Sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch das individuelle Asylrecht des Grundgesetzes waren das Resultat einer welthistorischen Lektion: Nach dem faschistischen Ausrottungs- und Vernichtungskrieg sollten existenziell bedrohte und politisch verfolgte Menschen nie mehr an staatlichen Grenzpfählen scheitern, sondern fortan umfassenden Schutz genießen. Ausgerechnet am 8. Mai 2025, auf den Tag genau 80 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, titelte eine deutsche Tageszeitung: »Deutschland weist Asylsuchende ab«.
Wie kam es zu diesem Gipfel der Geschichtsvergessenheit in einem Land, das sich für traditionsbewusst hält und stolz auf seine großen Dichter und Denker ist? Politikeräußerungen und Medienberichte hatten bereits während und erst recht nach dem Bruch der Ampelkoalition suggeriert, dass es den Armen in unserem Land zu gut gehe, weshalb Geflüchteten die Grundleistungen für Asylbewerber/innen, Transferleistungsbezieher(inne)n die Regelsätze des Bürgergeldes und/oder Ruheständler(inne)n die Renten gekürzt werden müssten, bevor durch weitere Stellungnahmen der Eindruck erweckt wurde, dass es den Reichen hierzulande immer schlechter gehe, weshalb Unternehmern mehr Direktsubventionen gezahlt und/oder weitere Steuervergünstigungen gewährt werden müssten.
So wurde ein politisches Klima erzeugt, das es der neu gebildeten Bundesregierung von CDU, CSU und SPD erleichtert hat, Härte zu demonstrieren und unsoziale Maßnahmen durchzusetzen. Gerechtfertigt werden diese Entscheidungen damit, dass man dem Hass und der Hetze von Rechtsextremisten und Rassisten nur durch »Lösung der Probleme« wie dem angeblich unbegrenzten Zustrom von Fluchtmigranten begegnen könne.
Außerdem ist der Neoliberalismus nicht tot, wie viele Kommentatoren behaupten, sondern normal geworden und mit der Zeit ins Alltagsbewusstsein eingesickert. Längst bestimmt nicht mehr die jeweilige Lebenssituation von Zuwanderern, sondern fast ausschließlich ihr wirtschaftlicher Nutzen für das Aufnahmeland die Entscheidungen von dessen Behörden. Zuletzt haben die das »C« im Namen führenden Unionsparteien mit der Forderung nach Zurückweisung von Geflüchteten und nach Verlagerung der Asylentscheidungen in außereuropäische Länder alle sozialethischen Grundprinzipien, die während der Nachkriegsjahrzehnte galten, preisgegeben. Mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe hat das nichts mehr zu tun.
Humanismus, sei er nun religiös und philosophisch begründet, hat mittlerweile einen schweren Stand, wohingegen sich Skrupellosigkeit im Umgang mit »Fremden« zunehmend normalisiert. Die »irreguläre Migration«, von der neuerdings alle etablierten Parteien behaupten, dass sie eingedämmt werden müsse, ist nur zum geringsten Teil eine illegitime Migration. Denn jeder Mensch hat das Recht, einer ausweglosen Situation im eigenen Land zu entfliehen. Hierin sehen CDU, CSU und SPD aber offenbar die Mutter aller politischen Probleme. Denn sie behaupten schon in der Präambel ihres Koalitionsvertrages: »Irreguläre Migration polarisiert unsere Gesellschaft.« Dabei ist es die wachsende soziale Ungleichheit, die im globalen Maßstab polarisierend wirkt, resultieren aus ihr doch nicht bloß ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen, Kriege und Bürgerkriege, sondern auch größere Migrationsbewegungen.
Während führende AfD-Politiker die Unterstützung für Asylsuchende auf »Brot, Bett und Seife« beschränken wollen, verrenken sich die etablierten Parteien. Denn sie fühlen sich zwar noch immer an Recht und Gesetz gebunden, möchten dem von ihnen mitverschuldeten Stimmungswandel in der Mehrheitsgesellschaft jedoch Rechnung tragen. Bedrohungshysterie und Panikmache sind aber keine Basis für eine gute Migrations- oder Sozialpolitik.
Wer der AfD das Wasser abgraben möchte, darf es nicht auf ihre Mühlen leiten, wie das momentan durch eine staatlicherseits betriebene Flüchtlingsabwehr und rechtspopulistische Sprüche von Spitzenpolitikern der etablierten Parteien geschieht. Nicht die Migration, wie Innenminister Horst Seehofer (CSU) einst behauptete, vielmehr die wachsende soziale Ungleichheit ist die Mutter aller politischen Probleme.
