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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Keine »Stunde Null«

  1. Mai 1945. Aus einem Volk von Jub­lern war ein Volk von Stum­men gewor­den. Als das »Tau­send­jäh­ri­ge Reich« in Schutt und Asche ver­sank, übten sich Hit­lers Deut­sche im noto­ri­schen Beschwei­gen oder ver­lo­ren sich im rhe­to­ri­schen Schlei­er: Alle waren »eigent­lich« immer schon dage­gen gewesen.

Doch das natio­nal­so­zia­li­sti­sche Deutsch­land bestand nicht nur aus einem Füh­rer, son­dern aus Mil­lio­nen Begei­ster­ten und Über­zeug­ten. Zeit­wei­se woll­ten so vie­le Deut­sche in die NSDAP ein­tre­ten, dass die Par­tei meh­re­re Auf­nah­me­stopps beschloss. Noch kurz vor dem Kriegs­en­de waren es 8,5 Mil­lio­nen NSDAP-Mit­glie­der. Nun soll­te die »Stun­de null« die Stun­de der not­wen­di­gen »Säu­be­rung« wer­den. Dazu tra­fen sich in Pots­dam die drei Regie­rungs­chefs der Sie­ger­mäch­te und unter­schrie­ben ein Dekret, in dem es hieß: »Alle Mit­glie­der der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Par­tei, wel­che mehr als nomi­nell an ihrer Tätig­keit teil­ge­nom­men haben, (…) sind aus den öffent­li­chen und halb­öf­fent­li­chen Ämtern zu entfernen. «

Ein Volk stand vor einer poli­ti­schen und mora­li­schen Rei­ni­gungs­pro­ze­dur. Und das, was die Sie­ger­mäch­te Ent­na­zi­fi­zie­rung nann­ten, war als Vor­be­din­gung für eine kol­lek­ti­ve Reha­bi­li­tie­rung der Deut­schen kon­zi­piert. Die Ent­na­zi­fi­zie­rung soll­te ein­heit­lich und allein in der Zustän­dig­keit des Kon­troll­rats durch­ge­führt wer­den. Anfang 1946 wur­de eine wei­te­re Direk­ti­ve erlas­sen, in der genau defi­niert und kate­go­ri­siert war, wel­che Per­so­nen aus wel­chen Ämtern und Stel­lun­gen ent­fernt wer­den soll­ten. Ein schwie­ri­ges Unter­fan­gen. Wer war Täter, wer nur ein Mit­läu­fer? Hat­te nicht jeder eine Aus­re­de, eine Erklä­rung? Damit die »Pots­da­mer Grund­sät­ze« auch in die Pra­xis umge­setzt wer­den konn­ten, einig­te man sich zunächst auf fünf Grup­pen zur »Her­an­zie­hung von Süh­ne­maß­nah­men«: Haupt­schul­di­ge – Bela­ste­te (Akti­vi­sten, Mili­ta­ri­sten und Nutz­nie­ßer) – Min­der­be­la­ste­te – Mit­läu­fer – und Ent­la­ste­te (Per­so­nen, die nach­wei­sen konn­ten, dass sie unschul­dig waren).

Mit gro­ßem Elan began­nen die Ame­ri­ka­ner. Sie ver­teil­ten einen sechs­sei­ti­gen Fra­ge­bo­gen, der von den Deut­schen aus­zu­fül­len war. Auf 131 Fra­gen – vom Kör­per­ge­wicht über Ver­mö­gens­ver­hält­nis­se, Mili­tär­dienst, Aus­lands­rei­sen, Vor­stra­fen bis hin zu reli­giö­sen Bin­dun­gen – wur­den ein­deu­ti­ge Ant­wor­ten ver­langt. Unvoll­stän­dig­keit und Aus­las­sun­gen stan­den unter Stra­fe. Kern­stück des Fra­ge­bo­gens waren die Punk­te, unter denen Anga­ben über die Mit­glied­schaf­ten in natio­nal­so­zia­li­sti­schen Orga­ni­sa­tio­nen gefor­dert wur­den. Rich­ter, Staats­an­wäl­te und Rechts­an­wäl­te muss­ten zudem einen Ergän­zungs­bo­gen aus­fül­len, des­sen erste Fra­ge der Mit­glied­schaft zum Volks­ge­richts­hof galt. Anfang Dezem­ber 1945 waren bei den ame­ri­ka­ni­schen Dienst­stel­len mehr als 13 Mil­lio­nen Fra­ge­bo­gen ein­ge­gan­gen. Die Säu­be­rung beschränk­te sich dar­auf, die Anga­ben zu über­prü­fen und die bela­ste­te NS-Spreu vom unbe­la­ste­ten Wei­zen zu tren­nen. Die schlimm­sten Nazis fie­len in die Kate­go­rie »auto­ma­ti­scher Arrest«, ande­re wur­den aus ihren Arbeits­ver­hält­nis­sen ent­fernt, harm­lo­se Mit­läu­fer durf­ten ihre Arbeits­plät­ze und Ämter behalten.

