»Die Lebhaftigkeit des Handels, das Durchrauschen des Papiergeldes, das Anschwellen der Schulden, um Schulden zu bezahlen, das alles sind die ungeheuren Elemente, auf die gegenwärtig ein junger Mann gesetzt ist«, notierte Goethe 1829 in den »Wanderjahren«. Schon den Weimarer Dichterfürsten beschlich dabei die unheilvolle Ahnung, dass diese »fortschrittliche« Dynamik nicht mehr zu bremsen sein und sich unweigerlich auf das Verhältnis der Menschen untereinander, ja, auf das »Sittliche« niederschlagen werde.
Und so geschah es. Nur wenig später, 1848, war aus der Goethe’schen Befürchtung bereits eine unumstößliche Gewissheit geworden; jedenfalls für zwei junge Männer, die jene »ungeheuren Elemente«, auf die sie sich gesetzt sahen, einmal gründlich bedachten: Im »Manifest der kommunistischen Partei« bekräftigten Karl Marx und Friedrich Engels apodiktisch: »Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört (…) und kein andres Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹ (…). Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. «
Starke Worte. Zwar steht der Kommunismus, mit dessen Hilfe Marx, Engels und viele andere die zerstörerische Macht des menschenverachtenden Kapitals zu brechen hofften, inzwischen nicht mehr in gutem Ruf – um es milde auszudrücken –, die im zitierten Manifest erhobene Klage hingegen scheint heute so aktuell wie ehedem. Nachdem die Marktwirtschaft sich nach der sogenannten Wende 1989 einige Jahre im Glanz des historischen Sieges sonnen konnte, ist längst wieder lautstark von der »Diktatur der Reichen«, von der Allmacht der Finanzmärkte und ihrer Profiteure die Rede. Die Folgen dieser neuen, alten Zwangsherrschaft finden sich schon in der 1947 erschienenen »Dialektik der Aufklärung« von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer beschrieben und müssen sich heute, in Zeiten des durch keine Grenzen und Systeme mehr behinderten Kapitalismus‘, überall besichtigen lassen: Die Übermacht des Ökonomischen »schlägt alles mit Ähnlichkeit«, der total gewordene Markt »versachlicht die Seelen«, reduziere alles und jeden auf den bloßen Tauschwert, vergrößere Ungleichheit und Ungerechtigkeit und betreibe in Wahrheit einen »immerwährenden Betrug: den Konsumenten etwas bieten und sie darum bringen, ist dasselbe«. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen. Aber stimmt es auch?
Ein Blick auf die »neuen« Marktökonomien des ehemals planwirtschaftlichen Ostblocks beispielsweise scheint die Kritiker ins Recht zu setzen. Bei allen nationalen Unterschiedlichkeiten kam hier der wirtschaftliche Kurswechsel insgesamt einem sozialen Einbruch gleich. Selbst die Weltbank, die jeglicher antikapitalistischer Umtriebe unverdächtig sein dürfte, sah sich nur wenige Jahre nach der erwähnten »Wende« veranlasst, kleinlaut einzuräumen: »In allen Transformationsländern (Ostmitteleuropas) hat die soziale Ungleichheit deutlich, in manchen sogar drastisch zugenommen, obwohl diese Staaten vor Beginn des wirtschaftlichen Wandels die weltweit geringsten sozialen Unterschiede aufwiesen.« Na bitte. Und das ist nur die eine, statistisch kühle Lesart eines Prozesses, der alle Lebensbereiche zu durchwirken, Solidarstrukturen zu zerbrechen und die Armut einer wachsenden Zahl von Menschen zu befördern droht.
Erweist sich der Markt also tatsächlich als jener Moloch, als den ihn der wissenschaftliche Sozialismus einst »demaskierte«? Oder handelt es sich bei den von der Weltbank eingeräumten Schwierigkeiten lediglich um Anpassungsprobleme, die aus dem maroden Erbe des Staatssozialismus erwuchsen, das die freie Marktwirtschaft anzutreten gezwungen war? Und waren nicht zudem schlicht die hoffnungsfrohen Erwartungen überzogen, Demokratie und liberale Marktwirtschaft würden innerhalb kürzester Frist ihren »Segen« entfalten und jedem/jeder Einzelnen unmittelbar zugutekommen? Zuweilen war gar von »blühenden Landschaften« die Rede.