Flucht und Migration werden in dem von CDU, CSU und SPD am 5. Mai 2025 geschlossenen Koalitionsvertrag mit dem Titel »Verantwortung für Deutschland« bezeichnenderweise im Kapitel zur Inneren Sicherheit abgehandelt. So findet die »migrationspolitische Wende« (Deutschlands neuer Bundesinnenminister Alexander Dobrindt), von der CDU/CSU-Fraktion und ihrem damaligen Vorsitzenden Friedrich Merz am 29. und 31. Januar 2025 per dem nur mit Stimmen der AfD mehrheitsfähigen Fünf-Punkte-Plan »für sichere Grenzen und das Ende der illegalen Migration« sowie ihrem knapp gescheiterten, von der SPD noch vehement bekämpften »Zustrombegrenzungsgesetz« proklamiert, ihre Fortsetzung. Dessen wesentlichen Inhalten hat die SPD in den Koalitionsverhandlungen zugestimmt.
Das »Migration und Integration« überschriebene Unterkapitel beginnt mit einer Wahrheitswidrigkeit und steht zu den meisten Maßnahmen, die danach umrissen werden, in einem augenfälligen Widerspruch: »Deutschland ist ein weltoffenes Land und wird es auch bleiben.« Eher scheint es so, als würden Geflüchtete hierzulande bald ebenso schlecht behandelt wie in den Ländern, aus denen sie kommen.
Die freiwilligen Bundesaufnahmeprogramme (z. B. für Ortskräfte aus Afghanistan, die der Bundeswehr zugearbeitet haben) werden »so weit wie möglich« beendet, erst recht keine neuen aufgelegt, und Zurückweisungen an den Außengrenzen auch bei Asylgesuchen vorgenommen. Das ist zwar mit dem EU-Recht nicht vereinbar, soll jedoch »in Abstimmung« mit den Nachbarstaaten erfolgen. Unter dieser von der SPD durchgesetzten Einschränkung verstehen ihre beiden Koalitionspartner aber etwas anderes. Beide würden offenbar am liebsten alle Länder der Erde zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Vorerst trifft es »nur« Menschen aus Algerien, Indien, Marokko und Tunesien.
Steigern will man auch die Zahl der als »Rückführungen« verharmlosten Abschiebungen. Für subsidiär Schutzberechtigte wird der Familiennachzug zwei Jahre lang ausgesetzt. Ob all diese Maßnahmen, etwa die geplante »Rückführungsoffensive« und Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien, mit der Genfer Flüchtlingskonvention, dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sind, ist mehr als fraglich. Trotz der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands wird Abschied vom Flüchtlingsschutz genommen und bloß noch die »qualifizierte Einwanderung in unseren Arbeitsmarkt« aus ökonomischem Eigeninteresse akzeptiert.
Nicht der Mensch, sondern der Markt steht bei dieser Bundesregierung im Mittelpunkt. Die neoliberale Standortlogik bildet ihre ideologische Basis und bestimmt die Grundrichtung des Regierungshandelns. Damit vollzieht die CDU/CSU/SPD-Koalition unter Friedrich Merz den sozialen Klimawandel hin zu größerer Eiseskälte und weniger Solidarität nach, der sich bereits länger abgezeichnet hat. Zu erwarten ist eine größere Rücksichtslosigkeit gegenüber allen sozial benachteiligten, auf staatliche Transferleistungen angewiesenen Bevölkerungsgruppen, vor allem gegenüber Asyl- und Arbeitsuchenden.
Während die Rüstungsausgaben und die »jährlichen Investitionen in militärische Infrastruktur« deutlich steigen, wird bei den öffentlichen Entwicklungsleistungen, die neben einer »Sicherung des Zugangs zu Rohstoffen« auch das Ziel der »Fluchtursachenbekämpfung« verfolgen, aufgrund der Notwendigkeit einer Haushaltskonsolidierung – wie es im Koalitionsvertrag heißt – »eine angemessene Absenkung« erfolgen. Offenbar bekämpft man lieber die Geflüchteten als die Fluchtursachen.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt die Bücher »Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung« sowie »Umverteilung des Reichtums« veröffentlicht.