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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Moloch Markt?

»Die Leb­haf­tig­keit des Han­dels, das Durch­rau­schen des Papier­gel­des, das Anschwel­len der Schul­den, um Schul­den zu bezah­len, das alles sind die unge­heu­ren Ele­men­te, auf die gegen­wär­tig ein jun­ger Mann gesetzt ist«, notier­te Goe­the 1829 in den »Wan­der­jah­ren«. Schon den Wei­ma­rer Dich­ter­für­sten beschlich dabei die unheil­vol­le Ahnung, dass die­se »fort­schritt­li­che« Dyna­mik nicht mehr zu brem­sen sein und sich unwei­ger­lich auf das Ver­hält­nis der Men­schen unter­ein­an­der, ja, auf das »Sitt­li­che« nie­der­schla­gen werde.

Und so geschah es. Nur wenig spä­ter, 1848, war aus der Goethe’schen Befürch­tung bereits eine unum­stöß­li­che Gewiss­heit gewor­den; jeden­falls für zwei jun­ge Män­ner, die jene »unge­heu­ren Ele­men­te«, auf die sie sich gesetzt sahen, ein­mal gründ­lich bedach­ten: Im »Mani­fest der kom­mu­ni­sti­schen Par­tei« bekräf­tig­ten Karl Marx und Fried­rich Engels apo­dik­tisch: »Die Bour­geoi­sie, wo sie zur Herr­schaft gekom­men, hat alle feu­da­len, patri­ar­cha­li­schen, idyl­li­schen Ver­hält­nis­se zer­stört (…) und kein and­res Band zwi­schen Mensch und Mensch übrig­ge­las­sen als das nack­te Inter­es­se, als die gefühl­lo­se ›bare Zah­lung‹ (…). Sie hat die per­sön­li­che Wür­de in den Tausch­wert auf­ge­löst und an die Stel­le der zahl­lo­sen ver­brief­ten und wohl­erwor­be­nen Frei­hei­ten die eine gewis­sen­lo­se Han­dels­frei­heit gesetzt. «

Star­ke Wor­te. Zwar steht der Kom­mu­nis­mus, mit des­sen Hil­fe Marx, Engels und vie­le ande­re die zer­stö­re­ri­sche Macht des men­schen­ver­ach­ten­den Kapi­tals zu bre­chen hoff­ten, inzwi­schen nicht mehr in gutem Ruf – um es mil­de aus­zu­drücken –, die im zitier­ten Mani­fest erho­be­ne Kla­ge hin­ge­gen scheint heu­te so aktu­ell wie ehe­dem. Nach­dem die Markt­wirt­schaft sich nach der soge­nann­ten Wen­de 1989 eini­ge Jah­re im Glanz des histo­ri­schen Sie­ges son­nen konn­te, ist längst wie­der laut­stark von der »Dik­ta­tur der Rei­chen«, von der All­macht der Finanz­märk­te und ihrer Pro­fi­teu­re die Rede. Die Fol­gen die­ser neu­en, alten Zwangs­herr­schaft fin­den sich schon in der 1947 erschie­ne­nen »Dia­lek­tik der Auf­klä­rung« von Theo­dor W. Ador­no und Max Hork­hei­mer beschrie­ben und müs­sen sich heu­te, in Zei­ten des durch kei­ne Gren­zen und Syste­me mehr behin­der­ten Kapi­ta­lis­mus‘, über­all besich­ti­gen las­sen: Die Über­macht des Öko­no­mi­schen »schlägt alles mit Ähn­lich­keit«, der total gewor­de­ne Markt »ver­sach­licht die See­len«, redu­zie­re alles und jeden auf den blo­ßen Tausch­wert, ver­grö­ße­re Ungleich­heit und Unge­rech­tig­keit und betrei­be in Wahr­heit einen »immer­wäh­ren­den Betrug: den Kon­su­men­ten etwas bie­ten und sie dar­um brin­gen, ist das­sel­be«. Dem ist kaum etwas hin­zu­zu­fü­gen. Aber stimmt es auch?

