Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Merz und das Recht

Der ver­ur­teil­te Straf­tä­ter Donald J. Trump und sei­ne Entou­ra­ge sehen Recht ledig­lich als Mit­tel zu ihren ideo­lo­gi­schen und öko­no­mi­schen Zwecken an, bzw. als Hin­der­nis. Wenn es stört, wird es igno­riert. Bei Fried­rich Merz ist das nicht ganz so krass. Aber zwei Vor­komm­nis­se der letz­ten Mona­te las­sen erheb­li­che Zwei­fel an sei­ner »Rechts­treue« erken­nen. Es geht um die so hoch gepush­te Zurück­wei­sung von Asyl­be­wer­bern und -bewer­be­rin­nen an den deut­schen Außen­gren­zen sowie um das mög­li­che Ver­hal­ten der Bun­des­re­gie­rung bei einem Besuch des – eben­falls vor Gericht ste­hen­den – israe­li­schen Mini­ster­prä­si­den­ten Ben­ja­min Net­an­y­a­hu. Bei­de Kon­stel­la­tio­nen ähneln sich, weil es zu ihrer Beur­tei­lung nicht nur um deut­sches, son­dern auch um euro­päi­sches bzw. inter­na­tio­na­les Recht geht.

Anfang des Jah­res hat­te Fried­rich Merz, sekun­diert von sei­nem Partner/​Konkurrenten Mar­kus Söder, ver­spro­chen, im Fal­le sei­ner Regie­rungs­über­nah­me vom ersten Tag an Abschie­bun­gen an den deut­schen Außen­gren­zen durch­füh­ren zu las­sen. Und sie­he da, so geschah es, als der neue Innen­mi­ni­ster Alex­an­der Dob­rindt am 7. Mai der Bun­des­po­li­zei die Wei­sung erteil­te, Flücht­lin­ge nicht ins Land zu las­sen, damit sie ja kei­nen Asyl­an­trag stel­len könn­ten. Schon die dama­li­ge Ankün­di­gung des jet­zi­gen Bun­des­kanz­lers im Wahl­kampf, des­sen beherr­schen­des The­ma dank der Vor­la­gen durch Bild, ande­re rech­te Medi­en und nicht zuletzt durch die AfD die Asyl- und Flücht­lings­po­li­tik wur­de, hat­te bei Juri­sten wenig Enthu­si­as­mus erzeugt. Eine ganz über­wie­gen­de Mehr­heit hielt ein sol­ches Vor­ge­hen für rechts­wid­rig. Das Ver­wal­tungs­ge­richt Ber­lin schloss sich die­ser Kri­tik nun in einer Ent­schei­dung vom 2. Juni an.

Dabei ging es um drei Men­schen aus Soma­lia, die nach Ein­füh­rung der neu­en Rege­lung am 9. Mai mit dem Zug ein­ge­reist waren, dann jedoch am Bahn­hof Frankfurt/​Oder auf­ge­grif­fen und nach Polen zurück­ge­schickt wur­den. Begrün­det wur­de das mit § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asyl­ge­setz. Danach kann Asyl­su­chen­den grund­sätz­lich die Ein­rei­se ver­wei­gert wer­den, wenn es Anhalts­punk­te dafür gibt, dass ein ande­rer EU-Staat für sie zustän­dig ist. Die­se deut­sche Vor­schrift wird aber grund­sätz­lich von höher­ran­gi­gem EU-Recht über­spielt, und zwar sowohl nach dem Schen­ge­ner Grenz­ko­dex wie nach der soge­nann­ten Dub­lin-III-Ver­ord­nung. Letz­te­re regelt das Ver­fah­ren, wenn eine schutz­su­chen­de Per­son einen zwei­ten Asyl­an­trag in einem ande­ren Land – also hier Deutsch­land – als dem für sie zustän­di­gen Aus­gangs­staat stellt. Deutsch­land darf die Per­son nur dann zurück­schicken, sofern zuvor bestimm­te Prüf­schrit­te vor­ge­nom­men wur­den, also nicht gleich an der Gren­ze. Wird das Zurück­schicken nicht inner­halb von sechs Mona­ten ver­an­lasst, muss das Asyl­ver­fah­ren im Zweit­staat, also hier in Deutsch­land, durch­ge­führt werden.

