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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit Härte gegen Schwache

Sowohl die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on als auch das indi­vi­du­el­le Asyl­recht des Grund­ge­set­zes waren das Resul­tat einer welt­hi­sto­ri­schen Lek­ti­on: Nach dem faschi­sti­schen Aus­rot­tungs- und Ver­nich­tungs­krieg soll­ten exi­sten­zi­ell bedroh­te und poli­tisch ver­folg­te Men­schen nie mehr an staat­li­chen Grenz­pfäh­len schei­tern, son­dern fort­an umfas­sen­den Schutz genie­ßen. Aus­ge­rech­net am 8. Mai 2025, auf den Tag genau 80 Jah­re nach der Befrei­ung vom Faschis­mus, titel­te eine deut­sche Tages­zei­tung: »Deutsch­land weist Asyl­su­chen­de ab«.

Wie kam es zu die­sem Gip­fel der Geschichts­ver­ges­sen­heit in einem Land, das sich für tra­di­ti­ons­be­wusst hält und stolz auf sei­ne gro­ßen Dich­ter und Den­ker ist? Poli­ti­ker­äu­ße­run­gen und Medi­en­be­rich­te hat­ten bereits wäh­rend und erst recht nach dem Bruch der Ampel­ko­ali­ti­on sug­ge­riert, dass es den Armen in unse­rem Land zu gut gehe, wes­halb Geflüch­te­ten die Grund­lei­stun­gen für Asylbewerber/​innen, Transferleistungsbezieher(inne)n die Regel­sät­ze des Bür­ger­gel­des und/​oder Ruheständler(inne)n die Ren­ten gekürzt wer­den müss­ten, bevor durch wei­te­re Stel­lung­nah­men der Ein­druck erweckt wur­de, dass es den Rei­chen hier­zu­lan­de immer schlech­ter gehe, wes­halb Unter­neh­mern mehr Direkt­sub­ven­tio­nen gezahlt und/​oder wei­te­re Steu­er­ver­gün­sti­gun­gen gewährt wer­den müssten.

So wur­de ein poli­ti­sches Kli­ma erzeugt, das es der neu gebil­de­ten Bun­des­re­gie­rung von CDU, CSU und SPD erleich­tert hat, Här­te zu demon­strie­ren und unso­zia­le Maß­nah­men durch­zu­set­zen. Gerecht­fer­tigt wer­den die­se Ent­schei­dun­gen damit, dass man dem Hass und der Het­ze von Rechts­extre­mi­sten und Ras­si­sten nur durch »Lösung der Pro­ble­me« wie dem angeb­lich unbe­grenz­ten Zustrom von Flucht­mi­gran­ten begeg­nen könne.

Außer­dem ist der Neo­li­be­ra­lis­mus nicht tot, wie vie­le Kom­men­ta­to­ren behaup­ten, son­dern nor­mal gewor­den und mit der Zeit ins All­tags­be­wusst­sein ein­ge­sickert. Längst bestimmt nicht mehr die jewei­li­ge Lebens­si­tua­ti­on von Zuwan­de­rern, son­dern fast aus­schließ­lich ihr wirt­schaft­li­cher Nut­zen für das Auf­nah­me­land die Ent­schei­dun­gen von des­sen Behör­den. Zuletzt haben die das »C« im Namen füh­ren­den Uni­ons­par­tei­en mit der For­de­rung nach Zurück­wei­sung von Geflüch­te­ten und nach Ver­la­ge­rung der Asy­l­ent­schei­dun­gen in außer­eu­ro­päi­sche Län­der alle sozi­al­ethi­schen Grund­prin­zi­pi­en, die wäh­rend der Nach­kriegs­jahr­zehn­te gal­ten, preis­ge­ge­ben. Mit dem christ­li­chen Gebot der Näch­sten­lie­be hat das nichts mehr zu tun.