Ein Blick auf die »neu­en« Markt­öko­no­mien des ehe­mals plan­wirt­schaft­li­chen Ost­blocks bei­spiels­wei­se scheint die Kri­ti­ker ins Recht zu set­zen. Bei allen natio­na­len Unter­schied­lich­kei­ten kam hier der wirt­schaft­li­che Kurs­wech­sel ins­ge­samt einem sozia­len Ein­bruch gleich. Selbst die Welt­bank, die jeg­li­cher anti­ka­pi­ta­li­sti­scher Umtrie­be unver­däch­tig sein dürf­te, sah sich nur weni­ge Jah­re nach der erwähn­ten »Wen­de« ver­an­lasst, klein­laut ein­zu­räu­men: »In allen Trans­for­ma­ti­ons­län­dern (Ost­mit­tel­eu­ro­pas) hat die sozia­le Ungleich­heit deut­lich, in man­chen sogar dra­stisch zuge­nom­men, obwohl die­se Staa­ten vor Beginn des wirt­schaft­li­chen Wan­dels die welt­weit gering­sten sozia­len Unter­schie­de auf­wie­sen.« Na bit­te. Und das ist nur die eine, sta­ti­stisch küh­le Les­art eines Pro­zes­ses, der alle Lebens­be­rei­che zu durch­wir­ken, Soli­dar­struk­tu­ren zu zer­bre­chen und die Armut einer wach­sen­den Zahl von Men­schen zu beför­dern droht.

Erweist sich der Markt also tat­säch­lich als jener Moloch, als den ihn der wis­sen­schaft­li­che Sozia­lis­mus einst »demas­kier­te«? Oder han­delt es sich bei den von der Welt­bank ein­ge­räum­ten Schwie­rig­kei­ten ledig­lich um Anpas­sungs­pro­ble­me, die aus dem maro­den Erbe des Staats­so­zia­lis­mus erwuch­sen, das die freie Markt­wirt­schaft anzu­tre­ten gezwun­gen war? Und waren nicht zudem schlicht die hoff­nungs­fro­hen Erwar­tun­gen über­zo­gen, Demo­kra­tie und libe­ra­le Markt­wirt­schaft wür­den inner­halb kür­ze­ster Frist ihren »Segen« ent­fal­ten und jedem/​jeder Ein­zel­nen unmit­tel­bar zugu­te­kom­men? Zuwei­len war gar von »blü­hen­den Land­schaf­ten« die Rede.

Alle drei Fra­gen, so berech­tigt sie sein mögen, sind wohl mit einem »Nein« zu beant­wor­ten. Weder ist der Markt eine alles ver­schlin­gen­de Macht, noch han­delt es sich im Fal­le einer zuneh­men­den Ver­tei­lungs­un­ge­rech­tig­keit um ein Über­gangs­phä­no­men, noch wären die erwähn­ten Erwar­tun­gen, wenn sie denn gehegt wur­den, über­zo­gen gewe­sen. Nein, sol­che Erwar­tun­gen sind, im Gegen­teil, genau rich­tig, sie ent­spre­chen dem Prin­zip des Mark­tes – den Vor­teil aller meh­ren – wie es etwa Adam Smith beschrie­ben hat. Zwi­schen die­sem Prin­zip und dem prak­ti­schen Markt­ge­sche­hen klafft nur lei­der eine zumeist mehr und sel­ten weni­ger gro­ße Lücke. Denn jede rea­le Markt­öko­no­mie ist unvoll­kom­men, sie folgt nicht dem Ide­al­mo­dell, wie es in Pro­se­mi­na­ren der Volks­wirt­schafts­leh­re gelehrt wird. Sie gebiert Ungleich­zei­tig­kei­ten, auch Unge­rech­tig­kei­ten, und bleibt stets unbe­re­chen­bar, weil eben nicht alle Waren homo­gen, also ver­gleich­bar sind, weil eben kei­ne Markt­trans­pa­renz herrscht, weil nach wie vor aller­lei Zugangs­be­schrän­kun­gen für Anbie­ter und Nach­fra­ger bestehen, weil sich die Prei­se eben nicht aus­schließ­lich durch Ange­bot und Nach­fra­ge regu­lie­ren, weil unse­re Kauf- oder Ver­kaufs­ent­schei­dun­gen eben nicht das Resul­tat ratio­nal kal­ku­lier­ten Han­delns dar­stel­len – das mögen uns der letz­te eige­ne Ein­kauf oder der unge­bremst gras­sie­ren­de Mar­ken­ar­ti­kel­wahn vor Augen führen.

