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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Man schießt nicht auf Richter

Die Gren­ze ist ein Ort der Ent­schei­dung. Juri­stisch gese­hen mar­kiert sie den Über­gang von Zustän­dig­kei­ten, poli­tisch jedoch ist sie längst zur Pro­jek­ti­ons­flä­che ver­kom­men – für Äng­ste, für Macht­in­sze­nie­run­gen, für die Behaup­tung einer Ord­nung, die sich in ihrer Dar­stel­lung selbst genügt. Im Juni 2025 wur­de die­se Gren­ze neu gezo­gen: nicht in Beton oder Sta­chel­draht, son­dern in der juri­sti­schen Rea­li­tät. Das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin erklär­te meh­re­re Zurück­wei­sun­gen von Asyl­su­chen­den an deut­schen Gren­zen für uni­ons­rechts­wid­rig. Ein Urteil von bemer­kens­wer­ter Klar­heit – und von explo­si­ver Wirkung.

Es war, als hät­te ein Trop­fen den rhe­to­ri­schen Damm gebro­chen. Noch bevor die juri­sti­schen Fein­hei­ten des Urteils durch­dran­gen, hat­ten sich die Trom­meln der Ent­rü­stung for­miert. Da war vom »Ein­zel­fall« die Rede, von einer »poli­tisch moti­vier­ten Ent­schei­dung« und von einer angeb­li­chen »Zustän­dig­keits­kon­struk­ti­on«, mit der eine grün­la­sti­ge Rich­ter­kam­mer sich anmaß­te, Exe­ku­tiv­po­li­tik zu durch­kreu­zen. Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Alex­an­der Dob­rindt (CSU) beeil­te sich, die Ent­schei­dung als nicht bin­dend zu dekla­rie­ren – und ver­kün­de­te im sel­ben Atem­zug, man wer­de an der bis­he­ri­gen Zurück­wei­sungs­pra­xis fest­hal­ten. Die Exe­ku­ti­ve als Her­rin über die Inter­pre­ta­ti­on des Rechts? Ein gefähr­li­cher Präzedenzfall.

Was hier insze­niert wird, ist mehr als eine poli­ti­sche Replik auf eine miss­lie­bi­ge Ent­schei­dung. Es ist der Ver­such, die drit­te Gewalt zu dele­gi­ti­mie­ren, ihre Unab­hän­gig­keit zu unter­mi­nie­ren und die Gren­ze zwi­schen Recht und Macht in eine Ein­bahn­stra­ße umzu­bau­en. Dabei bedient sich die poli­ti­sche Rhe­to­rik der Mecha­nis­men, die Michel Fou­cault einst als pro­duk­ti­ve Kraft des Dis­kur­ses ana­ly­sier­te: Spra­che wird zur Waf­fe, zur dis­zi­pli­nie­ren­den Form der Wirk­lich­keits­be­haup­tung. »Vor­läu­fig«, »nicht zustän­dig«, »ein­zel­fall­be­zo­gen« – das sind kei­ne juri­sti­schen Ter­mi­ni mehr, son­dern seman­ti­sche Sperr­feu­er, mit denen das Ver­trau­en in die Recht­spre­chung gezielt unter­gra­ben wird.

Die Ent­schei­dung des VG Ber­lin ist in ihrer juri­sti­schen Sub­stanz bemer­kens­wert unmiss­ver­ständ­lich. Sie erklärt die Zurück­wei­sungs­pra­xis gegen­über Asyl­su­chen­den, die auf deut­schem Boden Schutz suchen, für unver­ein­bar mit dem Uni­ons­recht. Dass es sich um Eil­ent­schei­dun­gen han­delt, schmä­lert ihre Trag­wei­te nicht, wie jeder Ver­wal­tungs­ju­rist bestä­ti­gen wür­de. Die Kam­mer hat mit der not­wen­di­gen Kon­se­quenz ent­schie­den – nicht aus ideo­lo­gi­scher Will­kür, son­dern weil das Recht es gebie­tet. Dass dies aus­ge­rech­net in einer Zeit geschieht, in der sich poli­ti­sche Akteu­re als Grenz­wäch­ter sti­li­sie­ren, ist kein Zufall, son­dern Aus­druck einer Ent­wick­lung, die sich längst ange­kün­digt hatte.