In der fran­zö­si­schen und der bri­ti­schen Zone kon­zen­trier­te man sich in erster Linie dar­auf, die Eli­ten des NS-Systems aus­zu­wech­seln. Es galt, die Auf­recht­erhal­tung der Ver­wal­tung nicht zu gefähr­den, und so prak­ti­zier­te man die Säu­be­rung nicht all­zu streng. In der bri­ti­schen Zone bei­spiels­wei­se trat neben die Bezeich­nung »poli­tisch nicht trag­bar« und »poli­tisch trag­bar« die Zwi­schen­be­wer­tung »trag­bar mit Amtsveränderung«.

Am kon­se­quen­te­sten wur­de die Säu­be­rung ehe­ma­li­ger Expo­nen­ten des NS-Regimes in der sowje­ti­schen Besat­zungs­zo­ne durch­ge­führt, denn hier ver­folg­te man einen radi­ka­len per­so­nel­len Neu­be­ginn. Frei­lich, auch dort rück­te bereits ab 1947 der Gedan­ke der Reha­bi­li­tie­rung in den Vor­der­grund, vor allem, wenn es sich um ein­fa­che NSDAP-Mit­läu­fer han­del­te. Die Justiz soll­te sich aus­führ­lich mit den Ver­ge­hen der Akti­vi­sten beschäf­ti­gen – doch gab es noch Rich­ter? Bereits im Sep­tem­ber 1945 hat­te die Mili­tär­ad­mi­ni­stra­ti­on den Auf­bau einer demo­kra­ti­schen Justiz befoh­len, wor­in ehe­ma­li­ge NS-Juri­sten kei­nen Platz fin­den soll­ten. Bei­na­he 90 Pro­zent des Justiz­per­so­nals wur­den ent­las­sen. Um das ent­stan­de­ne Vaku­um rasch zu fül­len, wur­den soge­nann­te Volks­rich­ter­schu­len errich­tet, wo Lai­en in Schnell­kur­sen die Recht­spre­chung erlernten.

Ins­ge­samt jedoch war bereits Ende 1947 das Inter­es­se der west­li­chen Alli­ier­ten an der Ent­na­zi­fi­zie­rung erkenn­ba­rer erlahmt. Die Säu­be­rung von außen, in Anspie­lung an die Nürn­ber­ger Pro­zes­se gegen die NS-Pro­mi­nenz auch »Nürn­berg des klei­nen Man­nes« genannt, war geschei­tert. So wur­den die Auf­ga­ben bald den neu errich­te­ten Bun­des­län­dern über­tra­gen. Mit zwei­fel­haf­tem Erfolg. Denn noch immer waren vie­le Deut­sche der Mei­nung, der Natio­nal­so­zia­lis­mus sei im Gro­ßen und Gan­zen eine gute Sache gewe­sen, die allen­falls schlecht durch­ge­führt wor­den sei. Nun soll­ten die­se Deut­schen in Eigen­re­gie ihre Ent­na­zi­fi­zie­rung orga­ni­sie­ren. Doch alle Ver­su­che, die anstän­di­gen Deut­schen von den Nazis, die anstän­di­gen Nazis von den schlim­men Deut­schen zu tren­nen, erwie­sen sich als unmög­lich. Kaum einer moch­te als Bela­stungs­zeu­ge auf­tre­ten, an Ent­la­stungs­zeu­gen dage­gen herrsch­te kein Man­gel. Die Deut­schen fühl­ten sich durch die Nie­der­la­ge schon genug bestraft. Schuld­be­wusst­sein, Süh­ne­be­dürf­nis oder Scham hat­ten kei­nen Platz.

