Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Triggerwarnung erst am Ende

Da immer­hin 22 »Betrof­fe­ne« und die wohl unzähl­ba­re Men­ge derer, »die unbe­dingt alles ver­ste­hen wol­len«, nicht am Anfang, son­dern erst am Ende des Buches auf eine feh­len­de Trig­ger­war­nung (vor »bösen« Wör­tern) hin­ge­wie­sen wer­den, könn­te man mei­nen, Lutz Rathe­now habe mit sei­nen Gedich­ten min­de­stens die hal­be Welt gegen sich auf­brin­gen oder sich lustig machen oder ganz dezent auf die Wei­te und Brei­te der The­ma­tik sei­ner Gedich­te hin­wei­sen wol­len. Und die beschreibt wun­der­bar ruhig das schö­ne Gedicht »Irgend­et­was stört«. Als geht ein zum Sprech­kör­per gewor­de­nes lyri­sches Sub­jekt neben einem her und teilt mit, dass irgend­et­was immer stört: Son­ne, Wind, Regen, Trocken­heit, Zeit, Tem­pe­ra­tur, Hun­de, Men­schen, Pflan­zen, Kat­zen, Mücken, Gere­de, Mar­me­la­den­glä­ser ohne Mar­me­la­de … Ja, es stört, wie zu erwar­ten ist, das Stö­ren, auch Urlaub etwa oder des­sen dro­hen­des Ende. Deli­kat im besten Sin­ne dann eine Kon­klu­si­on mit­ten im Text: »Die Arbeit /​ stört eigent­lich wenig.« Kein ande­rer Text des Buches hat mich so »getrig­gert« wie die­ser – obwohl ich mich in der War­nung nicht ent­decken konn­te. Ein gutes oder ein schlech­tes Zei­chen? Wie auch immer: Ich habe als Leser etwas von mir und mei­nen Stim­mun­gen ver­stan­den, groß­ar­tig, wenn einem ein Gedicht so nahe kommt. Ähn­lich wirkt »Der Vater, Abschied«. Aus der all­täg­li­chen Situa­ti­on des Abrei­sens – das Fen­ster, das sich nicht öff­nen lässt, das Lächeln im Zug­ab­teil und auf dem Bahn­steig, das Win­ken – wer­den uner­hört wirk­sa­me Ver­se, die man, was viel­leicht auch mit dem eige­nen Alter zu tun hat, nicht weg­schie­ben oder ver­ges­sen kann: »Wir hör­ten uns nicht und ver­stan­den uns doch. /​ Jetzt erst begin­ne ich mei­nen Vater zu lieben.«

Das vom Ver­lag Ralf Lie­be in Wei­ler­swist mit wirk­li­cher Lie­be gestal­te­te Buch, wozu auch 10 wun­der­schö­ne, beflü­geln­de (sie haben etwas Auf­fah­ren­des, zum Him­mel Gerich­te­tes) Holz­schnit­te von Kat­ja Zwirn­mann gehö­ren, ent­hält 111 Gedich­te Rathe­nows, was mehr­fach betont wird. Nun kann das Zufall sein, da aber laut dem Text auf dem Buch­deckel ein »Gesamt­kunst­werk« ange­strebt wur­de, ist die Zahl viel­leicht doch mit Bedeu­tung auf­ge­la­den? (Aus­kunft über die »Engels­zahl« erteilt das Internet.)

Auch wenn einem alle Gedich­te gefal­len (von der Stu­fe »Begei­ste­rung« bis zu »nun ja«), sprengt ihre Anzahl die Mög­lich­keit einer ein­ge­hen­den Ein­zel­be­spre­chung. In com­pu­ter­af­fi­nen Zei­ten lässt sich aus der Binär­zahl 111 die Dezi­mal­zahl 7 errech­nen. Wir haben jetzt also noch fünf Gedichte:

Ein »Nun ja«-Gedicht »Natur. Natur?« auf Sei­te 18. Die Rei­me kom­men glatt daher: »pur /​ stur«, »Hit­ze­wel­le /​ Käl­tedel­le«. Ande­rer­seits kön­nen sim­pel wir­ken­de Rei­me eine star­ke Wir­kung ent­fal­ten, etwa in »Wütend sein und schun­keln«. (Eine Wei­ter­ent­wick­lung des Titels »Trot­zig lächeln und das Welt­all schau­keln«?) Das Gedicht schließt mit ein­präg­sam-sar­ka­sti­schen Ver­sen: »Not­falls gele­gent­lich auch einen Schuss – /​ statt fort­wäh­rend Ein­wan­de­rungs­ver­druss.« So kann es zuge­hen im »Schur­ken­staat … zum Glück noch mode­rat«. Scha­de ist nur, dass aus­ge­rech­net in die­sem wirk­lich tau­send Asso­zia­tio­nen ent­fa­chen­den Gedicht der Feh­ler »Abgren­zungs­see­lig­keit« nicht bemerkt wur­de. Die Selig­keit hat nun ein­mal nichts mit der See­le zu tun, obwohl das Gedicht genau in die­se trifft. Oder ist dies ein dop­pel­sin­ni­ger Neo­lo­gis­mus des Autors, der uns sagt, dass »Abgren­zung« schon beginnt, unse­re See­len zu vergiften?

