Die Narrative zu »Putins Angriffskrieg« und seiner Absicht, sich auch Westeuropa einzuverleiben, funktionieren nur dann, wenn historische Fakten systematisch unterdrückt werden. Nur so kann man behaupten, im Ukrainekrieg würden Demokratie und Freiheit Europas verteidigt, und wir müssten deshalb kriegstüchtig werden.
Der entscheidende strategische Vorteil gegenüber Russland gelang dem »Westen« durch die Eroberung der Deutungshoheit in der öffentlichen Meinungsbildung. Die westlichen Narrative bestimmen, wann die Geschichte des Ukraine- und des Gaza-Krieges beginnt, wer schuld und wer der Feind ist; sie lenken unsere Aufmerksamkeit und bestimmen, was wir nicht erfahren dürfen; sie legen fest, was gut und was böse ist und dass Konflikte durch Gewalt zu lösen sind. Nicht ein Führer oder ein Wahrheitsministerium bestimmen darüber, wie wir Ereignisse zu bewerten haben, sondern ein mächtiges Netzwerk von Politkern und Managern aus Konzernen, Medien, Verbänden und Think Tanks. Nur aus den Berichten in alternativen Medien erfahren wir, was uns vorenthalten oder tendenziös erzählt wird.
Dieses Netzwerk hat es geschafft, Geschichtslügen zur herrschenden Doktrin zu erheben und jeden zu exkommunizieren und zu strafen, der dagegen die Stimme erhebt. Staatliche Institutionen und Leitmedien marschieren im Gleichschritt an der Spitze der kriegstüchtigen Nation. Laut Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr sei allen Soldaten klar, »dass wir kämpfen können und gewinnen wollen, weil wir gewinnen müssen«. Diesen Wahnsinn verbreitet der Mann auf der »Sicherheitstagung« des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) vor Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Sicherheitsbehörden. Vor zwei Jahren hatte der Präsident des BfV, Thomas Haldenwang, die Fakten, die Osterweiterung der Nato habe Russland unter Druck gesetzt und der Krieg sei auch eine Reaktion auf die Verletzung seiner Sicherheitsinteressen, für russische Propaganda erklärt. Der beliebige Umgang mit der Wahrheit ist also nicht eine Spezialität des US-Präsidenten.
Derzeit verbreitet eine Historikerin im Magazin Focus, Sahra Wagenknecht sei Teil der Pläne Russlands, Deutschland zu destabilisieren. Deren Kritik an der beispiellosen Hochrüstung komme der Propaganda russischer Staatsmedien sehr nahe. In meinungsbildenden Medien hofierte Protagonisten drehen in ihrem Eifer durch. »Wäre ich Putin, würde ich schon 2028 kommen«, verkündet der SPD-Politiker Sigmar Gabriel, nun auch im Aufsichtsrat verschiedener kriegswichtiger Konzerne und Vorsitzender der Atlantikbrücke. Und die notorische Rüstungslobbyistin Strack-Zimmermann (FDP und Europäisches Parlament) kennt in ihrem Eifer keine Grenzen mehr: Putin habe hunderte Millionen Menschen unter die Erde gebracht, und die Ukraine ernähre 70 Milliarden Menschen. Eine Hetze – wider alle Vernunft und Mathematik, entgegen allen historischen Fakten. Dann werden aber zur Demokratie-Simulation vom Bundestag Bürgerräte einberufen, die der Bundesinnenministerin feierlich ein Gutachten »gegen Fakes« überreichen – natürlich nicht gegen die Fakes der Machtelite.
Die Hauptakteure der Propaganda steigern sich in eine gefährliche Wahnwelt. Der Philosoph und Publizist Richard David Precht konstatiert in einem Interview, dass wir uns in immer größere Bedrohungsszenarien steigern und diese allmählich mit der Realität verwechseln. Die Behauptungen würden ständig wiederholt, bis die Menschen sie für wahr halten: ein sich verselbständigender Prozess zum Massenwahn. Danke, Precht: Es wirkt geradezu befreiend, eine solche klare aufrüttelnde Diagnose zu hören.
Sein verallgemeinerndes »wir« stimmt allerdings nicht: Nicht wir steigern uns in den Wahn. Es gibt vielmehr Propagandisten und Institutionen, die auf den Massenwahn hinarbeiten und uns in täglichen Nachrichten eine verlogene Realität einhämmern oder im Schulunterricht Feindbilder aufbauen. Daraus resultiert eine gedrückte gesellschaftliche Stimmungslage, zumal die Kriegsvorbereitungen spürbare wirtschaftlich-soziale Folgen für die Bevölkerung haben. Der Massenwahn wird zwar gezielt gefördert, aber er hat nicht alle erfasst. Gibt es erkennbare Unterschiede, wie Menschen auf die Allgegenwart der Propaganda gegen den Erzfeind Russland und auf die angestrebte Kriegsmentalität reagieren? Wie gehen die Menschen mit Angst, Vertrauensverlust und Ohnmachtsgefühlen angesichts der von der Machtelite geschürten überwältigenden Kriegsstimmung um?
