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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Spintisieren im Tagebuch

Im Jah­re 1950 führ­te Johan­nes R. Becher Tage­buch, ver­öf­fent­licht als »Auf ande­re Art so gro­ße Hoff­nung« (hier Auf­bau Ver­lag Ber­lin und Wei­mar, 1969). Man liest eit­le Selbst­er­mun­te­run­gen, Bana­li­tä­ten, Berau­schun­gen mit und an Lenin, des­sen »Grö­ße« dar­in bestan­den habe, dass ihm Sta­lin nach­folg­te. Man hört von begei­ster­ten Pio­nie­ren, wel­che die die von ihm ver­fass­te Natio­nal­hym­ne »schön« abschrei­ben wol­len, von einer Frau namens »Ikchen« (»anspruchs­los und ein­fach gut, und auf zau­ber­haf­te Art ver­glü­hend«), ver­nimmt ein Lob des Wei­nes aus der Pfalz und die Trink­sprü­che zum 74. Geburts­tag des Prä­si­den­ten Wil­helm Pieck. Man erfährt von Bechers Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit »Kunst­bü­ro­kra­ten«, spürt oft den lei­sen Zwei­fel am eige­nen Tun, den zag­haf­ten Wider­stand gegen poli­ti­sche Umstän­de: »Nur das nicht: Rand­glos­sen zum poli­ti­schen Gesche­hen«. Und man­che Betrach­tung über Kunst und Schrei­ben passt noch heu­te: »Man muss dem Men­schen einen Halt geben und Gedan­ken, mit denen sich wei­ter­le­ben läßt.« Ande­rer­seits nimmt er die Nach­richt vom Tode Geor­ge Orwells auf wie die vom Tod eines »Mensch­heits­fein­des«.

Der inner­lich zer­ris­se­ne Par­tei­schrei­ber und doch wun­der­ba­re Lyri­ker Johan­nes R. Becher sinnt am 18. Janu­ar 1950 dar­über nach, dass jede Gesell­schafts­ord­nung das Recht und die Plicht habe, »Gemein­ge­fähr­li­che« zu ver­wah­ren. Dann fragt er sich, für wel­che Tat­be­stän­de die­se »Ver­wah­rungs­pflicht« gel­ten müss­te und ant­wor­tet: »Kriegs­het­ze (…) Wider­stand gegen die Neu­ord­nung mensch­li­cher Ver­hält­nis­se (…), Ver­su­che, das Unmensch­li­che wie­der als System zu konstituieren.«

Es stimmt ver­drieß­lich, dass es heu­te wohl nicht weni­ger »Ver­wah­rungs­an­wär­ter« gibt als vor fünf­und­sieb­zig Jah­ren. Doch hat man damals nicht nach den Vor­schlä­gen von Dich­tern gehan­delt, so wird man es auch jetzt unterlassen.