Die »wah­ren Schul­di­gen« soll­ten bestraft, die gut­gläu­bi­gen Nazis aber – das war die vor­herr­schen­de Mei­nung – in Gna­den ent­las­sen wer­den. So setz­te sich ein Nazi-Begriff durch, der sich allein auf expo­nier­te Par­tei­funk­tio­nä­re, auf NS-Ver­bre­cher und KZ-Scher­gen redu­zier­te, nicht aber auf Zel­len­lei­ter und Block­war­te, auf Kas­sen­ver­wal­ter und Unter­füh­rer, die alle doch nur das »Beste für Deutsch­land und das deut­sche Volk« gewollt hatten.

Die­je­ni­gen, die jetzt die gigan­ti­sche Selbst­rei­ni­gung vor­nah­men – die Ver­tre­ter der neu­ge­schaf­fe­nen Par­tei­en –, waren zwar unbe­la­stet, aber über­for­dert, und jene, die in den Spruch- und Beru­fungs­kam­mern ihren Juri­sten­ver­stand bereits wie­der für die »deut­sche Sache« ein­setz­ten, einig­te vor allem das Bedürf­nis, mit der NS-Ver­gan­gen­heit end­lich Schluss zu machen. Vor allem Juri­sten, geübt in Anpas­sungs­fä­hig­keit und Oppor­tu­nis­mus, die jetzt mit den »Ent­sor­gungs­ar­bei­ten« der Ver­gan­gen­heit betraut waren, begrif­fen die ihnen über­tra­ge­ne Säu­be­rung ganz posi­ti­vi­stisch vor allem als Pro­ze­dur zur Ret­tung der eige­nen Kar­rie­re – und der ihrer Zunft­kol­le­gen. Waren sie nicht ledig­lich Voll­streckungs­be­am­te, die gel­ten­des Gesetz ange­wandt hat­ten? Und Treue zum Gesetz konn­te doch wohl nie­man­den zum Kri­mi­nel­len machen. Die­se Logik soll­te in den näch­sten Jah­ren zur eiser­nen Rechts­über­zeu­gung werden.

Ein schlech­tes Gewis­sen wegen ihrer Kom­pli­zen­schaft in der Nazi-Zeit konn­ten die Juri­sten so kaum ent­wickeln. Die Ver­ant­wor­tung für das, was gesche­hen war, bür­de­ten sie der poli­ti­schen Füh­rung auf. Selbst NS-Juri­sten, die sich im Hit­ler-Deutsch­land beson­ders eif­rig her­vor­ge­tan hat­ten, muss­ten um ihre Nach­kriegs­kar­rie­re nicht ban­gen. Tau­sen­de von bela­ste­ten Rich­tern wur­den also nicht nur ver­schont, sie durf­ten wie­der amtie­ren. Von die­ser Rich­ter­ge­ne­ra­ti­on war kaum ein Bei­trag zur Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung zu erwar­ten. Sowohl die insti­tu­tio­nel­le wie auch die per­so­nel­le Kon­ti­nui­tät war damit gesi­chert. Im Bon­ner Justiz­mi­ni­ste­ri­um agier­ten Juri­sten, die schon dem NS-Regime will­fäh­rig gedient hat­ten. Denn war­um soll­te für das Justiz­mi­ni­ste­ri­um nicht das­sel­be gel­ten wie für ande­re Mini­ste­ri­en, bei­spiels­wei­se das Aus­wär­ti­ge Amt, wo bei­na­he zwei Drit­tel der Beschäf­tig­ten ehe­ma­li­ge Natio­nal­so­zia­li­sten waren und nun die Aus­lands­po­li­tik der Deut­schen besorg­ten. Ade­nau­er beschwich­tig­te Kri­ti­ker mit dem Argu­ment, man kön­ne »doch ein Aus­wär­ti­ges Amt nicht auf­bau­en, wenn man nicht wenig­stens an den lei­ten­den Stel­len Leu­te hat, die von der Geschich­te von frü­her etwas ver­ste­hen«. Bei­spiels­wei­se Leu­te wie sein Kanz­ler­amts­se­kre­tär Dr. Hans Glob­ke, der nicht nur an der Aus­ar­bei­tung des »Blut­schutz­ge­set­zes« und des »Erb­ge­sund­heits­ge­set­zes« von 1935 betei­ligt gewe­sen war, son­dern sich auch als Kom­men­ta­tor der Ras­sen­ge­set­ze her­vor­ge­tan hat­te. Als Ras­sen­schan­de-Exper­te hat­te er auch 1942 an der Wann­see Kon­fe­renz über die »End­lö­sung« der Juden­fra­ge teilgenommen.

