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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mütter, Söhne, Blut, Latein

Der selt­sa­me, aber fast durch­weg fes­seln­de Roman »Sehr geehr­te Frau Mini­ste­rin« von Ursu­la Kre­chel besteht aus drei Tei­len: »Eva«, »ab ovo«, »als ob«. Der fast unge­heu­er­li­che Span­nungs­bo­gen, den er beschreibt, braucht wahr­schein­lich Wort­fül­le als Trä­ger­ma­te­ri­al – aber die­se ist für den­je­ni­gen, der unter der hoch­ge­spann­ten Wöl­bung sitzt und liest, mit­un­ter anstren­gend. Nun ver­ra­ten die kom­pli­zier­te Kon­struk­ti­on des Romans und sein Erfin­dungs­reich­tum die Mei­ster­schaft der Autorin, aber man muss sich ohne Wenn und Aber dar­auf ein­las­sen, sonst ver­irrt man sich in den Frau­en­bio­gra­fien, die in zwei Fäl­len auch in Lebens­be­schrei­bun­gen der von ihnen gebo­re­nen Söh­ne laufen.

Eva ist eine unauf­fäl­li­ge Frau, die einer Kräu­ter­han­dels­ket­te als Ver­käu­fe­rin dient. Zen­trum ihres Lebens ist ihr erwach­se­ner, beruf­lich wohl erfolg­lo­ser Sohn, den sie bei­na­he umwirbt. Der jedoch küm­mert sich kaum um sie, mit sei­ner Mut­ter zu spre­chen, ist für ihn fast wie Dra­chen­saat. Er isst sich durchs Leben und hockt vor sei­nem Com­pu­ter, führt das Leben eines Ein­sied­lers. Was er aus­brü­tet, wird erst am Ende klar. Da ist sei­ne Mut­ter bereits kei­ne Ver­käu­fe­rin mehr, die Han­dels­ket­te schließt die mei­sten Filia­len. Die Schil­de­rung eines Wochen­end­se­mi­nars der Han­dels­ket­te, durch­ge­führt mit dem Ver­kaufs­per­so­nal, der aal­glat­te Umgangs­ton, die geheu­chel­te Freund­lich­keit, die­se Sei­ten sind ein Kabi­nett­stück eige­ner Güte! Dass Eva in die Hör­aku­stik­bran­che wech­selt, auf dass sie viel­leicht auch etwas zu hören ler­ne, von dem, was so geflü­stert wird, ist fein zise­lier­te Ironie.

Dass sie beob­ach­tet wird, wird ihr erst all­mäh­lich klar. Die Beob­ach­te­rin ist die Latein­leh­re­rin Sil­ke Aschau­er, die offen­bar über sie schreibt, wie auch über die namen­lo­se Justiz­mi­ni­ste­rin im drit­ten Teil. Sil­ke Aschau­er ist eine ambi­tio­nier­te Leh­re­rin, eine beseel­te Ver­mitt­le­rin des wun­der­vol­len, klas­si­schen Lateins an einem Gym­na­si­um. Aber sie wählt für ihre Kur­se Tex­te aus, wel­che nicht die »Schön­heit« der Anti­ke spie­geln, da geht es nicht um »edle Ein­falt und stil­le Grö­ße«, son­dern auf die Schü­le­rin­nen pras­selt die gan­ze Bru­ta­li­tät her­un­ter, die eben auch kenn­zeich­nend für die­se Epo­che war. Die Taci­tus-Lek­tü­re besteht aus Mord­ge­schich­ten. »Taci­tus stei­gert und strafft, ver­knappt: Der erste Mord, dann der zwei­te…«, resü­miert Sil­ke Aschau­er. Und es geht immer um Macht: »Haec cau­sa necis … Das war der Grund für den Mord.« Frei­lich gefällt ein sol­cher Unter­richt man­chem nicht; Sil­ke Aschau­er muss sich mit der Beschwer­de einer Mut­ter her­um­schla­gen, der es nicht passt, dass die Gegen­wart so grell aus anti­ken Tex­ten leuch­tet, eben weil ihr Freund der Bru­ta­li­tät der Gegen­wart auf schlim­me Wei­se aus­ge­setzt war.

