den Angeklagten wurden die elementarsten Rechte verweigert: Es gab weder eine Beweisaufnahme noch eine Verteidigung. Entlastungszeugen wurden nicht gehört. Die häufigsten Vorwürfe lauteten auf »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und »wesentliche Förderung« des Hitler-Regimes. Es kam zu zahllosen Zuchthausstrafen von zehn Jahren und mehr, allein in der Nacht vom 3. auf den 4. November 1950 wurden 24 Todesurteile vollstreckt.
Aber nicht nur in den »Waldheim-Prozessen« hatte die »Sozialistische Einheitspartei Deutschlands« (SED) Regie geführt und die Justiz als verlängerten Machtapparat instrumentalisiert. Was sich in den Gerichtssälen des jungen »Arbeiter und Bauernstaates« vollzog, waren – keineswegs nur in politischen Straftaten – häufig stalinistische Schauprozesse, die jeglicher Rechtsstaatlichkeit entbehrten. »Die Strafjustiz sei eine politische Tat«, propagierte Hilde Benjamin, gnadenlose Richterin in zahllosen Schauprozessen – und empfahl sich mit ihren Terror-Urteilen für größere Aufgaben: Sie wurde (bis 1967) DDR-Justizministerin.
Verhinderte Ermittlungen, großzügiges Verständnis, laxe Urteile, zahllose Freisprüche – das alles war charakteristisch für die BRD-Nachkriegsjustiz. Ob Politik, Wirtschaft, Wissenschaft oder Verwaltung: alle Namen der braunen Täter und Schreibtischtäter zu nennen, die in der Adenauer-Republik rasch wieder Schlüsselstellungen einnahmen und ihre Karrieren fortsetzten – es bräuchte eine mehrbändige Enzyklopädie der umfassenden »Integration der Täter«.
Die meisten Deutschen wollten von der Vergangenheit nichts mehr wissen, ganz im Sinne ihrer gewählten Volksvertreter. Nicht nur Adenauer in den Fünfzigerjahren, auch danach hatten westdeutsche Politiker mit griffigen Formulierungen ihre Landsleute immer wieder dazu aufgefordert, doch mit der »ewigen Vergangenheitsbewältigung« abzuschließen. So Franz-Josef Strauß, der schon früh darin eine »gesellschaftliche Dauerbüßeraufgabe« erkennen wollte und feststellte, die Deutschen seien »eine normale Nation, die das Unglück hatte, schlechte Politiker an der Spitze ihres Landes zu haben«. Hitler als Betriebsunfall? Die geschichtsklitternde Formel, die Deutschen seien »Hitlers Opfer« gewesen, das Dritte Reich ein Werk einer Bande von Verbrechern – das war zwar eine seltsame, aber durchaus entlastende Variante, die keineswegs nur konservativen Politikern als Selbstrechtfertigung diente.
Bald galten ehemalige SS-Männer wieder als anständige Leute, konnten KZ-Schergen sich auf »Befehlsnotstand« berufen, hieß das neue Nationallied der Deutschen: »Wir haben nichts gewusst.« Und es gab noch immer Rechtfertigungen. »Nicht alles, was war, war falsch gewesen«, so dachten – kaum waren die Trümmer des NS-Regimes zur Seite geräumt – viele, ja, die meisten Deutschen. »Die Maschine soll wieder laufen«, hatte Adenauer gesagt. Und sie lief. Der Publizist Ralph Giordano hat in seinem Buch Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein die umfassende kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit eindrucksvoll beschrieben.
Sechs Jahre Krieg, Wahn und Barbarei. Mehr als 60 Millionen Tote. Der Holocaust, der Zivilisationsbruch. In der westdeutschen Erinnerungskultur galt der 8. Mai 1945 dennoch mehrheitlich als Chiffre der eigenen Niederlage und war Jahrzehnte vor allem mit den negativen Folgen assoziiert: Zusammenbruch, Vertreibung, Besatzung, deutsche Teilung und Verlust von Heimat. Erst seit den 1960er- und 1970er-Jahren begann sich das langsam zu wandeln, Gustav Heinemann (SPD) hielt 1970 als erster Bundespräsident eine Rede zum 8. Mai. Als erste Bundesregierung äußerte sich 1970 auch die sozial-liberale Koalition unter Bundekanzler Willy Brandt (SPD) mit einer Regierungserklärung zum Jahrestag. Den Begriff der Befreiung bezog er dabei jedoch explizit auf andere Völker. Zu einem erinnerungspolitischen Wendepunkt wurde erst die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985. Der 8. Mai, so führte von Weizsäcker im Deutschen Bundestag aus, sei für jene, die ihn erlebt haben, mit unterschiedlichen Erfahrungen verknüpft. Doch mit der Zeit sei der Blick klarer geworden auf das, was der Tag für die Gesellschaft als Ganzes bedeute: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«
Bleibt die Frage: Kann persönliche Schuld irgendwann vergehen? Nein, sagt Alfred Grosser, der im Vorjahr verstorbene französisch-deutsche Historiker und Publizist, denn »das vergangene Geschehen ist keineswegs abwesend in der Gegenwart, nur weil es vergangen ist«.
Buch-Tipp: Helmut Ortner, Volk im Wahn. Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit, Edition Faust, 296 S., 22 €.