Es lassen sich vier Verhaltenstendenzen beobachten; sie spiegeln sich auch in der Parteipräferenz. Eine relative Mehrheit verinnerlicht die antirussische Propaganda, lebt in Angst und vertraut auf Institutionen; das Demokratieverständnis ist auf Teilnahme an Wahlen reduziert. An Einfluss gewonnen hat eine zweite Population, die nicht die bestehenden Verhältnisse, aber den Lifestyle im Sinne eigener Privilegien ändern möchte, sich dabei mit dem Staat identifiziert und missionarisch Feindbilder pflegt und Kriegshetze betreibt. In Deutschland wie in der EU erstarkt eine dritte Gruppe, die Politikziele aufgrund der eigenen benachteiligten Lage ändern will, die Eliten ablehnt, dabei aber von Ressentiments und menschenfeindlichen Ideologien geleitet wird. Schließlich sind diejenigen zu nennen, die das herrschende Wirtschafts- und Machtsystem kritisieren und ändern wollen. Ihr Ziel ist nicht die Abschaffung der Demokratie, sondern ihre reale Verwirklichung. Stärke und Zusammensetzung dieser schematisch charakterisierten Kohorten verändern sich, aber allgemein gilt: Je irrationaler und rücksichtsloser die Machtelite ihre Interessen durchsetzt, umso mehr stärkt sie Resignation, oder aber Ressentiments und feindseliges Ausagieren der Wut und Ohnmacht.
Gegen den regierungsgenerierten Wahn – Kriegstüchtigkeit, Kriegsmentalität, Aufrüstung, gewaltsame Kriegsverlängerung, Kriegspropaganda für Kinder – leistet derzeit fast nur die letzte Gruppe Widerstand. Da sie zahlenmäßig in der Minderheit ist und ihre Aktivität durch repressive Maßnahmen des Staates massiv eingeschränkt wird, ist ihr politischer Einfluss aktuell gering; von einer kritischen Massenbewegung wie in den achtziger Jahren kann keine Rede sein.
Aus historischen Erfahrungen weiß man, dass Demokratie nicht mit einem Schlag abgeschafft wird, sondern mit kleinen, unspektakulär erscheinenden Maßnahmen, die von der Mehrheitsbevölkerung hingenommen werden. Diese Schrittchen zum autoritären, militaristischen Staat erleben wir gerade: Hunderte Milliarden für Aufrüstung, zu Lasten der breiten Bevölkerung? Kaum Protest. Narrative der Leitmedien, die zur Ukraine und zu Palästina nur regierungshörige, tendenziöse und manipulative Verlautbarungen verbreiten? Man muss sie ja nicht lesen. Die undemokratische »Staatsräson« dient als Begründung für die deutsche Unterstützung zu Völkermord; das wird genauso hingenommen wie die Ausweisung, Verbannung, Denunzierung von Kritikern der israelischen Regierung, welche offen für die Vertreibung und teils auch Vernichtung der Palästinenser in Großisrael eintritt. Auftrittsverbote für UN-Beauftragte und kritische Juden, wenn sie nicht die amtliche Linie vertreten, Ausschluss russischer Diplomaten von Gedenkveranstaltungen zum Sieg über den Faschismus. Hunderte von kritischen Veranstaltungen verboten, jede Friedensinitiative von EU-Politikern verdammt – die meisten nehmen all das schweigend hin.
Ohne eine starke Bewegung für Frieden und Demokratie ist eine düstere Entwicklung in Deutschland und in der EU abzusehen: Eine massive Aufrüstung und die Förderung der Kriegstüchtigkeit verschärfen die sozialen und politischen Gegensätze und destabilisieren die Psyche. Rechte Kräfte erstarken noch mehr und ebenso die Repression des Sicherheitsstaates: ein Teufelskreis.
Welch beschämender Widersinn: Es bleibt dem autoritären Präsidenten Orbán überlassen, gegen den entschiedenen Widerstand der EU eine Friedensdiplomatie mit Selenskyj, Putin und Trump zu beginnen. Der slowakische Präsident Fico muss sein Recht gegen die ungeheuerlichen EU-Verbote der Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau behaupten. Seine Begründung an die EU-Außenbeauftragte ist lesenswert: »Ms. Kallas, I would like to inform you that I am the legitimate Prime Minister of Slovakia – a sovereign country (…) I will go to Moscow to pay tribute to the thousands of Red Army soldiers who died liberating Slovakia, as well as to the millions of other victims of Nazi terror (…) And let me remind you that I am one of the few in the EU who consistently speaks about the need for peace in Ukraine and does not support the continuation of this senseless war.«
Trotz aller verlogenen Narrative: Der Stellvertreterkrieg in der Ukraine hätte vermieden werden können und müssen. Der Krieg in Gaza und in der Westbank hätte vom Westen verhindert werden können. Weitere Kriege, der Wahn des Militarismus müssen jetzt verhindert werden. Das ist das Gebot der Vernunft, der Selbstachtung und der Menschlichkeit. Welche Welt wollen wir unseren Nachkommen hinterlassen?