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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kriegswahn

Die Nar­ra­ti­ve zu »Putins Angriffs­krieg« und sei­ner Absicht, sich auch West­eu­ro­pa ein­zu­ver­lei­ben, funk­tio­nie­ren nur dann, wenn histo­ri­sche Fak­ten syste­ma­tisch unter­drückt wer­den. Nur so kann man behaup­ten, im Ukrai­ne­krieg wür­den Demo­kra­tie und Frei­heit Euro­pas ver­tei­digt, und wir müss­ten des­halb kriegs­tüch­tig werden.

Der ent­schei­den­de stra­te­gi­sche Vor­teil gegen­über Russ­land gelang dem »Westen« durch die Erobe­rung der Deu­tungs­ho­heit in der öffent­li­chen Mei­nungs­bil­dung. Die west­li­chen Nar­ra­ti­ve bestim­men, wann die Geschich­te des Ukrai­ne- und des Gaza-Krie­ges beginnt, wer schuld und wer der Feind ist; sie len­ken unse­re Auf­merk­sam­keit und bestim­men, was wir nicht erfah­ren dür­fen; sie legen fest, was gut und was böse ist und dass Kon­flik­te durch Gewalt zu lösen sind. Nicht ein Füh­rer oder ein Wahr­heits­mi­ni­ste­ri­um bestim­men dar­über, wie wir Ereig­nis­se zu bewer­ten haben, son­dern ein mäch­ti­ges Netz­werk von Polit­kern und Mana­gern aus Kon­zer­nen, Medi­en, Ver­bän­den und Think Tanks. Nur aus den Berich­ten in alter­na­ti­ven Medi­en erfah­ren wir, was uns vor­ent­hal­ten oder ten­den­zi­ös erzählt wird.

Die­ses Netz­werk hat es geschafft, Geschichts­lü­gen zur herr­schen­den Dok­trin zu erhe­ben und jeden zu exkom­mu­ni­zie­ren und zu stra­fen, der dage­gen die Stim­me erhebt. Staat­li­che Insti­tu­tio­nen und Leit­me­di­en mar­schie­ren im Gleich­schritt an der Spit­ze der kriegs­tüch­ti­gen Nati­on. Laut Car­sten Breu­er, Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr sei allen Sol­da­ten klar, »dass wir kämp­fen kön­nen und gewin­nen wol­len, weil wir gewin­nen müs­sen«. Die­sen Wahn­sinn ver­brei­tet der Mann auf der »Sicher­heits­ta­gung« des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) vor Exper­ten aus Wirt­schaft, Wis­sen­schaft und Sicher­heits­be­hör­den. Vor zwei Jah­ren hat­te der Prä­si­dent des BfV, Tho­mas Hal­den­wang, die Fak­ten, die Ost­erwei­te­rung der Nato habe Russ­land unter Druck gesetzt und der Krieg sei auch eine Reak­ti­on auf die Ver­let­zung sei­ner Sicher­heits­in­ter­es­sen, für rus­si­sche Pro­pa­gan­da erklärt. Der belie­bi­ge Umgang mit der Wahr­heit ist also nicht eine Spe­zia­li­tät des US-Präsidenten.

Der­zeit ver­brei­tet eine Histo­ri­ke­rin im Maga­zin Focus, Sahra Wagen­knecht sei Teil der Plä­ne Russ­lands, Deutsch­land zu desta­bi­li­sie­ren. Deren Kri­tik an der bei­spiel­lo­sen Hoch­rü­stung kom­me der Pro­pa­gan­da rus­si­scher Staats­me­di­en sehr nahe. In mei­nungs­bil­den­den Medi­en hofier­te Prot­ago­ni­sten dre­hen in ihrem Eifer durch. »Wäre ich Putin, wür­de ich schon 2028 kom­men«, ver­kün­det der SPD-Poli­ti­ker Sig­mar Gabri­el, nun auch im Auf­sichts­rat ver­schie­de­ner kriegs­wich­ti­ger Kon­zer­ne und Vor­sit­zen­der der Atlan­tik­brücke. Und die noto­ri­sche Rüstungs­lob­by­istin Strack-Zim­mer­mann (FDP und Euro­päi­sches Par­la­ment) kennt in ihrem Eifer kei­ne Gren­zen mehr: Putin habe hun­der­te Mil­lio­nen Men­schen unter die Erde gebracht, und die Ukrai­ne ernäh­re 70 Mil­li­ar­den Men­schen. Eine Het­ze – wider alle Ver­nunft und Mathe­ma­tik, ent­ge­gen allen histo­ri­schen Fak­ten. Dann wer­den aber zur Demo­kra­tie-Simu­la­ti­on vom Bun­des­tag Bür­ger­rä­te ein­be­ru­fen, die der Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­rin fei­er­lich ein Gut­ach­ten »gegen Fakes« über­rei­chen – natür­lich nicht gegen die Fakes der Machtelite.