Zu den schwie­ri­gen Auf­ga­ben des lyri­schen Dich­ters gehört, im Band sei­ner Gedich­te einen tra­gen­den Span­nungs­bo­gen zu errich­ten, zu hal­ten und ihn über­zeu­gend abzu­sen­ken. Das ist hier bra­vou­rös gelun­gen. Rathe­now beginnt mit der Kind­heit, in der man aus dem Haus rennt und hört: »Die Welt /​ bellt mich an.« Gera­de dar­um wir­ken die »Gedich­te als Bio­gra­fie« (so lau­tet die Über­schrift des Kapi­tels IV) so stark, weil der Dich­ter Rathe­now den Mut hat und listig genug ist, Tex­te aus frü­he­ren Zei­ten (sieb­zi­ger Jah­re etwa) her­vor­zu­ho­len, viel­leicht wei­ter­zu­schrei­ben und zu prä­sen­tie­ren. So sitzt man plötz­lich wie­der in einem Par­tei­lehr­jahr, Mon­tag (in der Tat fan­den die Par­tei­lehr­jah­re für Leh­rer immer mon­tags statt), 22.11.1976. Der Direk­tor einer Ober­schu­le, befragt zum Fall Bier­mann, erklärt, dass er gar nicht wis­sen wol­le, wor­um es geht, wenn er die rich­ti­ge Hal­tung habe. Denn mit rich­ti­ger Hal­tung wis­se er, wor­um es geht. Das sei so sicher wie das Amen in der Kir­che. Dass das Bekreu­zi­gen unter­bleibt, ver­steht sich, doch gera­de dies neben­hin Erwähn­te macht die Situa­ti­on fürch­ter­lich leben­dig. Denn plötz­lich steht der Wider­sinn jener Jah­re und des dar­in ver­brach­ten Lebens vor einem. Aber es sind nicht nur die Gedich­te, die an ein Frü­her erin­nern, in der die Beat­grup­pe THE WHO »My Gene­ra­ti­on« stot­ter­te und man viel­leicht fühl­te, aber nicht sagen konn­te: »Lust an der Empö­rung beginnt mit dem Ver­wei­gern kor­rek­ter Spra­che« – es sind vor allem die Tex­te, die »Gefun­den und wei­ter­ge­schrie­ben (mit Jah­res­zah­len), die einen das Neben­ein­an­der von Gestern und Heu­te spü­ren las­sen. So etwa: »In die Zukunft segeln«. Hier liest man viel­leicht ein Cre­do Rathe­nows: »Sieg ohne Krieg, Fest­ban­kett statt Mas­sen­grab«. Ja, wäre das doch mög­lich, denkt man dann, und es fällt einem ein, dass wir uns immer wei­ter davon ent­fer­nen in die­sen Tagen. Und den­noch, und für die­sen Gedicht­schluss muss man Rathe­now dank­bar sein: »Ich bebe und lebe, flie­ge gern«. Sei­ne Gedich­te sind eine Lebensreise.

Da ich weder Jena­er, Jenen­ser noch Brat­wurst­jun­kie (nach Defi­ni­ti­on der Trig­ger­war­nung) bin, darf ich viel­leicht mein Lieb­lings­ge­dicht aus die­sem Buch zitie­ren: »Ab einer gewis­sen Ent­fer­nung /​ lie­be ich Thü­rin­gen. /​ Sei­ne Klö­ße stecken uns /​ nicht nur im Hals. /​ Die­se Brat­wurst­luft. /​ Alles ver­zei­hen­de, ein jeg­li­ches /​ ben­ölen­de Gesel­lig­keit. /​ Weg­rennt der Renn­steig. /​ Wohin nur, wonach. /​ Ein Volk gekne­tet und fröh­lich /​ bei­ßend, auch hier ver­drängt /​ Ketch­up all­mäh­lich den Senf.« Ich kann, was der Fall ist, Thü­rin­gen nur lie­ben, wenn ich da bin. Lusti­ger­wei­se las ich die­se Ver­se in Thü­rin­gen, auf dem Renn­steig. Der ist bis zur Abrei­se zum Glück geblie­ben und nicht fort­ge­lau­fen, das gro­ße R auf den Schil­dern hat­te noch sei­ne Funk­ti­on. Aber mir gin­gen die Ver­se nicht aus dem Sinn, und ich merk­te, als ich die Ankün­di­gun­gen der Kir­mes­sen (man­che nur für Män­ner!) las, wie die Sicht des lyri­schen Ichs (Rathe­now ist über­haupt ein lyri­sches Ich in Per­son.) sich in mei­ne Gedan­ken flocht. Das ist sei­ne Kunst: Man liest ein »Pla­ce­bo­ge­dicht« und meint zuerst kei­ne Wir­kung der Wort­spie­le zu spü­ren. Doch auf ein­mal ist sie da. Die gelieb­te For­mel »Es wer­de Licht!« als »Es wäre Licht.« bei Rathe­now lässt einen so leicht nicht los. So geht es mit vie­len Gedich­ten des Ban­des, den man, wie frü­her üblich, den Lese­rin­nen und Lesern ans Herz legen sollte.

Lutz Rathe­now: Frü­her ist mor­gen. 111 Gedich­te mit 10 Holz­schnit­ten von Kat­ja Zwirn­mann, Ver­lag Ralf Lie­be Wei­ler­swist 2025, 152 S., 25 €.