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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kolonialsystem

Der erste Band des Haupt­wer­kes von Karl Marx, »Das Kapi­tal«, beginnt mit dem Kapi­tel über »Ware und Geld« und dem Hin­weis: Der Reich­tum der Gesell­schaf­ten, in wel­chen kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se herr­sche, erschei­ne als eine »unge­heu­re Warensammlung«.

In den fol­gen­den Kapi­teln wird der inne­re Mecha­nis­mus die­ser kapi­ta­li­sti­schen Pro­duk­ti­ons­wei­se ana­ly­siert. Im vor­letz­ten Kapi­tel ent­larvt Marx unter dem Titel »Die soge­nann­te ursprüng­li­che Akku­mu­la­ti­on« den Irr­glau­ben, der Kapi­ta­lis­mus sei durch einen Akt öko­no­mi­scher Ver­nunft, durch eine Art Gesell­schafts­ver­trag zwi­schen frei­en Men­schen unter­schied­li­cher Stän­de in die Welt gekom­men. Marx zeich­net die »Blut­ge­setz­ge­bung« nach, durch die gewalt­sam Mil­lio­nen Men­schen von ihrem Pri­vat­ei­gen­tum an Grund und Boden und eige­nen Pro­duk­ti­ons­mit­teln wie Werk­zeu­gen und Vieh getrennt und in die völ­li­ge Abhän­gig­keit von lohn­zah­len­den Unter­neh­mern hin­ein­ge­zwun­gen wor­den sind. Die­se Abhän­gig­keit, die Blut­spur des dama­li­gen Schöp­fungs­ak­tes, zieht sich bis in unse­re Gegenwart.

Jeder Autor eines gro­ßen Wer­kes über­legt sich mit Bedacht vor allem den ersten und den letz­ten Satz sei­nes Buches, sein erstes und sein letz­tes Kapi­tel, zwi­schen denen er den Bogen der Argu­men­ta­ti­on spannt. Das ist bei Marx nicht anders. Es ist daher kein Zufall, dass die­ses Buch, das mit der »Ware« beginnt, mit der »Kolo­ni­sa­ti­ons­theo­rie« und in die­sem letz­ten Kapi­tel mit den fol­gen­den Sät­zen endet: »Jedoch beschäf­tigt uns hier nicht der Zustand der Kolo­nien. Was uns allein inter­es­siert, ist das in der neu­en Welt von der poli­ti­schen Öko­no­mie der alten Welt ent­deck­te und laut pro­kla­mier­te Geheim­nis: kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons- und Akku­mu­la­ti­ons­wei­se, also auch kapi­ta­li­sti­sches Pri­vat­ei­gen­tum, bedin­gen die Ver­nich­tung des auf eig­ner Arbeit beru­hen­den Pri­vat­ei­gen­tums, d. h. die Expro­pria­ti­on des Arbeiters.«

Der Satz wider­legt die seit nun­mehr über 150 Jah­ren ver­brei­te­te Legen­de, die Kom­mu­ni­stin­nen und Kom­mu­ni­sten woll­ten das Pri­vat­ei­gen­tum abschaf­fen. Das ist des­halb ein so abge­schmack­ter Unsinn, wie Marx viel­leicht for­mu­liert hät­te, weil die­ses Pri­vat­ei­gen­tum für die Mas­se der Bevöl­ke­rung gewalt­sam durch die Pro­fi­teu­re des kapi­ta­li­sti­schen Systems bereits mit der Errich­tung die­ses Systems bis auf einen kläg­li­chen Rest, von dem nie­mand sei­ne Exi­stenz bestrei­ten kann, abge­schafft wurde.

Die bei­den letz­ten Sät­ze des »Kapi­tal« sind zuwei­len als Hin­weis gewer­tet wor­den, Marx wäre das Schick­sal der Kolo­nien der west­eu­ro­päi­schen Mäch­te weit­ge­hend egal gewe­sen. Weit gefehlt – immer wie­der empö­ren sich Marx und sein eng­ster Freund Fried­rich Engels über das Blut­bad, das der Kapi­ta­lis­mus bereits zu ihrer Zeit in den von den kapi­ta­li­sti­schen Natio­nen unter­drück­ten Tei­len der außer­eu­ro­päi­schen Welt anrich­ten, und begrü­ßen jeden Schritt der Gegen­wehr der unter­drück­ten Völ­ker. Der Haupt­zweck des »Kapi­tal« aber ist es, den Mecha­nis­mus offen­zu­le­gen, nach dem die­ses System bis heu­te funk­tio­niert. Und dazu schließt Marx das Buch ab mit dem Hin­weis, dass die Kolo­ni­sie­rung der außer­eu­ro­päi­schen Welt durch die (west-)europäischen Staa­ten wie das gan­ze System nicht funk­tio­nie­ren kann ohne die mas­sen­haf­te, gewalt­sa­me Zer­stö­rung der in die­ser Welt ent­stan­de­nen gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren – oder, wie er betont: »Man sah: die Expro­pria­ti­on der Volks­mas­se von Grund und Boden bil­det die Grund­la­ge der kapi­ta­li­sti­schen Produktionsweise.«

Die­ser inne­re Zusam­men­hang hat sich im wei­te­ren Ver­lauf der Geschich­te Jahr­zehnt für Jahr­zehnt bestä­tigt und rück­te des­halb mit inne­rer Logik ins Zen­trum der ana­ly­ti­schen Arbeit sol­cher in der Tra­di­ti­on von Marx und Engels ste­hen­den Theo­re­ti­ker wie Wla­di­mir Iljitsch Lenin und Rosa Luxemburg.