Die Haupt­ak­teu­re der Pro­pa­gan­da stei­gern sich in eine gefähr­li­che Wahn­welt. Der Phi­lo­soph und Publi­zist Richard David Precht kon­sta­tiert in einem Inter­view, dass wir uns in immer grö­ße­re Bedro­hungs­sze­na­ri­en stei­gern und die­se all­mäh­lich mit der Rea­li­tät ver­wech­seln. Die Behaup­tun­gen wür­den stän­dig wie­der­holt, bis die Men­schen sie für wahr hal­ten: ein sich ver­selb­stän­di­gen­der Pro­zess zum Mas­sen­wahn. Dan­ke, Precht: Es wirkt gera­de­zu befrei­end, eine sol­che kla­re auf­rüt­teln­de Dia­gno­se zu hören.

Sein ver­all­ge­mei­nern­des »wir« stimmt aller­dings nicht: Nicht wir stei­gern uns in den Wahn. Es gibt viel­mehr Pro­pa­gan­di­sten und Insti­tu­tio­nen, die auf den Mas­sen­wahn hin­ar­bei­ten und uns in täg­li­chen Nach­rich­ten eine ver­lo­ge­ne Rea­li­tät ein­häm­mern oder im Schul­un­ter­richt Feind­bil­der auf­bau­en. Dar­aus resul­tiert eine gedrück­te gesell­schaft­li­che Stim­mungs­la­ge, zumal die Kriegs­vor­be­rei­tun­gen spür­ba­re wirt­schaft­lich-sozia­le Fol­gen für die Bevöl­ke­rung haben. Der Mas­sen­wahn wird zwar gezielt geför­dert, aber er hat nicht alle erfasst. Gibt es erkenn­ba­re Unter­schie­de, wie Men­schen auf die All­ge­gen­wart der Pro­pa­gan­da gegen den Erz­feind Russ­land und auf die ange­streb­te Kriegs­men­ta­li­tät reagie­ren? Wie gehen die Men­schen mit Angst, Ver­trau­ens­ver­lust und Ohn­machts­ge­füh­len ange­sichts der von der Macht­eli­te geschür­ten über­wäl­ti­gen­den Kriegs­stim­mung um?

Es las­sen sich vier Ver­hal­ten­sten­den­zen beob­ach­ten; sie spie­geln sich auch in der Par­tei­prä­fe­renz. Eine rela­ti­ve Mehr­heit ver­in­ner­licht die anti­rus­si­sche Pro­pa­gan­da, lebt in Angst und ver­traut auf Insti­tu­tio­nen; das Demo­kra­tie­ver­ständ­nis ist auf Teil­nah­me an Wah­len redu­ziert. An Ein­fluss gewon­nen hat eine zwei­te Popu­la­ti­on, die nicht die bestehen­den Ver­hält­nis­se, aber den Life­style im Sin­ne eige­ner Pri­vi­le­gi­en ändern möch­te, sich dabei mit dem Staat iden­ti­fi­ziert und mis­sio­na­risch Feind­bil­der pflegt und Kriegs­het­ze betreibt. In Deutsch­land wie in der EU erstarkt eine drit­te Grup­pe, die Poli­tik­zie­le auf­grund der eige­nen benach­tei­lig­ten Lage ändern will, die Eli­ten ablehnt, dabei aber von Res­sen­ti­ments und men­schen­feind­li­chen Ideo­lo­gien gelei­tet wird. Schließ­lich sind die­je­ni­gen zu nen­nen, die das herr­schen­de Wirt­schafts- und Macht­sy­stem kri­ti­sie­ren und ändern wol­len. Ihr Ziel ist nicht die Abschaf­fung der Demo­kra­tie, son­dern ihre rea­le Ver­wirk­li­chung. Stär­ke und Zusam­men­set­zung die­ser sche­ma­tisch cha­rak­te­ri­sier­ten Kohor­ten ver­än­dern sich, aber all­ge­mein gilt: Je irra­tio­na­ler und rück­sichts­lo­ser die Macht­eli­te ihre Inter­es­sen durch­setzt, umso mehr stärkt sie Resi­gna­ti­on, oder aber Res­sen­ti­ments und feind­se­li­ges Aus­agie­ren der Wut und Ohnmacht.

Gegen den regie­rungs­ge­ne­rier­ten Wahn – Kriegs­tüch­tig­keit, Kriegs­men­ta­li­tät, Auf­rü­stung, gewalt­sa­me Kriegs­ver­län­ge­rung, Kriegs­pro­pa­gan­da für Kin­der – lei­stet der­zeit fast nur die letz­te Grup­pe Wider­stand. Da sie zah­len­mä­ßig in der Min­der­heit ist und ihre Akti­vi­tät durch repres­si­ve Maß­nah­men des Staa­tes mas­siv ein­ge­schränkt wird, ist ihr poli­ti­scher Ein­fluss aktu­ell gering; von einer kri­ti­schen Mas­sen­be­we­gung wie in den acht­zi­ger Jah­ren kann kei­ne Rede sein.