Frei­lich: Eine Vor­bild­funk­ti­on in Sachen »Ver­gan­gen­heits-Bewäl­ti­gung« konn­te für demo­kra­tisch gesinn­te West­ju­ri­sten auch die DDR-Justiz nicht sein. Schließ­lich hat­te es 1950 die »Wald­hei­mer Pro­zes­se« gege­ben, ein Schnell­ver­fah­ren, in dem im Sti­le der NS-Justiz zahl­rei­che Todes­ur­tei­le gegen ehe­ma­li­ge Natio­nal­so­zia­li­sten gefällt wor­den waren. Den Ange­klag­ten wur­den die ele­men­tar­sten Rech­te ver­wei­gert: Es gab weder eine Beweis­auf­nah­me noch eine Ver­tei­di­gung. Ent­la­stungs­zeu­gen wur­den nicht gehört. Die häu­fig­sten Vor­wür­fe lau­te­ten auf »Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit« und »wesent­li­che För­de­rung« des Hit­ler-Regimes. Es kam zu zahl­lo­sen Zucht­haus­stra­fen von zehn Jah­ren und mehr, allein in der Nacht vom 3. auf den 4. Novem­ber 1950 wur­den 24 Todes­ur­tei­le vollstreckt.

Aber nicht nur in den »Wald­heim-Pro­zes­sen« hat­te die »Sozia­li­sti­sche Ein­heits­par­tei Deutsch­lands« (SED) Regie geführt und die Justiz als ver­län­ger­ten Macht­ap­pa­rat instru­men­ta­li­siert. Was sich in den Gerichts­sä­len des jun­gen »Arbei­ter und Bau­ern­staa­tes« voll­zog, waren – kei­nes­wegs nur in poli­ti­schen Straf­ta­ten – häu­fig sta­li­ni­sti­sche Schau­pro­zes­se, die jeg­li­cher Rechts­staat­lich­keit ent­behr­ten. »Die Straf­ju­stiz sei eine poli­ti­sche Tat«, pro­pa­gier­te Hil­de Ben­ja­min, gna­den­lo­se Rich­te­rin in zahl­lo­sen Schau­pro­zes­sen – und emp­fahl sich mit ihren Ter­ror-Urtei­len für grö­ße­re Auf­ga­ben: Sie wur­de (bis 1967) DDR-Justizministerin.

Ver­hin­der­te Ermitt­lun­gen, groß­zü­gi­ges Ver­ständ­nis, laxe Urtei­le, zahl­lo­se Frei­sprü­che – das alles war cha­rak­te­ri­stisch für die BRD-Nach­kriegs­ju­stiz. Ob Poli­tik, Wirt­schaft, Wis­sen­schaft oder Ver­wal­tung: alle Namen der brau­nen Täter und Schreib­tisch­tä­ter zu nen­nen, die in der Ade­nau­er-Repu­blik rasch wie­der Schlüs­sel­stel­lun­gen ein­nah­men und ihre Kar­rie­ren fort­setz­ten – es bräuch­te eine mehr­bän­di­ge Enzy­klo­pä­die der umfas­sen­den »Inte­gra­ti­on der Täter«.

Die mei­sten Deut­schen woll­ten von der Ver­gan­gen­heit nichts mehr wis­sen, ganz im Sin­ne ihrer gewähl­ten Volks­ver­tre­ter. Nicht nur Ade­nau­er in den Fünf­zi­ger­jah­ren, auch danach hat­ten west­deut­sche Poli­ti­ker mit grif­fi­gen For­mu­lie­run­gen ihre Lands­leu­te immer wie­der dazu auf­ge­for­dert, doch mit der »ewi­gen Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung« abzu­schlie­ßen. So Franz-Josef Strauß, der schon früh dar­in eine »gesell­schaft­li­che Dau­er­bü­ßer­auf­ga­be« erken­nen woll­te und fest­stell­te, die Deut­schen sei­en »eine nor­ma­le Nati­on, die das Unglück hat­te, schlech­te Poli­ti­ker an der Spit­ze ihres Lan­des zu haben«. Hit­ler als Betriebs­un­fall? Die geschichts­klit­tern­de For­mel, die Deut­schen sei­en »Hit­lers Opfer« gewe­sen, das Drit­te Reich ein Werk einer Ban­de von Ver­bre­chern – das war zwar eine selt­sa­me, aber durch­aus ent­la­sten­de Vari­an­te, die kei­nes­wegs nur kon­ser­va­ti­ven Poli­ti­kern als Selbst­recht­fer­ti­gung diente.