Alle drei Fragen, so berechtigt sie sein mögen, sind wohl mit einem »Nein« zu beantworten. Weder ist der Markt eine alles verschlingende Macht, noch handelt es sich im Falle einer zunehmenden Verteilungsungerechtigkeit um ein Übergangsphänomen, noch wären die erwähnten Erwartungen, wenn sie denn gehegt wurden, überzogen gewesen. Nein, solche Erwartungen sind, im Gegenteil, genau richtig, sie entsprechen dem Prinzip des Marktes – den Vorteil aller mehren – wie es etwa Adam Smith beschrieben hat. Zwischen diesem Prinzip und dem praktischen Marktgeschehen klafft nur leider eine zumeist mehr und selten weniger große Lücke. Denn jede reale Marktökonomie ist unvollkommen, sie folgt nicht dem Idealmodell, wie es in Proseminaren der Volkswirtschaftslehre gelehrt wird. Sie gebiert Ungleichzeitigkeiten, auch Ungerechtigkeiten, und bleibt stets unberechenbar, weil eben nicht alle Waren homogen, also vergleichbar sind, weil eben keine Markttransparenz herrscht, weil nach wie vor allerlei Zugangsbeschränkungen für Anbieter und Nachfrager bestehen, weil sich die Preise eben nicht ausschließlich durch Angebot und Nachfrage regulieren, weil unsere Kauf- oder Verkaufsentscheidungen eben nicht das Resultat rational kalkulierten Handelns darstellen – das mögen uns der letzte eigene Einkauf oder der ungebremst grassierende Markenartikelwahn vor Augen führen.
Sollten wir also den Markt doch möglichst sich selbst überlassen, ihn vollständig »deregulieren«, damit er sich vervollkommnen und dem Idealmodell annähern kann? Wieder »Nein«. Den Markt als solchen, als selbstständiges, eigengesetzliches Gebilde gibt es gar nicht. Der Markt ist kein Zweck, sondern ein Mittel, über dessen Ausgestaltung und Verwendung die darin handelnden Akteure entscheiden – zugegeben: mit unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten. Von allein macht der Markt nichts. Allerdings entfaltet er, vermittelt über das Verhalten der Marktteilnehmer, eine Logik, die sich auf unsere Gewohnheiten und – wovor schon Goethe warnte – auf das Soziale insgesamt niederschlägt. »Sittlichkeit«, Moral und Würde sind dem Markt fremd, er kennt nur Preise und Werte – und kann das Wohlergehen aller deshalb nur fördern, wenn er »reguliert« wird. Der Markt muss in die sozialen und kulturellen Verhältnisse eingebettet sein – nicht umgekehrt. Ohne eine solche Einbettung führt der Markt nicht zum Wohlstand der Menschen und Nationen, sondern hat unweigerlich eine Schwächung der Schwachen und eine Stärkung der Starken zur Folge.
Und das ist, was wir gegenwärtig erleben – und was die sogenannten Neoliberalen noch forcieren wollen. Zwar sind der Egoismus, das Streben nach Gewinnmaximierung auf Seiten der Anbieter und nach Nutzenmaximierung auf Seiten der Nachfrager notwendige ökonomische Antriebskräfte, sie müssen aber durch Wertsetzungen beschränkt – sozusagen kultiviert – werden, sonst droht der friedfertige Austausch in den Kampf aller gegen alle zu entarten. Das ist allen BlackRock-Deregulierern immer wieder entgegenzuhalten. Solche Wertsetzungen waren, wie es etwa der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi an vielen Beispielen gezeigt hat, bis zum Beginn der Industrialisierung die prägenden Kräfte, weshalb sich in allen früheren Gesellschaften ausschließlich eine »Soziale Ökonomie« finden lässt. Inzwischen, mit dem Übergang von qualitativen (Gebrauchswert) zu quantitativen (Tauschwert) Kriterien und im Vollzug der sogenannten Globalisierung, steht aber eindeutig der Kampf im Vordergrund, der in vielen Regionen der Welt buchstäblich zum Überlebenskampf geworden ist.
Wer aber hungert und um sein Überleben kämpft, dem gelten gute Absichten so wenig wie die Würde der Satten. Dass die »Weltwirtschaft«, der »Weltmarkt« millionenfaches Leid nicht nur nicht verhindern kann, sondern mit verursacht, gehört daher zweifellos in den komplexen Begründungszusammenhang für die sich gegenwärtig immer schneller drehende Gewaltspirale aus Hass, Terror und Krieg.
Und das ist mehr als besorgniserregend. Denn auch Gewalt konstituiert einen »Markt«, wird zu einem Austauschprozess. Darüber hinaus geht es in jedem modernen Krieg immer auch um ökonomische Interessen, der Krieg selbst ist ein Geschäft. Zum Beispiel ein Mediengeschäft. Wie interessegelenkt dieser Markt sein kann, führt uns gerade die sogenannte Berichterstattung über den Ukraine- und den Gaza-Krieg vor Augen. Allerdings folgt diese Berichterstattung, wenn man so will, keiner markt-, sondern einer planwirtschaftlichen Logik. Die »Nachfrage« ist für die »Produzenten« der Nachrichten und Bilder irrelevant: »Den Konsumenten etwas bieten und sie darum bringen, ist dasselbe.«.
Gegen solche Entwicklungen, nicht gegen den Markt an sich, ist anhaltender Widerstand gefordert, damit der »Ekel vor der Welt als Schwindel und Vorstellung« (Adorno), der sich immer mehr auszubreiten droht, überwunden werden kann.