Ein ande­rer Aus­weg für die Abschie­bungs­wü­ti­gen soll Arti­kel 72 des Ver­tra­ges über die Arbeits­wei­se der EU sein. Er soll nach Mei­nung der Bun­des­re­gie­rung die Zurück­wei­sung erlau­ben, wenn eine Not­la­ge vor­liegt. Das VG Ber­lin lehn­te das aber in Über­ein­stim­mung mit der Recht­spre­chung des Euro­päi­schen Gerichts­hofs (EUGH) ab. Schon frü­her waren dort Mit­glied­staa­ten der EU mit ihren Ver­su­chen, eine Not­la­ge zu kon­stru­ie­ren, geschei­tert. Letzt­end­lich sagt die Vor­schrift, wenn man sie liest, nur, dass die Zustän­dig­kei­ten der Mit­glied­staa­ten für die Wah­rung der öffent­li­chen Ord­nung und der inne­ren Sicher­heit durch die Uni­ons­ge­setz­ge­bung nicht aus­ge­he­belt wer­den. Theo­re­tisch könn­te sich Deutsch­land bei Vor­lie­gen der­ar­ti­ger Vor­aus­set­zun­gen also auf sei­ne eige­nen Vor­schrif­ten in die­sem Bereich beru­fen. Dass die öffent­li­che Ord­nung oder die Sicher­heit in unse­rem Land aber tat­säch­lich durch Grenz­über­trit­te von Asyl­su­chen­den gefähr­det sind, lässt sich kaum begrün­den. Das sieht auch das VG Ber­lin so und ver­weist auf die rück­läu­fi­gen Zah­len von Asyl­su­chen­den. Selbst wenn man – wie offen­bar die Regie­rung – die Zah­len von 2024 und nicht die aktu­el­len von 2025 zugrun­de legt, ist die Bun­des­re­pu­blik weit ent­fernt von einer Not­la­ge. Dass sich hier eine Situa­ti­on ergibt, in der die Behör­den der Bun­des­re­pu­blik ihre Funk­tio­nen nicht mehr aus­üben kön­nen, ist weder ersicht­lich, noch wur­de es detail­liert von der Bun­des­re­gie­rung im Ver­fah­ren vor dem VG Ber­lin begrün­det. Außer­dem bestehen nach wie vor erheb­li­che Zwei­fel an der Effek­ti­vi­tät der Maß­nah­me. Die deut­schen Außen­gren­zen mit mehr als 3.800 km las­sen sich ein­fach nicht flä­chen­deckend schüt­zen, oder soll­te es doch wie­der eine Mau­er geben? Und dann ist da noch die schwin­del­erre­gen­de Zahl von Zurück­wei­sun­gen zwi­schen dem 8. Mai und dem 4. Juni. Es waren sage und stau­ne 160 Per­so­nen, die Asyl bean­tra­gen wollten.

Eine letz­te Hilfs­be­grün­dung der selbst­er­nann­ten Regie­rungs­grenz­schüt­zer ist der Umstand, dass das erwähn­te Dub­lin-System dys­funk­tio­nal sei und vie­le Mit­glied­staa­ten der EU inzwi­schen dage­gen ver­sto­ßen wür­den – ein eben­falls äußerst frag­wür­di­ges Argu­ment. Wenn ande­re rechts­wid­rig han­deln, dann darf das Deutsch­land auch? Her­un­ter­ge­bro­chen auf einen Nach­bar­schafts­streit wür­de das bedeu­ten, dass ich, wenn mein Nach­bar rechts­wid­rig han­delt, das eben­falls tun darf. So etwas ernst­haft vor­zu­tra­gen, ist schon ein star­kes Stück und lässt an der juri­sti­schen Exper­ti­se der Ver­tre­ter die­ser Auf­fas­sung zwei­feln, zumal nicht ein­mal der Ver­such unter­nom­men wor­den ist, das Pro­blem in Abstim­mung mit ande­ren EU-Staa­ten anzu­ge­hen. Hier ver­hält sich die Bun­des­re­gie­rung wie der sprich­wört­li­che Ele­fant im EU-Porzellanladen.

Natür­lich betrifft die Ent­schei­dung des VG Ber­lin einen Ein­zel­fall, wor­auf hin­zu­wei­sen Kanz­ler und Innen­mi­ni­ster nicht müde wer­den. Das ist aber eine Bana­li­tät. Es ist bei dem hier gege­be­nen, eigent­lich typi­schen Sach­ver­halt indes kaum zu erwar­ten, dass ande­re Gerich­te oder das VG selbst in einem soge­nann­ten Haupt­sa­che­ver­fah­ren anders ent­schei­den werden.

Kri­tisch sieht das inzwi­schen sogar die sonst sehr auf Law and Order abon­nier­te Poli­zei­ge­werk­schaft. In der Tat müs­sen sich Bun­des­po­li­zi­sten fra­gen, ob sie eine offen­bar rechts­wid­ri­ge Wei­sung ihres Mini­sters wirk­lich aus­füh­ren wollen.

Inzwi­schen wer­den die Rich­ter des Ver­wal­tungs­ge­richts Ber­lin wegen ihrer Ent­schei­dung auf sozia­len Medi­en beschimpft und bedroht (sie­he den Arti­kel von Hol­ger Eli­as), so dass ihnen selbst die Justiz­mi­ni­ste­rin­nen und -mini­ster bei ihrer Kon­fe­renz in Bad Schand­au Anfang Juni zu Hil­fe eilen muss­ten. Aber ist die­se maß­lo­se Kri­tik der Rech­ten mög­li­cher­wei­se nicht auch ein Ergeb­nis des unan­ge­mes­se­nen und wahr­schein­lich rechts­wid­ri­gen Han­delns der neu­en Bundesregierung?

Damit sind zwei wesent­li­che Ver­spre­chen des Kanz­lers aus dem Wahl­kampf, näm­lich die (völ­lig unsin­ni­ge) Bei­be­hal­tung der Schul­den­brem­se und die (juri­stisch unrea­li­sti­sche) Ankün­di­gung mas­sen­haf­ter Zurück­wei­sun­gen an den deut­schen Gren­zen schon nach weni­ger als einem Monat der Kanz­ler­schaft von Fried­rich Merz obso­let und nur noch retro­spek­tiv von Bedeu­tung. Kein guter Start, wenn man alles bes­ser machen will als die Ampel.