Bald gal­ten ehe­ma­li­ge SS-Män­ner wie­der als anstän­di­ge Leu­te, konn­ten KZ-Scher­gen sich auf »Befehls­not­stand« beru­fen, hieß das neue Natio­nal­lied der Deut­schen: »Wir haben nichts gewusst.« Und es gab noch immer Recht­fer­ti­gun­gen. »Nicht alles, was war, war falsch gewe­sen«, so dach­ten – kaum waren die Trüm­mer des NS-Regimes zur Sei­te geräumt – vie­le, ja, die mei­sten Deut­schen. »Die Maschi­ne soll wie­der lau­fen«, hat­te Ade­nau­er gesagt. Und sie lief. Der Publi­zist Ralph Giord­a­no hat in sei­nem Buch Die zwei­te Schuld oder Von der Last Deut­scher zu sein die umfas­sen­de kol­lek­ti­ve Ver­drän­gung der NS-Ver­gan­gen­heit ein­drucks­voll beschrieben.

Sechs Jah­re Krieg, Wahn und Bar­ba­rei. Mehr als 60 Mil­lio­nen Tote. Der Holo­caust, der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch. In der west­deut­schen Erin­ne­rungs­kul­tur galt der 8. Mai 1945 den­noch mehr­heit­lich als Chif­fre der eige­nen Nie­der­la­ge und war Jahr­zehn­te vor allem mit den nega­ti­ven Fol­gen asso­zi­iert: Zusam­men­bruch, Ver­trei­bung, Besat­zung, deut­sche Tei­lung und Ver­lust von Hei­mat. Erst seit den 1960er- und 1970er-Jah­ren begann sich das lang­sam zu wan­deln, Gustav Hei­ne­mann (SPD) hielt 1970 als erster Bun­des­prä­si­dent eine Rede zum 8. Mai. Als erste Bun­des­re­gie­rung äußer­te sich 1970 auch die sozi­al-libe­ra­le Koali­ti­on unter Bun­de­kanz­ler Wil­ly Brandt (SPD) mit einer Regie­rungs­er­klä­rung zum Jah­res­tag. Den Begriff der Befrei­ung bezog er dabei jedoch expli­zit auf ande­re Völ­ker. Zu einem erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Wen­de­punkt wur­de erst die Rede des Bun­des­prä­si­den­ten Richard von Weiz­säcker im Jahr 1985. Der 8. Mai, so führ­te von Weiz­säcker im Deut­schen Bun­des­tag aus, sei für jene, die ihn erlebt haben, mit unter­schied­li­chen Erfah­run­gen ver­knüpft. Doch mit der Zeit sei der Blick kla­rer gewor­den auf das, was der Tag für die Gesell­schaft als Gan­zes bedeu­te: »Der 8. Mai war ein Tag der Befrei­ung. Er hat uns alle befreit von dem men­schen­ver­ach­ten­den System der natio­nal­so­zia­li­sti­schen Gewaltherrschaft.«

Bleibt die Fra­ge: Kann per­sön­li­che Schuld irgend­wann ver­ge­hen? Nein, sagt Alfred Gro­sser, der im Vor­jahr ver­stor­be­ne fran­zö­sisch-deut­sche Histo­ri­ker und Publi­zist, denn »das ver­gan­ge­ne Gesche­hen ist kei­nes­wegs abwe­send in der Gegen­wart, nur weil es ver­gan­gen ist«.

Buch-Tipp: Hel­mut Ort­ner, Volk im Wahn. Hit­lers Deut­sche oder Die Gegen­wart der Ver­gan­gen­heit, Edi­ti­on Faust, 296 S., 22 €.