Denn das Nar­ra­tiv, das hier bemüht wird – von der »Asyl­lob­by«, vom »rich­ter­li­chen Akti­vis­mus«, von einer angeb­lich unter­wan­der­ten Justiz –, folgt einem alt­be­kann­ten Muster: der Exter­na­li­sie­rung der Ver­ant­wor­tung. Die Poli­tik ver­sagt im Manage­ment glo­ba­ler Flucht­ur­sa­chen, schei­tert an soli­da­ri­scher Ver­tei­lung inner­halb Euro­pas und ver­hed­dert sich in den Wider­sprü­chen zwi­schen Rechts­staat und Abschreckungs­dog­ma. Statt die­sen Wider­spruch offen zu ver­han­deln, wird der Rich­ter zur Ziel­schei­be. Wie einst die »Volks­rich­ter« der McCar­thy-Ära in den USA, so sol­len heu­te jene, die dem Recht Gel­tung ver­schaf­fen wol­len, als »Fein­de des Vol­kes« gebrand­markt werden.

Es ist eine gefähr­li­che Gemenge­la­ge. Dass eine Platt­form wie Nius – redak­tio­nell gelei­tet von Juli­an Rei­chelt, dem ehe­ma­li­gen Leit­ar­tik­ler der Eska­la­ti­on – mit ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schem Furor über angeb­li­che Geheim­plä­ne der »Asyl­lob­by« fabu­liert, ist kaum über­ra­schend. Neu ist jedoch, dass sol­che Nar­ra­ti­ve zuneh­mend Anklang fin­den bei Tei­len der Regie­rungs­ver­ant­wort­li­chen, die sich nicht ein­mal mehr genie­ren, juri­sti­sche Ent­schei­dun­gen öffent­lich als »poli­tisch moti­viert« zu denun­zie­ren. Dass die Angrif­fe schließ­lich in hand­fe­ste Bedro­hun­gen gegen­über Rich­tern umschla­gen, mar­kiert die letz­te Eska­la­ti­ons­stu­fe einer Dis­kurs­ver­schie­bung, die man nicht län­ger igno­rie­ren kann.

Juri­stisch gese­hen ist der Fall klar. Die Zurück­wei­sun­gen betra­fen Schutz­su­chen­de, die ihr Gesuch nach­weis­lich auf deut­schem Boden geäu­ßert hat­ten – an Bahn­hö­fen, in Zügen, also im Inland. Damit ist nach euro­päi­schem Recht Deutsch­land für das Asyl­ver­fah­ren zustän­dig. Die viel­zi­tier­te »Nicht­ein­rei­se­fik­ti­on« greift hier nicht – es sei denn, man will das Recht auf eine Fik­ti­on redu­zie­ren. Der Ver­such, über seman­ti­sche Kon­struk­te wie »Bahn­hof ist nicht gleich Bun­des­ge­biet« Zustän­dig­kei­ten zu ver­schie­ben, ist nichts ande­res als ein admi­ni­stra­ti­ver Taschen­spie­ler­trick – eine insti­tu­tio­na­li­sier­te Form der Verantwortungslosigkeit.

Was folgt dar­aus? Zunächst ein­mal die Erkennt­nis, dass der Rechts­staat mehr ist als ein System von Nor­men – er ist eine Kul­tur der Gel­tung. Wird die­se Kul­tur durch­bro­chen, sei es durch poli­ti­sche Arro­ganz oder durch media­le Het­ze, steht nicht nur ein Urteil zur Dis­po­si­ti­on, son­dern das Ver­trau­en in das System selbst. Wenn Mini­ster öffent­lich erklä­ren, man wer­de Urtei­le ein­fach igno­rie­ren, wird das Recht zum Ange­bot, nicht zur Grund­la­ge. Und wenn Rich­ter unter Druck gera­ten, weil sie gel­ten­des Recht spre­chen, wird aus der Gewal­ten­tei­lung ein Scheingefecht.

