5.Juni 2024: In der Kölner Agneskirche, die dem Agnesviertel, in dem ich lebe, seinen Namen gibt, fand am Abend eine Informationsveranstaltung statt: Zum Umbau der nahegelegenen ehemaligen Oberfinanzdirektion als Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Vertreter der Stadt Köln und der Bezirksregierung Köln erläuterten das Projekt. Die Kirche war voll; die Stimmung schon zu Beginn der Veranstaltung angespannt.
Die Bezirksregierung Köln ist für die Unterbringung von fünf Prozent aller in Deutschland ankommenden Flüchtlinge zuständig. Das bedeutet - gemeinsam mit den Städten - auch die Suche nach passenden Gebäuden. Und eine gerechte Verteilung. Flüchtlingsunterkünfte sollen nicht nur in den ärmeren Stadtteilen, sondern auch in den schicken Vierteln der Mittelschicht eingerichtet werden. Zum Beispiel eben im gentrifizierten Agnesviertel mit seinen vielen Eigentumswohnungen und gastronomischen Einrichtungen. Menschen mit geringem Einkommen, aber auch alte Menschen können hier nicht mehr leben: Die Mieten viel zu hoch, der Cappuccino ein Luxusartikel, Einzelhandelsgeschäfte für den alltäglichen Bedarf: Fehlanzeige. Es gibt nur noch Rewe und natürlich Amazon. Aber auch immer mehr Obdachlose, die auf die Almosen der Wohlhabenden hoffen.
Eine Erstaufnahmeeinrichtung ist – wie das Wort schon sagt – die erste Station für neu ankommende Flüchtlinge. Dort werden sie registriert und ärztlich untersucht. Außerdem erhalten sie (wenn es gut geht) eine Beratung und können ihre Asylanträge stellen. Nach einigen Wochen werden sie einer kreisfreien Stadt oder einem Landkreis zugewiesen und dort bis zum Ende ihrer Verfahren in einer »normalen« Flüchtlingsunterkunft untergebracht. Die neue Erstaufnahmeeinrichtung für bis zu 500 Menschen im Agnesviertel, die wohl im Frühjahr 2026 eröffnet wird, soll eine Flüchtlingsunterkunft im Kölner Süden ersetzen. Dort wird nun – zur Erleichterung der Anwohner – eine Schule gebaut werden.
Wäre ich einfach so in die Agneskirche gegangen, zum Beispiel um Gott in einem Gebet anzuflehen, dass er den Menschen mehr Mitgefühl für Flüchtlinge und ihre traumatischen Belastungen schenken möge, ich hätte gedacht, dass ich in einer AfD-Versammlung gelandet bin. Nach den Informationen der offiziellen Vertreter durften die anwesenden Bürger Fragen stellen. Was sie in der Regel nicht taten. Die Mehrheit derjenigen, die sich an das Mikrophon im Mittelgang stellten, hatte keine Fragen, sondern längst eine Meinung – gegen die Erstaufnahmeeinrichtung.
Man sorgte sich, dass die Flüchtlinge »frei durch das Agnesviertel laufen« könnten, einer der Redner wollte gar wissen, ob es sein könne, dass dann »Flüchtlinge neben uns im Café sitzen?«; man sorgte sich, dass die Immobilienpreise im Viertel wegen der Flüchtlinge sinken könnten; man sorgte sich um die jungen Frauen, die im kleinen Park am Theodor-Heuss-Ring um die Ecke »im Sommer gerne oben ohne in der Sonne liegen« und in Zukunft ständig Angst haben müssten, »von Flüchtlingen belästigt zu werden«. Man forderte, im Gebäude der Oberfinanzdirektion lieber Wohnungen zu bauen, um etwas gegen die herrschende Wohnungsnot zu unternehmen; man beschwerte sich über die hohen Umbaukosten, das Geld sich »sowieso nicht mehr«, will in absehbarer Zeit dank der verschärften Grenzkontrollen und andere Maßnahmen der EU »nicht mehr so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen werden – glücklicherweise«.
Ebenso bedrückend wie diese Aussagen, war eine Erfahrung mit mir selbst. Es kostete mich nämlich Mut, in dieser feindlichen, aggressiven Umgebung ans Mikrophon zu gehen. Und u.a. zu fragen, was denn nach Ansicht der Anwesenden mit den Flüchtlingen geschehen solle? Erschießung an der Grenze? Oder Tod durch Ertrinken im Mittelmeer? Ich jedenfalls sei der Meinung, dass das reiche Agnesviertel seiner sozialen Verpflichtung nachkommen müsse. Das aufbrandende aggressive Wutgeheult, die »Aufhören!«-Rufe machten mir Angst. Meine Knie zitterten.
Das also macht mir schon Angst? Dafür brauche ich schon Mut? Was werde ich tun, wenn die Stimmung gegen Flüchtlinge noch schlimmer, noch feindseliger, noch aufgehetzter, noch brutaler wird? Oder wenn die Obdachlosen der Sauberkeit und Ordnung wegen weggeräumt werden. Einfach den Mund halten?
Ich kannte viele Gesichter in der Kirche, schließlich lebe ich schon lange hier im Viertel, doch natürlich weiß ich nicht, wer welcher Partei nahesteht. Aber ich weiß, dass knapp 40 Prozent der Viertelbewohner bei der letzten Bundestagswahl grün gewählt haben, also in ihrem Selbstverständnis zur Avantgarde für eine bessere Welt gehören. Immerhin gab es aus den letzten beiden Reihen in der Kirche Applaus für meinen Redebeitrag. Potentielle Verbündete vielleicht. Wir müssen uns finden!