Soll­ten wir also den Markt doch mög­lichst sich selbst über­las­sen, ihn voll­stän­dig »dere­gu­lie­ren«, damit er sich ver­voll­komm­nen und dem Ide­al­mo­dell annä­hern kann? Wie­der »Nein«. Den Markt als sol­chen, als selbst­stän­di­ges, eigen­ge­setz­li­ches Gebil­de gibt es gar nicht. Der Markt ist kein Zweck, son­dern ein Mit­tel, über des­sen Aus­ge­stal­tung und Ver­wen­dung die dar­in han­deln­den Akteu­re ent­schei­den – zuge­ge­ben: mit unter­schied­li­chen Ein­fluss­mög­lich­kei­ten. Von allein macht der Markt nichts. Aller­dings ent­fal­tet er, ver­mit­telt über das Ver­hal­ten der Markt­teil­neh­mer, eine Logik, die sich auf unse­re Gewohn­hei­ten und – wovor schon Goe­the warn­te – auf das Sozia­le ins­ge­samt nie­der­schlägt. »Sitt­lich­keit«, Moral und Wür­de sind dem Markt fremd, er kennt nur Prei­se und Wer­te – und kann das Wohl­erge­hen aller des­halb nur för­dern, wenn er »regu­liert« wird. Der Markt muss in die sozia­len und kul­tu­rel­len Ver­hält­nis­se ein­ge­bet­tet sein – nicht umge­kehrt. Ohne eine sol­che Ein­bet­tung führt der Markt nicht zum Wohl­stand der Men­schen und Natio­nen, son­dern hat unwei­ger­lich eine Schwä­chung der Schwa­chen und eine Stär­kung der Star­ken zur Folge.

Und das ist, was wir gegen­wär­tig erle­ben – und was die soge­nann­ten Neo­li­be­ra­len noch for­cie­ren wol­len. Zwar sind der Ego­is­mus, das Stre­ben nach Gewinn­ma­xi­mie­rung auf Sei­ten der Anbie­ter und nach Nut­zen­ma­xi­mie­rung auf Sei­ten der Nach­fra­ger not­wen­di­ge öko­no­mi­sche Antriebs­kräf­te, sie müs­sen aber durch Wert­set­zun­gen beschränkt – sozu­sa­gen kul­ti­viert – wer­den, sonst droht der fried­fer­ti­ge Aus­tausch in den Kampf aller gegen alle zu ent­ar­ten. Das ist allen Black­Rock-Dere­gu­lie­rern immer wie­der ent­ge­gen­zu­hal­ten. Sol­che Wert­set­zun­gen waren, wie es etwa der Wirt­schafts­hi­sto­ri­ker Karl Pol­anyi an vie­len Bei­spie­len gezeigt hat, bis zum Beginn der Indu­stria­li­sie­rung die prä­gen­den Kräf­te, wes­halb sich in allen frü­he­ren Gesell­schaf­ten aus­schließ­lich eine »Sozia­le Öko­no­mie« fin­den lässt. Inzwi­schen, mit dem Über­gang von qua­li­ta­ti­ven (Gebrauchs­wert) zu quan­ti­ta­ti­ven (Tausch­wert) Kri­te­ri­en und im Voll­zug der soge­nann­ten Glo­ba­li­sie­rung, steht aber ein­deu­tig der Kampf im Vor­der­grund, der in vie­len Regio­nen der Welt buch­stäb­lich zum Über­le­bens­kampf gewor­den ist.

Wer aber hun­gert und um sein Über­le­ben kämpft, dem gel­ten gute Absich­ten so wenig wie die Wür­de der Sat­ten. Dass die »Welt­wirt­schaft«, der »Welt­markt« mil­lio­nen­fa­ches Leid nicht nur nicht ver­hin­dern kann, son­dern mit ver­ur­sacht, gehört daher zwei­fel­los in den kom­ple­xen Begrün­dungs­zu­sam­men­hang für die sich gegen­wär­tig immer schnel­ler dre­hen­de Gewalt­spi­ra­le aus Hass, Ter­ror und Krieg.

Und das ist mehr als besorg­nis­er­re­gend. Denn auch Gewalt kon­sti­tu­iert einen »Markt«, wird zu einem Aus­tausch­pro­zess. Dar­über hin­aus geht es in jedem moder­nen Krieg immer auch um öko­no­mi­sche Inter­es­sen, der Krieg selbst ist ein Geschäft. Zum Bei­spiel ein Medi­en­ge­schäft. Wie inter­es­se­ge­lenkt die­ser Markt sein kann, führt uns gera­de die soge­nann­te Bericht­erstat­tung über den Ukrai­ne- und den Gaza-Krieg vor Augen. Aller­dings folgt die­se Bericht­erstat­tung, wenn man so will, kei­ner markt-, son­dern einer plan­wirt­schaft­li­chen Logik. Die »Nach­fra­ge« ist für die »Pro­du­zen­ten« der Nach­rich­ten und Bil­der irrele­vant: »Den Kon­su­men­ten etwas bie­ten und sie dar­um brin­gen, ist dasselbe.«.

Gegen sol­che Ent­wick­lun­gen, nicht gegen den Markt an sich, ist anhal­ten­der Wider­stand gefor­dert, damit der »Ekel vor der Welt als Schwin­del und Vor­stel­lung« (Ador­no), der sich immer mehr aus­zu­brei­ten droht, über­wun­den wer­den kann.