Aus histo­ri­schen Erfah­run­gen weiß man, dass Demo­kra­tie nicht mit einem Schlag abge­schafft wird, son­dern mit klei­nen, unspek­ta­ku­lär erschei­nen­den Maß­nah­men, die von der Mehr­heits­be­völ­ke­rung hin­ge­nom­men wer­den. Die­se Schritt­chen zum auto­ri­tä­ren, mili­ta­ri­sti­schen Staat erle­ben wir gera­de: Hun­der­te Mil­li­ar­den für Auf­rü­stung, zu Lasten der brei­ten Bevöl­ke­rung? Kaum Pro­test. Nar­ra­ti­ve der Leit­me­di­en, die zur Ukrai­ne und zu Palä­sti­na nur regie­rungs­hö­ri­ge, ten­den­ziö­se und mani­pu­la­ti­ve Ver­laut­ba­run­gen ver­brei­ten? Man muss sie ja nicht lesen. Die unde­mo­kra­ti­sche »Staats­rä­son« dient als Begrün­dung für die deut­sche Unter­stüt­zung zu Völ­ker­mord; das wird genau­so hin­ge­nom­men wie die Aus­wei­sung, Ver­ban­nung, Denun­zie­rung von Kri­ti­kern der israe­li­schen Regie­rung, wel­che offen für die Ver­trei­bung und teils auch Ver­nich­tung der Palä­sti­nen­ser in Groß­is­ra­el ein­tritt. Auf­tritts­ver­bo­te für UN-Beauf­trag­te und kri­ti­sche Juden, wenn sie nicht die amt­li­che Linie ver­tre­ten, Aus­schluss rus­si­scher Diplo­ma­ten von Gedenk­ver­an­stal­tun­gen zum Sieg über den Faschis­mus. Hun­der­te von kri­ti­schen Ver­an­stal­tun­gen ver­bo­ten, jede Frie­dens­in­itia­ti­ve von EU-Poli­ti­kern ver­dammt – die mei­sten neh­men all das schwei­gend hin.

Ohne eine star­ke Bewe­gung für Frie­den und Demo­kra­tie ist eine düste­re Ent­wick­lung in Deutsch­land und in der EU abzu­se­hen: Eine mas­si­ve Auf­rü­stung und die För­de­rung der Kriegs­tüch­tig­keit ver­schär­fen die sozia­len und poli­ti­schen Gegen­sät­ze und desta­bi­li­sie­ren die Psy­che. Rech­te Kräf­te erstar­ken noch mehr und eben­so die Repres­si­on des Sicher­heits­staa­tes: ein Teufelskreis.

Welch beschä­men­der Wider­sinn: Es bleibt dem auto­ri­tä­ren Prä­si­den­ten Orbán über­las­sen, gegen den ent­schie­de­nen Wider­stand der EU eine Frie­dens­di­plo­ma­tie mit Selen­skyj, Putin und Trump zu begin­nen. Der slo­wa­ki­sche Prä­si­dent Fico muss sein Recht gegen die unge­heu­er­li­chen EU-Ver­bo­te der Teil­nah­me an den Fei­er­lich­kei­ten zum 80. Jah­res­tag des Kriegs­en­des in Mos­kau behaup­ten. Sei­ne Begrün­dung an die EU-Außen­be­auf­trag­te ist lesens­wert: »Ms. Kal­las, I would like to inform you that I am the legi­ti­ma­te Prime Mini­ster of Slo­va­kia – a sove­reign coun­try (…) I will go to Mos­cow to pay tri­bu­te to the thou­sands of Red Army sol­diers who died libe­ra­ting Slo­va­kia, as well as to the mil­li­ons of other vic­tims of Nazi ter­ror (…) And let me remind you that I am one of the few in the EU who con­sist­ent­ly speaks about the need for peace in Ukrai­ne and does not sup­port the con­ti­nua­tion of this sen­se­l­ess war.«

Trotz aller ver­lo­ge­nen Nar­ra­ti­ve: Der Stell­ver­tre­ter­krieg in der Ukrai­ne hät­te ver­mie­den wer­den kön­nen und müs­sen. Der Krieg in Gaza und in der West­bank hät­te vom Westen ver­hin­dert wer­den kön­nen. Wei­te­re Krie­ge, der Wahn des Mili­ta­ris­mus müs­sen jetzt ver­hin­dert wer­den. Das ist das Gebot der Ver­nunft, der Selbst­ach­tung und der Mensch­lich­keit. Wel­che Welt wol­len wir unse­ren Nach­kom­men hinterlassen?