Die Grenze ist ein Ort der Entscheidung. Juristisch gesehen markiert sie den Übergang von Zuständigkeiten, politisch jedoch ist sie längst zur Projektionsfläche verkommen – für Ängste, für Machtinszenierungen, für die Behauptung einer Ordnung, die sich in ihrer Darstellung selbst genügt. Im Juni 2025 wurde diese Grenze neu gezogen: nicht in Beton oder Stacheldraht, sondern in der juristischen Realität. Das Verwaltungsgericht Berlin erklärte mehrere Zurückweisungen von Asylsuchenden an deutschen Grenzen für unionsrechtswidrig. Ein Urteil von bemerkenswerter Klarheit – und von explosiver Wirkung.
Es war, als hätte ein Tropfen den rhetorischen Damm gebrochen. Noch bevor die juristischen Feinheiten des Urteils durchdrangen, hatten sich die Trommeln der Entrüstung formiert. Da war vom »Einzelfall« die Rede, von einer »politisch motivierten Entscheidung« und von einer angeblichen »Zuständigkeitskonstruktion«, mit der eine grünlastige Richterkammer sich anmaßte, Exekutivpolitik zu durchkreuzen. Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) beeilte sich, die Entscheidung als nicht bindend zu deklarieren – und verkündete im selben Atemzug, man werde an der bisherigen Zurückweisungspraxis festhalten. Die Exekutive als Herrin über die Interpretation des Rechts? Ein gefährlicher Präzedenzfall.
Was hier inszeniert wird, ist mehr als eine politische Replik auf eine missliebige Entscheidung. Es ist der Versuch, die dritte Gewalt zu delegitimieren, ihre Unabhängigkeit zu unterminieren und die Grenze zwischen Recht und Macht in eine Einbahnstraße umzubauen. Dabei bedient sich die politische Rhetorik der Mechanismen, die Michel Foucault einst als produktive Kraft des Diskurses analysierte: Sprache wird zur Waffe, zur disziplinierenden Form der Wirklichkeitsbehauptung. »Vorläufig«, »nicht zuständig«, »einzelfallbezogen« – das sind keine juristischen Termini mehr, sondern semantische Sperrfeuer, mit denen das Vertrauen in die Rechtsprechung gezielt untergraben wird.
Die Entscheidung des VG Berlin ist in ihrer juristischen Substanz bemerkenswert unmissverständlich. Sie erklärt die Zurückweisungspraxis gegenüber Asylsuchenden, die auf deutschem Boden Schutz suchen, für unvereinbar mit dem Unionsrecht. Dass es sich um Eilentscheidungen handelt, schmälert ihre Tragweite nicht, wie jeder Verwaltungsjurist bestätigen würde. Die Kammer hat mit der notwendigen Konsequenz entschieden – nicht aus ideologischer Willkür, sondern weil das Recht es gebietet. Dass dies ausgerechnet in einer Zeit geschieht, in der sich politische Akteure als Grenzwächter stilisieren, ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Entwicklung, die sich längst angekündigt hatte.
Denn das Narrativ, das hier bemüht wird – von der »Asyllobby«, vom »richterlichen Aktivismus«, von einer angeblich unterwanderten Justiz –, folgt einem altbekannten Muster: der Externalisierung der Verantwortung. Die Politik versagt im Management globaler Fluchtursachen, scheitert an solidarischer Verteilung innerhalb Europas und verheddert sich in den Widersprüchen zwischen Rechtsstaat und Abschreckungsdogma. Statt diesen Widerspruch offen zu verhandeln, wird der Richter zur Zielscheibe. Wie einst die »Volksrichter« der McCarthy-Ära in den USA, so sollen heute jene, die dem Recht Geltung verschaffen wollen, als »Feinde des Volkes« gebrandmarkt werden.
Es ist eine gefährliche Gemengelage. Dass eine Plattform wie Nius – redaktionell geleitet von Julian Reichelt, dem ehemaligen Leitartikler der Eskalation – mit verschwörungsideologischem Furor über angebliche Geheimpläne der »Asyllobby« fabuliert, ist kaum überraschend. Neu ist jedoch, dass solche Narrative zunehmend Anklang finden bei Teilen der Regierungsverantwortlichen, die sich nicht einmal mehr genieren, juristische Entscheidungen öffentlich als »politisch motiviert« zu denunzieren. Dass die Angriffe schließlich in handfeste Bedrohungen gegenüber Richtern umschlagen, markiert die letzte Eskalationsstufe einer Diskursverschiebung, die man nicht länger ignorieren kann.
