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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lebensfahrt mit Fontane

Der Lebens­lauf, die Lebens­fahrt der Schrift­stel­le­rin Gise­la Hel­ler begann im Jah­re 1929 und ende­te 2025. Die Geschich­te ihres Lebens bie­tet sie in »Mei­ne Irrun­gen, Wir­run­gen« dar, die Auto­bio­gra­fie liegt jetzt als E-Buch vor (eine gedruck­te Aus­ga­be ist zur­zeit nicht ver­füg­bar). Der Fon­ta­ne-Anklang des Titels ist nicht zufäl­lig. Man darf im Mei­ster­schrift­stel­ler getrost das Rich­tungs­zei­chen ihres eige­nen Autorin­nen­le­bens erken­nen, das vie­le Facet­ten des Schrei­bens (beson­ders Rund­funk- und Fern­seh­ar­beit) kennt, aber sich immer wie­der und haupt­säch­lich dem Mär­ki­schen und Fon­ta­ne nähert. Damit gelan­gen ihr zu DDR-Zei­ten gro­ße Ver­kaufs­er­fol­ge, also Bestseller.

Wäh­rend Fon­ta­ne in »Irrun­gen, Wir­run­gen« die bit­ter enden­de Som­mer­lie­bes­ge­schich­te der Plät­te­rin Lene Nimptsch und des Barons Rie­näcker in der zwei­ten Hälf­te der 1870er Jah­re erzählt, nimmt Gise­la Hel­ler unter Hin­zu­fü­gung eines Pos­ses­siv­pro­no­mens ihre Lebens­ge­schich­te in die Betrach­tung. Die ist reich an Auf und Ab, an Hin und Her. Mit einem Zitat aus »Effi Briest« (»Die Welt ist nun ein­mal, wie sie ist, und die Din­ge ver­lau­fen nicht so, wie wir wol­len, son­dern wie die andern wol­len.«) hebt eine lan­ge, lan­ge Lebens­ge­schich­te an, die Pri­va­tes geschickt mit der Geschich­te des Lan­des ver­webt, in dem sich die­ses Leben ereig­ne­te. Wenn auch mit­un­ter der Erzähl­ton etwas bie­der klingt: »Als die alten Herr­schaf­ten untrüg­lich zur Ruhe gegan­gen waren, hör­te ich die Die­len im Ess­zim­mer knar­ren, und Hans­jo­chen leg­te sich zu mir. Ganz selbst­ver­ständ­lich. Wir erzähl­ten noch lan­ge Döne­kens aus unse­rem Leben …«, so hat man doch stets das Gefühl, dass man erfährt, wie es der Autorin erging und wie ihr zumu­te war, und dass kaum ein­mal beschö­nigt wird. Das ist ein Plus einer Auto­bio­gra­fie, zumal ein Leben geschil­dert wird, das reich an Begeg­nun­gen war, z. B. mit Schrift­stel­lern wie Mar­tin Ander­sen-Nexö, Horst Bese­ler, Her­bert Otto, Fried­rich Schlot­ter­beck, der Fern­seh­grö­ße Her­bert Köfer. Aber: »Chri­sta und Ger­hard Wolf hiel­ten sich eher zurück.«

Der Reich­tum die­ses Lebens, sei­ne Fül­le pro­du­zie­ren in der Schil­de­rung man­che Län­ge und Wie­der­ho­lung, z.B. die Dar­stel­lung der Ungarn­rei­sen. Auch die eine oder ande­re Unsi­cher­heit in Ortho­gra­fie und Aus­druck fällt auf. Nun kann man einer Auto­bio­gra­fie nichts von ihrer Län­ge neh­men, aber eine Kor­rek­tur könn­te nicht scha­den und Gutes noch bes­ser machen. Men­schen, die in die­sem Teil Deutsch­lands gelebt haben, wer­den viel von sich wie­der­fin­den, kurz: ihre Lebens­wirk­lich­keit. Und jün­ge­re Men­schen könn­ten durch die Lek­tü­re vie­les erfah­ren und man­ches begrei­fen, das sie vor eili­gem Urteil bewahrt. Ganz unauf­dring­lich erlebt man hier Geschich­te als Lebens­ge­schich­te, weil das Erzähl­te, im besten Fontane‘schen Sin­ne, oft iro­nisch unter­lau­fen wird. Über­haupt ist der Rekurs auf Fon­ta­ne (Gise­la Hel­ler hat auch eine Erzäh­lung über Emi­lie, Fon­ta­nes Ehe­frau, geschrie­ben!) zu loben. Dies umso mehr, als in einem Pro­spekt, der Pen­si­ons­zim­mer in hie­si­ger Gegend anpreist, auch auf die Mög­lich­keit einer Über­nach­tung in Zer­ben ver­wie­sen wird. (Im dor­ti­gen Schloss wur­de Eli­sa­beth von Plo­tho, verh. von Arden­ne, gebo­ren, das Vor­bild der Effi Briest.) Dort kön­ne man sich »aus­söh­nen« mit einem »voll­kom­men über­schätz­ten lite­ra­ri­schen Werk (…) ›Effi Briest‹«. Nun, die kraft­vol­le Aneig­nung Fon­ta­nes durch Gise­la Hel­ler zeigt, dass man die­ses Werk gar nicht über­schät­zen kann.

Gise­la Hel­ler: Mei­ne Irrun­gen, Wir­run­gen. E-Buch, Edi­ti­on digi­tal, Pin­now 2020, 700 S. (gedruck­te Aus­ga­be), 10,99 €.