Ins­be­son­de­re in den Dis­kus­sio­nen inner­halb der Lin­ken in West­eu­ro­pa und den USA – also den bis vor kur­zem die Welt öko­no­misch, kul­tu­rell, poli­tisch und mili­tä­risch beherr­schen­den Tei­len des Glo­bus – gab es eine star­ke Ten­denz, die Abhän­gig­keit sowohl der Ent­ste­hung als auch der Ent­wick­lung des Kapi­ta­lis­mus von der Kolo­ni­sie­rung des Restes der Welt zu unter­schät­zen. Das wider­spie­gel­te sich in einem »Aus­ein­an­der­drif­ten« des vom ita­lie­ni­schen Mar­xi­sten Dome­ni­co Losur­do (»Der west­li­che Mar­xis­mus – Wie er ent­stand, ver­schied und auf­er­ste­hen könn­te«, Köln 2021) so bezeich­ne­ten »west­li­chen« vom »öst­li­chen Mar­xis­mus«. Auch dank sei­ner kla­ren Posi­tio­nen setzt sich nun auch im Westen zuneh­mend die Ein­sicht durch, die, aus­ge­hend von Lenin und Luxem­burg bei Revo­lu­tio­nä­ren wie Fidel Castro, Che Gue­va­ra, Ho Chi Minh bis hin zu Xi Jing­ping außer­halb die­ses über die sozia­li­sti­schen Revo­lu­tio­nen die­ser Sphä­ren zuwei­len nase­rümp­fen­den west­li­chen Krei­se All­ge­mein­gut gewor­den ist: Es kann kei­nen welt­wei­ten Sieg des Sozia­lis­mus, geschwei­ge denn die Errich­tung des Kom­mu­nis­mus geben, ohne die natio­na­le Befrei­ung der vom west­eu­ro­päi­schen und US-ame­ri­ka­ni­schen Kapi­ta­lis­mus aus­ge­hen­de Kolo­ni­sie­rung der Welt zu voll­enden. Weil das so ist, rückt objek­tiv der Kampf gegen die ver­zwei­fel­ten Bemü­hun­gen des USA/EU/­Ja­pan-Blocks, mit Waf­fen­ge­walt ihren Abstieg im Kampf gegen ihre alten Kolo­nien zu ver­hin­dern, in den Mit­tel­punkt aller revo­lu­tio­nä­ren Tätig­keit auch in die­sen Zen­tren des Impe­ria­lis­mus. Letzt­lich liegt dies in der Logik, den Marx im »Kapi­tal« von der »Ware« zum »Kolo­ni­al­sy­stem« spannt. Erst die Besei­ti­gung des Kolo­ni­al­sy­stems erlaubt die Über­win­dung der Ware als öko­no­mi­scher Kate­go­rie, unter deren Knecht­schaft die gan­ze Welt gezwun­gen wird. Alles ande­re ist Traumtänzerei.

Das Zeit­maß, in dem sich Umwäl­zun­gen die­ser Grö­ßen­ord­nun­gen voll­zie­hen, sind weder Wochen noch Mona­te oder Jah­re, son­dern Jahr­zehn­te und Jahr­hun­der­te. Deut­lich wur­de das kürz­lich in einem mit »Der Geist von Bandung« beti­tel­ten Arti­kel von Matthew Read (unse­re zeit, 18. April 2025) zum 70. Jah­res­tag der anti­ko­lo­nia­len Kon­fe­renz in Indo­ne­si­en, die vom 18. bis 24. April 1955 dau­er­te und vom ihm zu Recht als »ein ent­schei­den­der Moment des Jahr­hun­derts« gefei­ert wur­de. Die­ser Geist von Bandung hängt eng zusam­men mit der Nie­der­la­ge des deut­schen Faschis­mus und des japa­ni­schen Mili­ta­ris­mus zehn Jah­re zuvor, die das Tor zum Erstar­ken der anti­ko­lo­nia­len Befrei­ungs­be­we­gung weit geöff­net hat­te: »Tau­sen­de von Kolo­ni­al­sol­da­ten kehr­ten nach Hau­se zurück und grif­fen zu den Waf­fen gegen die Besat­zer, denen sie gera­de gehol­fen hat­ten, sich vom Faschis­mus zu befrei­en. (…) Nach und nach wur­de die direk­te Kolo­ni­al­herr­schaft in Afri­ka und Asi­en gestürzt. Wäh­rend zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts etwa 70 Pro­zent der Welt­be­völ­ke­rung unter dem impe­ria­li­sti­schen Kolo­ni­al­sy­stem leb­ten, waren es nach 1960 nur noch knapp 5 Pro­zent. Bandung war somit der Anfang vom Ende der ersten Pha­se der natio­na­len Befrei­ung.« Und Read hat völ­lig recht, wenn er anfügt: »Die­ser Kampf setzt sich bis heu­te fort.«

Ihn bis zum Sieg, bis zur Besei­ti­gung des von Marx als zen­tra­lem Bau­stein des Kapi­ta­lis­mus erkann­ten Kolo­ni­al­sy­stems zu füh­ren – das ist das Wesen der Etap­pe im gro­ßen Epo­chen­über­gang vom Kapi­ta­lis­mus zum Sozia­lis­mus, in der wir uns in die­ser ver­wir­ren­den und gefähr­li­chen Zeit befinden.