Der verurteilte Straftäter Donald J. Trump und seine Entourage sehen Recht lediglich als Mittel zu ihren ideologischen und ökonomischen Zwecken an, bzw. als Hindernis. Wenn es stört, wird es ignoriert. Bei Friedrich Merz ist das nicht ganz so krass. Aber zwei Vorkommnisse der letzten Monate lassen erhebliche Zweifel an seiner »Rechtstreue« erkennen. Es geht um die so hoch gepushte Zurückweisung von Asylbewerbern und -bewerberinnen an den deutschen Außengrenzen sowie um das mögliche Verhalten der Bundesregierung bei einem Besuch des – ebenfalls vor Gericht stehenden – israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu. Beide Konstellationen ähneln sich, weil es zu ihrer Beurteilung nicht nur um deutsches, sondern auch um europäisches bzw. internationales Recht geht.
Anfang des Jahres hatte Friedrich Merz, sekundiert von seinem Partner/Konkurrenten Markus Söder, versprochen, im Falle seiner Regierungsübernahme vom ersten Tag an Abschiebungen an den deutschen Außengrenzen durchführen zu lassen. Und siehe da, so geschah es, als der neue Innenminister Alexander Dobrindt am 7. Mai der Bundespolizei die Weisung erteilte, Flüchtlinge nicht ins Land zu lassen, damit sie ja keinen Asylantrag stellen könnten. Schon die damalige Ankündigung des jetzigen Bundeskanzlers im Wahlkampf, dessen beherrschendes Thema dank der Vorlagen durch Bild, andere rechte Medien und nicht zuletzt durch die AfD die Asyl- und Flüchtlingspolitik wurde, hatte bei Juristen wenig Enthusiasmus erzeugt. Eine ganz überwiegende Mehrheit hielt ein solches Vorgehen für rechtswidrig. Das Verwaltungsgericht Berlin schloss sich dieser Kritik nun in einer Entscheidung vom 2. Juni an.
Dabei ging es um drei Menschen aus Somalia, die nach Einführung der neuen Regelung am 9. Mai mit dem Zug eingereist waren, dann jedoch am Bahnhof Frankfurt/Oder aufgegriffen und nach Polen zurückgeschickt wurden. Begründet wurde das mit § 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz. Danach kann Asylsuchenden grundsätzlich die Einreise verweigert werden, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass ein anderer EU-Staat für sie zuständig ist. Diese deutsche Vorschrift wird aber grundsätzlich von höherrangigem EU-Recht überspielt, und zwar sowohl nach dem Schengener Grenzkodex wie nach der sogenannten Dublin-III-Verordnung. Letztere regelt das Verfahren, wenn eine schutzsuchende Person einen zweiten Asylantrag in einem anderen Land – also hier Deutschland – als dem für sie zuständigen Ausgangsstaat stellt. Deutschland darf die Person nur dann zurückschicken, sofern zuvor bestimmte Prüfschritte vorgenommen wurden, also nicht gleich an der Grenze. Wird das Zurückschicken nicht innerhalb von sechs Monaten veranlasst, muss das Asylverfahren im Zweitstaat, also hier in Deutschland, durchgeführt werden.
