Bei etwas Sturm rechtzeitig zum Theater zu kommen, ist auch in Berlin unmöglich, vor allem wenn der S-Bahn-Verkehr eingestellt wird und es mit U-Bahnen auch nicht so einfach ist, zumal die auch oben fahren. Warum soll das in Berlin besser als z. B. in Stuttgart sein?
Wir kamen also eine halbe Stunde zu spät, dafür bekamen wir ein Upgrade! Weil der zweite Rang praktisch leer war, durften wir im ersten Rang einen Platz wählen. Hinein durften wir aber nicht gleich, sondern mussten eine Stelle mit lautem Wummern der Bässe abwarten; diese gab es öfter.
Das Stück (Hinkemann von Ernst Toller, Regie: Anne Lenk), nennen wir es ein Sozialdrama, über die (physisch) verstümmelnden Folgen des 1. Weltkriegs, aber auch zu dessen psychischen Folgen, war also schon im vollen Gange, aber da wir die Geschichte schon kannten, fanden wir uns schnell zurecht. Physische und psychische Folgen fanden sich zusammen im Beruf des Protagonisten: Er fand Arbeit, um seine Frau und sich zu ernähren, in einem Zirkus oder Varieté, in dem er als deutscher Kraftmann, Ratten und Mäusen die Kehle durchbiss und etwas Blut trank. War das eine Parodie auf den Blutrausch kurz davor oder danach und aktuell schon wieder? Oder ein kulturell sublimierter blutwarmer Entzug (siehe S. Freud)?
Nun, solche Gedanken konnten einem kommen, wenn man nicht durch die etwas poppige Art der Inszenierung abgelenkt wurde, durch die freilich immer wieder der soziale Gehalt des Stückes – Mann oder Mensch – durchschimmerte. Ohne Zitterpartie der Schauspieler geht es scheinbar nicht, auch ohne seltsame Kostüme und ein puristisches Bühnenbild, das immer wieder durch einen Vorhang verdeckt wurde, auf dem ein großer blonder Kopf uns Rätsel aufgab: Schaut es uns an, schauten wir zurück.
Einerseits steht das Theater vor der Herausforderung, historisch interessante Stücke in unsere Zeit für uns in die Gegenwart zu bringen, andererseits darf das keine deutliche Anspielung sein, sonst wäre die Karriere rasch zu Ende. Das, was sich Mutige trauen, ist schon recht wenig geworden. Es ist leider nicht so, dass wo die Gefahr wächst, das Rettende auch … Eher legt man die Ohren an und schüttelt sich wie unser Held gelegentlich.
Das Stück über einen genitalverstümmelten Arbeitslosen ist etwas anachronistisch, heute wäre das kein Thema, zumindest nicht im grünen Himmel, der alternativen Hölle. Und die Folgen der Arbeitslosigkeit werden hinweg geliebt.
Was sehen wir da? Dass es unmöglich ist, ein sozialkritisches Stück mit der nötigen Schärfe, ohne Happyend, (realistisch) zu inszenieren. Immer muss ein Bum-Bang oder Pling-Pling die Schärfe nehmen und für Ablenkung sorgen. Wir sehen also einen Kampf, nämlich den des Stückes gegen seine Inszenierung.
Nun, das Schlimmste wäre ja, dass man das Theater verlässt, und ein kleines bisschen mehr zum Kriegsgegner geworden ist.