Huma­nis­mus, sei er nun reli­gi­ös und phi­lo­so­phisch begrün­det, hat mitt­ler­wei­le einen schwe­ren Stand, wohin­ge­gen sich Skru­pel­lo­sig­keit im Umgang mit »Frem­den« zuneh­mend nor­ma­li­siert. Die »irre­gu­lä­re Migra­ti­on«, von der neu­er­dings alle eta­blier­ten Par­tei­en behaup­ten, dass sie ein­ge­dämmt wer­den müs­se, ist nur zum gering­sten Teil eine ille­gi­ti­me Migra­ti­on. Denn jeder Mensch hat das Recht, einer aus­weg­lo­sen Situa­ti­on im eige­nen Land zu ent­flie­hen. Hier­in sehen CDU, CSU und SPD aber offen­bar die Mut­ter aller poli­ti­schen Pro­ble­me. Denn sie behaup­ten schon in der Prä­am­bel ihres Koali­ti­ons­ver­tra­ges: »Irre­gu­lä­re Migra­ti­on pola­ri­siert unse­re Gesell­schaft.« Dabei ist es die wach­sen­de sozia­le Ungleich­heit, die im glo­ba­len Maß­stab pola­ri­sie­rend wirkt, resul­tie­ren aus ihr doch nicht bloß öko­no­mi­sche Kri­sen, öko­lo­gi­sche Kata­stro­phen, Krie­ge und Bür­ger­krie­ge, son­dern auch grö­ße­re Migrationsbewegungen.

Wäh­rend füh­ren­de AfD-Poli­ti­ker die Unter­stüt­zung für Asyl­su­chen­de auf »Brot, Bett und Sei­fe« beschrän­ken wol­len, ver­ren­ken sich die eta­blier­ten Par­tei­en. Denn sie füh­len sich zwar noch immer an Recht und Gesetz gebun­den, möch­ten dem von ihnen mit­ver­schul­de­ten Stim­mungs­wan­del in der Mehr­heits­ge­sell­schaft jedoch Rech­nung tra­gen. Bedro­hungs­hy­ste­rie und Panik­ma­che sind aber kei­ne Basis für eine gute Migra­ti­ons- oder Sozialpolitik.

Wer der AfD das Was­ser abgra­ben möch­te, darf es nicht auf ihre Müh­len lei­ten, wie das momen­tan durch eine staat­li­cher­seits betrie­be­ne Flücht­lings­ab­wehr und rechts­po­pu­li­sti­sche Sprü­che von Spit­zen­po­li­ti­kern der eta­blier­ten Par­tei­en geschieht. Nicht die Migra­ti­on, wie Innen­mi­ni­ster Horst See­ho­fer (CSU) einst behaup­te­te, viel­mehr die wach­sen­de sozia­le Ungleich­heit ist die Mut­ter aller poli­ti­schen Probleme.

Flucht und Migra­ti­on wer­den in dem von CDU, CSU und SPD am 5. Mai 2025 geschlos­se­nen Koali­ti­ons­ver­trag mit dem Titel »Ver­ant­wor­tung für Deutsch­land« bezeich­nen­der­wei­se im Kapi­tel zur Inne­ren Sicher­heit abge­han­delt. So fin­det die »migra­ti­ons­po­li­ti­sche Wen­de« (Deutsch­lands neu­er Bun­des­in­nen­mi­ni­ster Alex­an­der Dob­rindt), von der CDU/C­SU-Frak­ti­on und ihrem dama­li­gen Vor­sit­zen­den Fried­rich Merz am 29. und 31. Janu­ar 2025 per dem nur mit Stim­men der AfD mehr­heits­fä­hi­gen Fünf-Punk­te-Plan »für siche­re Gren­zen und das Ende der ille­ga­len Migra­ti­on« sowie ihrem knapp geschei­ter­ten, von der SPD noch vehe­ment bekämpf­ten »Zustrom­be­gren­zungs­ge­setz« pro­kla­miert, ihre Fort­set­zung. Des­sen wesent­li­chen Inhal­ten hat die SPD in den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen zugestimmt.

Das »Migra­ti­on und Inte­gra­ti­on« über­schrie­be­ne Unter­ka­pi­tel beginnt mit einer Wahr­heits­wid­rig­keit und steht zu den mei­sten Maß­nah­men, die danach umris­sen wer­den, in einem augen­fäl­li­gen Wider­spruch: »Deutsch­land ist ein welt­of­fe­nes Land und wird es auch blei­ben.« Eher scheint es so, als wür­den Geflüch­te­te hier­zu­lan­de bald eben­so schlecht behan­delt wie in den Län­dern, aus denen sie kommen.