Ein anderer Ausweg für die Abschiebungswütigen soll Artikel 72 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU sein. Er soll nach Meinung der Bundesregierung die Zurückweisung erlauben, wenn eine Notlage vorliegt. Das VG Berlin lehnte das aber in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EUGH) ab. Schon früher waren dort Mitgliedstaaten der EU mit ihren Versuchen, eine Notlage zu konstruieren, gescheitert. Letztendlich sagt die Vorschrift, wenn man sie liest, nur, dass die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Wahrung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit durch die Unionsgesetzgebung nicht ausgehebelt werden. Theoretisch könnte sich Deutschland bei Vorliegen derartiger Voraussetzungen also auf seine eigenen Vorschriften in diesem Bereich berufen. Dass die öffentliche Ordnung oder die Sicherheit in unserem Land aber tatsächlich durch Grenzübertritte von Asylsuchenden gefährdet sind, lässt sich kaum begründen. Das sieht auch das VG Berlin so und verweist auf die rückläufigen Zahlen von Asylsuchenden. Selbst wenn man – wie offenbar die Regierung – die Zahlen von 2024 und nicht die aktuellen von 2025 zugrunde legt, ist die Bundesrepublik weit entfernt von einer Notlage. Dass sich hier eine Situation ergibt, in der die Behörden der Bundesrepublik ihre Funktionen nicht mehr ausüben können, ist weder ersichtlich, noch wurde es detailliert von der Bundesregierung im Verfahren vor dem VG Berlin begründet. Außerdem bestehen nach wie vor erhebliche Zweifel an der Effektivität der Maßnahme. Die deutschen Außengrenzen mit mehr als 3.800 km lassen sich einfach nicht flächendeckend schützen, oder sollte es doch wieder eine Mauer geben? Und dann ist da noch die schwindelerregende Zahl von Zurückweisungen zwischen dem 8. Mai und dem 4. Juni. Es waren sage und staune 160 Personen, die Asyl beantragen wollten.
Eine letzte Hilfsbegründung der selbsternannten Regierungsgrenzschützer ist der Umstand, dass das erwähnte Dublin-System dysfunktional sei und viele Mitgliedstaaten der EU inzwischen dagegen verstoßen würden – ein ebenfalls äußerst fragwürdiges Argument. Wenn andere rechtswidrig handeln, dann darf das Deutschland auch? Heruntergebrochen auf einen Nachbarschaftsstreit würde das bedeuten, dass ich, wenn mein Nachbar rechtswidrig handelt, das ebenfalls tun darf. So etwas ernsthaft vorzutragen, ist schon ein starkes Stück und lässt an der juristischen Expertise der Vertreter dieser Auffassung zweifeln, zumal nicht einmal der Versuch unternommen worden ist, das Problem in Abstimmung mit anderen EU-Staaten anzugehen. Hier verhält sich die Bundesregierung wie der sprichwörtliche Elefant im EU-Porzellanladen.
Natürlich betrifft die Entscheidung des VG Berlin einen Einzelfall, worauf hinzuweisen Kanzler und Innenminister nicht müde werden. Das ist aber eine Banalität. Es ist bei dem hier gegebenen, eigentlich typischen Sachverhalt indes kaum zu erwarten, dass andere Gerichte oder das VG selbst in einem sogenannten Hauptsacheverfahren anders entscheiden werden.
Kritisch sieht das inzwischen sogar die sonst sehr auf Law and Order abonnierte Polizeigewerkschaft. In der Tat müssen sich Bundespolizisten fragen, ob sie eine offenbar rechtswidrige Weisung ihres Ministers wirklich ausführen wollen.
Inzwischen werden die Richter des Verwaltungsgerichts Berlin wegen ihrer Entscheidung auf sozialen Medien beschimpft und bedroht (siehe den Artikel von Holger Elias), so dass ihnen selbst die Justizministerinnen und -minister bei ihrer Konferenz in Bad Schandau Anfang Juni zu Hilfe eilen mussten. Aber ist diese maßlose Kritik der Rechten möglicherweise nicht auch ein Ergebnis des unangemessenen und wahrscheinlich rechtswidrigen Handelns der neuen Bundesregierung?
Damit sind zwei wesentliche Versprechen des Kanzlers aus dem Wahlkampf, nämlich die (völlig unsinnige) Beibehaltung der Schuldenbremse und die (juristisch unrealistische) Ankündigung massenhafter Zurückweisungen an den deutschen Grenzen schon nach weniger als einem Monat der Kanzlerschaft von Friedrich Merz obsolet und nur noch retrospektiv von Bedeutung. Kein guter Start, wenn man alles besser machen will als die Ampel.