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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Menschenraub und Kumpanei

Es ist gera­de ein hal­bes Jahr her, dass ich in Ossietzky den Noir-Roman »Am roten Fluss« vor­stell­te, den Erst­ling von Mar­cie Ren­don, Ange­hö­ri­ge der Anis­hina­be White Earth Nati­on, mit über 125 Stäm­men eins der größ­ten India­ner­völ­ker Nord­ame­ri­kas aus der Regi­on um die Gro­ßen Seen (»Uni­on der har­ten Hand«, Heft 18/​2020). Im Herbst erschien in der Ari­ad­ne-Rei­he des Argu­ment Ver­lags, Ham­burg, die Fort­set­zung »Stadt, Land, Raub«, wie­der mit der 19-jäh­ri­gen Cash in der Haupt­rol­le. Beschützt vom ört­li­chen She­riff, hat sie inzwi­schen ein Col­lege­stu­di­um begon­nen. Als eine wei­ße Kom­mi­li­to­nin ver­schwin­det, bit­tet der She­riff sie um Hil­fe. Doch es bleibt nicht bei die­sem einen ver­schwun­de­nen Mäd­chen, und Renée »Cash« Black­bear gerät in einen Stru­del aus Pro­sti­tu­ti­on und Mäd­chen­han­del, aus dem sie sich nicht allein befrei­en kann.

Mar­cie Ren­don hat­te in ihrem ersten, in den 1970er Jah­ren spie­len­den Roman nicht nur ihre Haupt­prot­ago­ni­stin vor­ge­stellt, die trink­fe­ste ame­ri­ka­ni­sche Land­ar­bei­te­rin mit reli­giö­sen »außer­kör­per­li­chen Erfah­run­gen«, son­dern facet­ten­reich das zum Teil bis heu­te andau­ern­de Unrecht beschrie­ben, wel­ches den india­ni­schen Völ­kern in den USA wider­fährt. Die­ses Ver­bre­chen ist das eigent­li­che The­ma der Bücher Ren­dons, denn: Raub beglei­tet die Geschich­te der Indi­an Nati­ons. Raub des Lan­des, der Stam­mesi­den­ti­tät, der Bür­ger­rech­te, der Kin­der, der Kul­tur und Lebens­wei­se. Raub steht auch im Mit­tel­punkt des zwei­ten Romans, des­sen Opfer dies­mal aber Töch­ter aus wohl­si­tu­ier­ten wei­ßen Fami­li­en wer­den. Wie­der ermit­telt Cash auf unge­wöhn­li­che Wei­se. – Auf Platz 8 der von Jour­na­li­sten erstell­ten Kri­mi­be­sten­li­ste im Okto­ber 2020.

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Der zwei­te Kri­mi, den ich vor­stel­le, kommt eben­falls aus dem Ari­ad­ne Ver­lag, und auch hier begeg­net uns eine alte Bekann­te: die fran­zö­si­sche Schrift­stel­le­rin Domi­ni­que Manot­ti, Histo­ri­ke­rin mit dem Schwer­punkt Wirt­schafts­ge­schich­te der Neu­zeit, vie­le Jah­re als Gewerk­schaf­te­rin in der Con­fé­dé­ra­ti­on fran­çai­se démo­cra­tique du tra­vail (CFDT) aktiv, dem mit 800.000 Mit­glie­dern größ­ten Gewerk­schafts­bund Frank­reichs. In Ossietzky, Heft 18/​2018, hat­te ich unter der Über­schrift »Raub­tier­ka­pi­ta­lis­mus« ihren Roman »Kes­sel­trei­ben« vorgestellt.

Ihr gera­de auf Deutsch erschie­ne­nes elf­tes Buch »Marseille.73« führt zurück in die für Frank­reich auf­wüh­len­de Zeit der Been­di­gung des Alge­ri­en-Krie­ges. Damals sie­del­ten nach der Unab­hän­gig­keits­er­klä­rung der bis­he­ri­gen Kolo­nie die mei­sten der etwa 1,4 Mil­lio­nen Pieds-Noirs, wie die Alge­ri­en-Fran­zo­sen genannt wur­den, ins fran­zö­si­sche Mut­ter­land um: viel­fach die Her­zen vol­ler Hass, der sich in Gewalt­ta­ten und Mor­den gegen­über den alge­ri­schen Arbeits­emi­gran­ten in Frank­reich ent­lud. Vie­le von ihnen waren und blie­ben Mit­glied der fran­zö­sisch-natio­na­li­sti­schen Ter­ror­grup­pe OAS oder ande­rer Ter­ror­grup­pen. Gedeckt, unter­stützt, gedul­det wur­den die Ver­bre­chen von Sym­pa­thi­san­ten in Poli­tik – Prä­si­dent de Gaul­le erließ 1968 eine Amne­stie für alle Straf­ge­fan­ge­nen der OAS –, Geheim­dien­sten, Poli­zei und Ver­wal­tung. Mar­seil­le war ein Brenn­punkt. Allein hier soll es min­de­stens 15 ras­si­sti­sche Hass­mor­de gege­ben haben.

Wie schon bei Ren­don, so sind auch bei Manot­ti die ver­schlei­ern­den Machen­schaf­ten und die offen­sicht­li­che Kum­pa­nei von Behör­den und staat­li­chen Insti­tu­tio­nen das eigent­li­che Ver­bre­chen. Manot­tis Bücher sind hoch­po­li­tisch, egal, ob es um Wirt­schafts­ver­bre­chen, Waf­fen­han­del, die Bri­ga­de Ros­se oder das Trei­ben der SS im Paris von 1944 geht. Ich mach­te beim Lesen auto­ma­tisch einen Zeit­sprung, hat­te die Bil­der von den Mas­sen­pro­te­sten Hun­dert­tau­sen­der Ende Novem­ber in Frank­reich gegen das geplan­te Sicher­heits­ge­setz vor Augen, den Bericht der Tages­schau unge­fähr zu glei­cher Zeit mit den Video­auf­nah­men von Poli­zei­ge­walt. Ori­gi­nal­ton ARD-Stu­dio Paris: »Es sind Bil­der, die schockie­ren. Ein schwar­zer Musik­pro­du­zent wird im Ein­gangs­be­reich sei­nes Pari­ser Stu­di­os von Poli­zi­sten ange­grif­fen. Die Beam­ten schla­gen und tre­ten bru­tal auf den Mann ein. Auch Tele­skop­schlag­stöcke kom­men zum Ein­satz.« Die Auf­nah­men könn­ten auch aus dem Mar­seil­le des Jah­res 1973 stam­men. – Ver­dien­ter­wei­se auf Platz 2 der von Jour­na­li­sten erstell­ten Kri­mi­be­sten­li­ste im Dezem­ber 2020.

Mar­cie Ren­don: Stadt, Land, Raub, Deutsch von Jonas Jacob, 237 Seiten,13 € Domi­ni­que Manot­ti: Marseille.73, aus dem Fran­zö­si­schen von Iris Kono­p­ik, 397 Sei­ten, 23 €. Bei­de Bücher bei Ari­ad­ne im Argu­ment Verlag.