Die frei­wil­li­gen Bun­des­auf­nah­me­pro­gram­me (z. B. für Orts­kräf­te aus Afgha­ni­stan, die der Bun­des­wehr zuge­ar­bei­tet haben) wer­den »so weit wie mög­lich« been­det, erst recht kei­ne neu­en auf­ge­legt, und Zurück­wei­sun­gen an den Außen­gren­zen auch bei Asyl­ge­su­chen vor­ge­nom­men. Das ist zwar mit dem EU-Recht nicht ver­ein­bar, soll jedoch »in Abstim­mung« mit den Nach­bar­staa­ten erfol­gen. Unter die­ser von der SPD durch­ge­setz­ten Ein­schrän­kung ver­ste­hen ihre bei­den Koali­ti­ons­part­ner aber etwas ande­res. Bei­de wür­den offen­bar am lieb­sten alle Län­der der Erde zu siche­ren Her­kunfts­staa­ten erklä­ren. Vor­erst trifft es »nur« Men­schen aus Alge­ri­en, Indi­en, Marok­ko und Tunesien.

Stei­gern will man auch die Zahl der als »Rück­füh­run­gen« ver­harm­lo­sten Abschie­bun­gen. Für sub­si­di­är Schutz­be­rech­tig­te wird der Fami­li­en­nach­zug zwei Jah­re lang aus­ge­setzt. Ob all die­se Maß­nah­men, etwa die geplan­te »Rück­füh­rungs­of­fen­si­ve« und Abschie­bun­gen nach Afgha­ni­stan und Syri­en, mit der Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on, dem Grund­ge­setz und der Euro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­ein­bar sind, ist mehr als frag­lich. Trotz der beson­de­ren histo­ri­schen Ver­ant­wor­tung Deutsch­lands wird Abschied vom Flücht­lings­schutz genom­men und bloß noch die »qua­li­fi­zier­te Ein­wan­de­rung in unse­ren Arbeits­markt« aus öko­no­mi­schem Eigen­in­ter­es­se akzeptiert.

Nicht der Mensch, son­dern der Markt steht bei die­ser Bun­des­re­gie­rung im Mit­tel­punkt. Die neo­li­be­ra­le Stand­ort­lo­gik bil­det ihre ideo­lo­gi­sche Basis und bestimmt die Grund­rich­tung des Regie­rungs­han­delns. Damit voll­zieht die CDU/C­SU/SPD-Koali­ti­on unter Fried­rich Merz den sozia­len Kli­ma­wan­del hin zu grö­ße­rer Eises­käl­te und weni­ger Soli­da­ri­tät nach, der sich bereits län­ger abge­zeich­net hat. Zu erwar­ten ist eine grö­ße­re Rück­sichts­lo­sig­keit gegen­über allen sozi­al benach­tei­lig­ten, auf staat­li­che Trans­fer­lei­stun­gen ange­wie­se­nen Bevöl­ke­rungs­grup­pen, vor allem gegen­über Asyl- und Arbeitsuchenden.

Wäh­rend die Rüstungs­aus­ga­ben und die »jähr­li­chen Inve­sti­tio­nen in mili­tä­ri­sche Infra­struk­tur« deut­lich stei­gen, wird bei den öffent­li­chen Ent­wick­lungs­lei­stun­gen, die neben einer »Siche­rung des Zugangs zu Roh­stof­fen« auch das Ziel der »Flucht­ur­sa­chen­be­kämp­fung« ver­fol­gen, auf­grund der Not­wen­dig­keit einer Haus­halts­kon­so­li­die­rung – wie es im Koali­ti­ons­ver­trag heißt – »eine ange­mes­se­ne Absen­kung« erfol­gen. Offen­bar bekämpft man lie­ber die Geflüch­te­ten als die Fluchtursachen.

Prof. Dr. Chri­stoph But­ter­weg­ge hat von 1998 bis 2016 Poli­tik­wis­sen­schaft an der Uni­ver­si­tät zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher »Deutsch­land im Kri­sen­mo­dus. Infek­ti­on, Inva­si­on und Infla­ti­on als gesell­schaft­li­che Her­aus­for­de­rung« sowie »Umver­tei­lung des Reich­tums« veröffentlicht.