Juristisch gesehen ist der Fall klar. Die Zurückweisungen betrafen Schutzsuchende, die ihr Gesuch nachweislich auf deutschem Boden geäußert hatten – an Bahnhöfen, in Zügen, also im Inland. Damit ist nach europäischem Recht Deutschland für das Asylverfahren zuständig. Die vielzitierte »Nichteinreisefiktion« greift hier nicht – es sei denn, man will das Recht auf eine Fiktion reduzieren. Der Versuch, über semantische Konstrukte wie »Bahnhof ist nicht gleich Bundesgebiet« Zuständigkeiten zu verschieben, ist nichts anderes als ein administrativer Taschenspielertrick – eine institutionalisierte Form der Verantwortungslosigkeit.
Was folgt daraus? Zunächst einmal die Erkenntnis, dass der Rechtsstaat mehr ist als ein System von Normen – er ist eine Kultur der Geltung. Wird diese Kultur durchbrochen, sei es durch politische Arroganz oder durch mediale Hetze, steht nicht nur ein Urteil zur Disposition, sondern das Vertrauen in das System selbst. Wenn Minister öffentlich erklären, man werde Urteile einfach ignorieren, wird das Recht zum Angebot, nicht zur Grundlage. Und wenn Richter unter Druck geraten, weil sie geltendes Recht sprechen, wird aus der Gewaltenteilung ein Scheingefecht.
Dabei ist die Strategie der Delegitimierung wohlkalkuliert: Wer das Urteil als Einzelfall darstellt, nimmt ihm die politische Sprengkraft. Wer die Zuständigkeit des Gerichts bezweifelt, stellt seine Autorität infrage. Wer den Richtern politische Motive unterstellt, rückt sie in die Nähe der Parteilichkeit. Es ist ein Lehrstück in rhetorischer Aushöhlung, das sich exemplarisch für eine neue Art von Machtverständnis beobachten lässt: Nicht das Recht legitimiert die Politik, sondern die Politik diktiert, was recht sein soll.
Was hier geschieht, ist eine Kampfansage an das rechtsstaatliche Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Und es geschieht nicht im luftleeren Raum. Schon während der Pandemie wurde der Ausnahmezustand zur neuen Normalität erhoben, wurden Grundrechte als Disponibilitäten behandelt. Was nun im Kontext von Migration geschieht, folgt dieser Logik: Das Sicherheitsnarrativ wird zur universalisierten Rechtfertigung exekutiver Übergriffe. Wer dagegen hält, gilt als naiv, als »asylromantisch«, als Störfaktor im Feld der Sicherheitsarchitektur.
Der Philosoph Giorgio Agamben sprach einst vom »homo sacer« – dem Menschen, der rechtlos wird, weil er der Ausnahme unterliegt. Man könnte hinzufügen: In der politischen Debatte der Gegenwart wird der Richter zum »homo suspectus« – dem Verdächtigen, der seiner Unabhängigkeit verlustig geht, sobald sein Urteil dem politischen Willen widerspricht. Der Rechtsstaat wird so zum Terrain der Deutungskämpfe – und das Recht selbst zum Spielball machtstrategischer Interessen.
Was bleibt, ist die Frage, ob die Justiz dieser Entwicklung standhalten kann. Noch gibt es Richterinnen und Richter, die dem Druck widerstehen, die das Recht gegen die Interessen der Macht behaupten. Doch ihre Stellung wird prekärer. Nicht nur in Deutschland. In Ungarn, Polen, selbst in Frankreich und Italien beobachten wir seit Jahren den Trend zur Exekutivdominanz. Die Gewaltenteilung wird dort zur Fassade – eine Entwicklung, die Deutschland bisher nicht teilen wollte. Doch der Fall Berlin zeigt: Die Risse sind da.
Wer das Recht schützt, schützt nicht nur Paragrafen. Er schützt die Idee, dass Macht begrenzt sein muss. Dass keine Regierung sich über das Gesetz stellen darf. Und dass Richter keine Befehlsempfänger, sondern Verteidiger jener Ordnung sind, die uns alle schützt – auch vor uns selbst.
Die Tragik unserer Gegenwart ist nicht, dass das Recht zu schwach wäre. Sondern dass es zu oft geopfert wird – auf dem Altar der politischen Opportunität. »Man schießt nicht auf Richter«, schrieb einst Carl von Ossietzky. Heute müsste man hinzufügen: Man delegitimiert sie nicht – es sei denn, man will den Staat, in dem wir leben, in seinen Grundfesten erschüttern.