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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tollerei

Bei etwas Sturm recht­zei­tig zum Thea­ter zu kom­men, ist auch in Ber­lin unmög­lich, vor allem wenn der S-Bahn-Ver­kehr ein­ge­stellt wird und es mit U-Bah­nen auch nicht so ein­fach ist, zumal die auch oben fah­ren. War­um soll das in Ber­lin bes­ser als z. B. in Stutt­gart sein?

Wir kamen also eine hal­be Stun­de zu spät, dafür beka­men wir ein Upgrade! Weil der zwei­te Rang prak­tisch leer war, durf­ten wir im ersten Rang einen Platz wäh­len. Hin­ein durf­ten wir aber nicht gleich, son­dern muss­ten eine Stel­le mit lau­tem Wum­mern der Bäs­se abwar­ten; die­se gab es öfter.

Das Stück (Hin­ke­mann von Ernst Tol­ler, Regie: Anne Lenk), nen­nen wir es ein Sozi­al­dra­ma, über die (phy­sisch) ver­stüm­meln­den Fol­gen des 1. Welt­kriegs, aber auch zu des­sen psy­chi­schen Fol­gen, war also schon im vol­len Gan­ge, aber da wir die Geschich­te schon kann­ten, fan­den wir uns schnell zurecht. Phy­si­sche und psy­chi­sche Fol­gen fan­den sich zusam­men im Beruf des Prot­ago­ni­sten: Er fand Arbeit, um sei­ne Frau und sich zu ernäh­ren, in einem Zir­kus oder Varie­té, in dem er als deut­scher Kraft­mann, Rat­ten und Mäu­sen die Keh­le durch­biss und etwas Blut trank. War das eine Par­odie auf den Blut­rausch kurz davor oder danach und aktu­ell schon wie­der? Oder ein kul­tu­rell sub­li­mier­ter blut­war­mer Ent­zug (sie­he S. Freud)?

Nun, sol­che Gedan­ken konn­ten einem kom­men, wenn man nicht durch die etwas pop­pi­ge Art der Insze­nie­rung abge­lenkt wur­de, durch die frei­lich immer wie­der der sozia­le Gehalt des Stückes – Mann oder Mensch – durch­schim­mer­te. Ohne Zit­ter­par­tie der Schau­spie­ler geht es schein­bar nicht, auch ohne selt­sa­me Kostü­me und ein puri­sti­sches Büh­nen­bild, das immer wie­der durch einen Vor­hang ver­deckt wur­de, auf dem ein gro­ßer blon­der Kopf uns Rät­sel auf­gab: Schaut es uns an, schau­ten wir zurück.

Einer­seits steht das Thea­ter vor der Her­aus­for­de­rung, histo­risch inter­es­san­te Stücke in unse­re Zeit für uns in die Gegen­wart zu brin­gen, ande­rer­seits darf das kei­ne deut­li­che Anspie­lung sein, sonst wäre die Kar­rie­re rasch zu Ende. Das, was sich Muti­ge trau­en, ist schon recht wenig gewor­den. Es ist lei­der nicht so, dass wo die Gefahr wächst, das Ret­ten­de auch … Eher legt man die Ohren an und schüt­telt sich wie unser Held gelegentlich.

Das Stück über einen geni­tal­ver­stüm­mel­ten Arbeits­lo­sen ist etwas ana­chro­ni­stisch, heu­te wäre das kein The­ma, zumin­dest nicht im grü­nen Him­mel, der alter­na­ti­ven Höl­le. Und die Fol­gen der Arbeits­lo­sig­keit wer­den hin­weg geliebt.

Was sehen wir da? Dass es unmög­lich ist, ein sozi­al­kri­ti­sches Stück mit der nöti­gen Schär­fe, ohne Hap­py­end, (rea­li­stisch) zu insze­nie­ren. Immer muss ein Bum-Bang oder Pling-Pling die Schär­fe neh­men und für Ablen­kung sor­gen. Wir sehen also einen Kampf, näm­lich den des Stückes gegen sei­ne Inszenierung.

Nun, das Schlimm­ste wäre ja, dass man das Thea­ter ver­lässt, und ein klei­nes biss­chen mehr zum Kriegs­geg­ner gewor­den ist.