Der seltsame, aber fast durchweg fesselnde Roman »Sehr geehrte Frau Ministerin« von Ursula Krechel besteht aus drei Teilen: »Eva«, »ab ovo«, »als ob«. Der fast ungeheuerliche Spannungsbogen, den er beschreibt, braucht wahrscheinlich Wortfülle als Trägermaterial – aber diese ist für denjenigen, der unter der hochgespannten Wölbung sitzt und liest, mitunter anstrengend. Nun verraten die komplizierte Konstruktion des Romans und sein Erfindungsreichtum die Meisterschaft der Autorin, aber man muss sich ohne Wenn und Aber darauf einlassen, sonst verirrt man sich in den Frauenbiografien, die in zwei Fällen auch in Lebensbeschreibungen der von ihnen geborenen Söhne laufen.
Eva ist eine unauffällige Frau, die einer Kräuterhandelskette als Verkäuferin dient. Zentrum ihres Lebens ist ihr erwachsener, beruflich wohl erfolgloser Sohn, den sie beinahe umwirbt. Der jedoch kümmert sich kaum um sie, mit seiner Mutter zu sprechen, ist für ihn fast wie Drachensaat. Er isst sich durchs Leben und hockt vor seinem Computer, führt das Leben eines Einsiedlers. Was er ausbrütet, wird erst am Ende klar. Da ist seine Mutter bereits keine Verkäuferin mehr, die Handelskette schließt die meisten Filialen. Die Schilderung eines Wochenendseminars der Handelskette, durchgeführt mit dem Verkaufspersonal, der aalglatte Umgangston, die geheuchelte Freundlichkeit, diese Seiten sind ein Kabinettstück eigener Güte! Dass Eva in die Hörakustikbranche wechselt, auf dass sie vielleicht auch etwas zu hören lerne, von dem, was so geflüstert wird, ist fein ziselierte Ironie.
Dass sie beobachtet wird, wird ihr erst allmählich klar. Die Beobachterin ist die Lateinlehrerin Silke Aschauer, die offenbar über sie schreibt, wie auch über die namenlose Justizministerin im dritten Teil. Silke Aschauer ist eine ambitionierte Lehrerin, eine beseelte Vermittlerin des wundervollen, klassischen Lateins an einem Gymnasium. Aber sie wählt für ihre Kurse Texte aus, welche nicht die »Schönheit« der Antike spiegeln, da geht es nicht um »edle Einfalt und stille Größe«, sondern auf die Schülerinnen prasselt die ganze Brutalität herunter, die eben auch kennzeichnend für diese Epoche war. Die Tacitus-Lektüre besteht aus Mordgeschichten. »Tacitus steigert und strafft, verknappt: Der erste Mord, dann der zweite…«, resümiert Silke Aschauer. Und es geht immer um Macht: »Haec causa necis … Das war der Grund für den Mord.« Freilich gefällt ein solcher Unterricht manchem nicht; Silke Aschauer muss sich mit der Beschwerde einer Mutter herumschlagen, der es nicht passt, dass die Gegenwart so grell aus antiken Texten leuchtet, eben weil ihr Freund der Brutalität der Gegenwart auf schlimme Weise ausgesetzt war.
Ob der Mordversuch an der Justizministerin auch mit Machtgewinn zu tun hat, wird nicht recht klar. Aber es lässt sich vermuten, denn der Täter schreit »du, du«. Manch einer vermutet daher eine Beziehungstat. Wie keiner der anderen Teile trifft »als ob« – und wenn es pathetisch klingt – ins Herz unserer Zeit. Und zwar des Aberwitzes der Gegenwart. Da gibt es zwar manche Abschweifung, Schilderungen von Träumen, eine Gelegenheit zum Wortspiel wird kaum einmal ausgelassen; da muss eben die Frage gestellt werden, warum die Berliner Mohrenstraße noch nicht umbenannt wurde … Aber in diesem Romanteil wird dem, was man vielleicht »Zeitgeist« nennen könnte, auf scharfe und in der vermeintlichen Unsachlichkeit doch genau treffende Art die Diagnose gestellt. Natürlich schaudert es einen, wenn man zum Zeugen eines Messerangriffs auf die Ministerin wird, dessen Tatbeschreibung sich wie eine Fernsehreportage liest. (Und damit sich der Kreis schließt, ist der Attentäter der seltsame Sohn der Eva, der kaum mit seiner Mutter spricht und sich in seinem Zimmer vor dem Computerschirm abschottet.) Aber noch mehr gruselt es einen, wenn man die E-Mails liest, mit denen die Justizministerin überzogen wird. Freilich, sie sind erfunden, aber sie sind so gut erfunden, dass sie fast authentisch wirken.
Und zum Schauder trägt dieses »als ob« bei: Als ob es wirklich so ist, klingt in einem auf. Als ob dieses Land wirklich derartig verdummt. Als ob Gewalt so selbstverständlich, so alltäglich geworden ist. Und Silke Aschauer fragt sich, weil sie auf einer Fotografie das Fahrzeug eines Bergungsunternehmens sieht: »Rettet die Kunst? Die Kunst rettet nicht.« Und da der letzte Satz des Buches lautet, dass vom »Recht auf Zeugnisverweigerung Gebrauch« gemacht werde, ist es wohl so, dass wir nicht zu retten sind. Rätselhaft auch der abschließende Zusatz: »Berlin, 1. April 2022 – 29. Februar 2024«. Als sollten die mit Seltsamkeit behafteten Daten das Erfundene, Kunstprodukthafte betonen. Doch das zu glauben, gelingt einem nicht, obwohl es man gern möchte.
Denn es ist ein Roman über Gewalt. Und das ist nicht nur das Attentat. Es ist auch die Verweigerung des Miteinandersprechens, es ist der Rückgriff auf die Antike (Nero lässt seine Mutter Agrippina ermorden), es ist die Gewalt der Weiblichkeit, deren blutiges Opfer Silke Aschauer fast wird. Ihre normale Menstruation artet zu einer bösartigen Erkrankung aus, ihr Blut fließt in Strömen, und sie wird fast vernichtet. Es wird dies alles in großer Eindringlichkeit und in noch größerer Ausführlichkeit geschildert, die auch den Leser (dieses Wort hier mit Absicht!) an seine Grenzen bringt – dennoch: Gerade Männer sollten das einmal lesen.
Ein fesselnder Roman, der durch seine Fiktionalität besticht. Man liest nicht, wie Autor(in) XY die Welt sieht, sondern eine Welt wird erfunden, die erschreckend real ist, in Vergangenheit und Gegenwart.
Ursula Krechel: Sehr geehrte Frau Ministerin. Roman, Klett-Cotta, 2025, 368 S., 26 €.