Ob der Mord­ver­such an der Justiz­mi­ni­ste­rin auch mit Macht­ge­winn zu tun hat, wird nicht recht klar. Aber es lässt sich ver­mu­ten, denn der Täter schreit »du, du«. Manch einer ver­mu­tet daher eine Bezie­hungs­tat. Wie kei­ner der ande­ren Tei­le trifft »als ob« – und wenn es pathe­tisch klingt – ins Herz unse­rer Zeit. Und zwar des Aber­wit­zes der Gegen­wart. Da gibt es zwar man­che Abschwei­fung, Schil­de­run­gen von Träu­men, eine Gele­gen­heit zum Wort­spiel wird kaum ein­mal aus­ge­las­sen; da muss eben die Fra­ge gestellt wer­den, war­um die Ber­li­ner Moh­ren­stra­ße noch nicht umbe­nannt wur­de … Aber in die­sem Roman­teil wird dem, was man viel­leicht »Zeit­geist« nen­nen könn­te, auf schar­fe und in der ver­meint­li­chen Unsach­lich­keit doch genau tref­fen­de Art die Dia­gno­se gestellt. Natür­lich schau­dert es einen, wenn man zum Zeu­gen eines Mes­ser­an­griffs auf die Mini­ste­rin wird, des­sen Tat­be­schrei­bung sich wie eine Fern­seh­re­por­ta­ge liest. (Und damit sich der Kreis schließt, ist der Atten­tä­ter der selt­sa­me Sohn der Eva, der kaum mit sei­ner Mut­ter spricht und sich in sei­nem Zim­mer vor dem Com­pu­ter­schirm abschot­tet.) Aber noch mehr gru­selt es einen, wenn man die E-Mails liest, mit denen die Justiz­mi­ni­ste­rin über­zo­gen wird. Frei­lich, sie sind erfun­den, aber sie sind so gut erfun­den, dass sie fast authen­tisch wirken.

Und zum Schau­der trägt die­ses »als ob« bei: Als ob es wirk­lich so ist, klingt in einem auf. Als ob die­ses Land wirk­lich der­ar­tig ver­dummt. Als ob Gewalt so selbst­ver­ständ­lich, so all­täg­lich gewor­den ist. Und Sil­ke Aschau­er fragt sich, weil sie auf einer Foto­gra­fie das Fahr­zeug eines Ber­gungs­un­ter­neh­mens sieht: »Ret­tet die Kunst? Die Kunst ret­tet nicht.« Und da der letz­te Satz des Buches lau­tet, dass vom »Recht auf Zeug­nis­ver­wei­ge­rung Gebrauch« gemacht wer­de, ist es wohl so, dass wir nicht zu ret­ten sind. Rät­sel­haft auch der abschlie­ßen­de Zusatz: »Ber­lin, 1. April 2022 – 29. Febru­ar 2024«. Als soll­ten die mit Selt­sam­keit behaf­te­ten Daten das Erfun­de­ne, Kunst­pro­dukt­haf­te beto­nen. Doch das zu glau­ben, gelingt einem nicht, obwohl es man gern möchte.

Denn es ist ein Roman über Gewalt. Und das ist nicht nur das Atten­tat. Es ist auch die Ver­wei­ge­rung des Mit­ein­an­der­spre­chens, es ist der Rück­griff auf die Anti­ke (Nero lässt sei­ne Mut­ter Agrip­pi­na ermor­den), es ist die Gewalt der Weib­lich­keit, deren blu­ti­ges Opfer Sil­ke Aschau­er fast wird. Ihre nor­ma­le Men­strua­ti­on artet zu einer bös­ar­ti­gen Erkran­kung aus, ihr Blut fließt in Strö­men, und sie wird fast ver­nich­tet. Es wird dies alles in gro­ßer Ein­dring­lich­keit und in noch grö­ße­rer Aus­führ­lich­keit geschil­dert, die auch den Leser (die­ses Wort hier mit Absicht!) an sei­ne Gren­zen bringt – den­noch: Gera­de Män­ner soll­ten das ein­mal lesen.

Ein fes­seln­der Roman, der durch sei­ne Fik­tio­na­li­tät besticht. Man liest nicht, wie Autor(in) XY die Welt sieht, son­dern eine Welt wird erfun­den, die erschreckend real ist, in Ver­gan­gen­heit und Gegenwart.

 Ursu­la Kre­chel: Sehr geehr­te Frau Mini­ste­rin. Roman, Klett-Cot­ta, 2025, 368 S., 26 €.