Dabei ist die Stra­te­gie der Dele­gi­ti­mie­rung wohl­kal­ku­liert: Wer das Urteil als Ein­zel­fall dar­stellt, nimmt ihm die poli­ti­sche Spreng­kraft. Wer die Zustän­dig­keit des Gerichts bezwei­felt, stellt sei­ne Auto­ri­tät infra­ge. Wer den Rich­tern poli­ti­sche Moti­ve unter­stellt, rückt sie in die Nähe der Par­tei­lich­keit. Es ist ein Lehr­stück in rhe­to­ri­scher Aus­höh­lung, das sich exem­pla­risch für eine neue Art von Macht­ver­ständ­nis beob­ach­ten lässt: Nicht das Recht legi­ti­miert die Poli­tik, son­dern die Poli­tik dik­tiert, was recht sein soll.

Was hier geschieht, ist eine Kampf­an­sa­ge an das rechts­staat­li­che Prin­zip der rich­ter­li­chen Unab­hän­gig­keit. Und es geschieht nicht im luft­lee­ren Raum. Schon wäh­rend der Pan­de­mie wur­de der Aus­nah­me­zu­stand zur neu­en Nor­ma­li­tät erho­ben, wur­den Grund­rech­te als Dis­po­ni­bi­li­tä­ten behan­delt. Was nun im Kon­text von Migra­ti­on geschieht, folgt die­ser Logik: Das Sicher­heits­nar­ra­tiv wird zur uni­ver­sa­li­sier­ten Recht­fer­ti­gung exe­ku­ti­ver Über­grif­fe. Wer dage­gen hält, gilt als naiv, als »asyl­ro­man­tisch«, als Stör­fak­tor im Feld der Sicherheitsarchitektur.

Der Phi­lo­soph Gior­gio Agam­ben sprach einst vom »homo sacer« – dem Men­schen, der recht­los wird, weil er der Aus­nah­me unter­liegt. Man könn­te hin­zu­fü­gen: In der poli­ti­schen Debat­te der Gegen­wart wird der Rich­ter zum »homo suspec­tus« – dem Ver­däch­ti­gen, der sei­ner Unab­hän­gig­keit ver­lu­stig geht, sobald sein Urteil dem poli­ti­schen Wil­len wider­spricht. Der Rechts­staat wird so zum Ter­rain der Deu­tungs­kämp­fe – und das Recht selbst zum Spiel­ball macht­stra­te­gi­scher Interessen.

Was bleibt, ist die Fra­ge, ob die Justiz die­ser Ent­wick­lung stand­hal­ten kann. Noch gibt es Rich­te­rin­nen und Rich­ter, die dem Druck wider­ste­hen, die das Recht gegen die Inter­es­sen der Macht behaup­ten. Doch ihre Stel­lung wird pre­kä­rer. Nicht nur in Deutsch­land. In Ungarn, Polen, selbst in Frank­reich und Ita­li­en beob­ach­ten wir seit Jah­ren den Trend zur Exe­ku­tiv­do­mi­nanz. Die Gewal­ten­tei­lung wird dort zur Fas­sa­de – eine Ent­wick­lung, die Deutsch­land bis­her nicht tei­len woll­te. Doch der Fall Ber­lin zeigt: Die Ris­se sind da.

Wer das Recht schützt, schützt nicht nur Para­gra­fen. Er schützt die Idee, dass Macht begrenzt sein muss. Dass kei­ne Regie­rung sich über das Gesetz stel­len darf. Und dass Rich­ter kei­ne Befehls­emp­fän­ger, son­dern Ver­tei­di­ger jener Ord­nung sind, die uns alle schützt – auch vor uns selbst.

Die Tra­gik unse­rer Gegen­wart ist nicht, dass das Recht zu schwach wäre. Son­dern dass es zu oft geop­fert wird – auf dem Altar der poli­ti­schen Oppor­tu­ni­tät. »Man schießt nicht auf Rich­ter«, schrieb einst Carl von Ossietzky. Heu­te müss­te man hin­zu­fü­gen: Man dele­gi­ti­miert sie nicht – es sei denn, man will den Staat, in dem wir leben, in sei­nen Grund­fe­sten erschüttern.