Da immerhin 22 »Betroffene« und die wohl unzählbare Menge derer, »die unbedingt alles verstehen wollen«, nicht am Anfang, sondern erst am Ende des Buches auf eine fehlende Triggerwarnung (vor »bösen« Wörtern) hingewiesen werden, könnte man meinen, Lutz Rathenow habe mit seinen Gedichten mindestens die halbe Welt gegen sich aufbringen oder sich lustig machen oder ganz dezent auf die Weite und Breite der Thematik seiner Gedichte hinweisen wollen. Und die beschreibt wunderbar ruhig das schöne Gedicht »Irgendetwas stört«. Als geht ein zum Sprechkörper gewordenes lyrisches Subjekt neben einem her und teilt mit, dass irgendetwas immer stört: Sonne, Wind, Regen, Trockenheit, Zeit, Temperatur, Hunde, Menschen, Pflanzen, Katzen, Mücken, Gerede, Marmeladengläser ohne Marmelade … Ja, es stört, wie zu erwarten ist, das Stören, auch Urlaub etwa oder dessen drohendes Ende. Delikat im besten Sinne dann eine Konklusion mitten im Text: »Die Arbeit / stört eigentlich wenig.« Kein anderer Text des Buches hat mich so »getriggert« wie dieser – obwohl ich mich in der Warnung nicht entdecken konnte. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Wie auch immer: Ich habe als Leser etwas von mir und meinen Stimmungen verstanden, großartig, wenn einem ein Gedicht so nahe kommt. Ähnlich wirkt »Der Vater, Abschied«. Aus der alltäglichen Situation des Abreisens – das Fenster, das sich nicht öffnen lässt, das Lächeln im Zugabteil und auf dem Bahnsteig, das Winken – werden unerhört wirksame Verse, die man, was vielleicht auch mit dem eigenen Alter zu tun hat, nicht wegschieben oder vergessen kann: »Wir hörten uns nicht und verstanden uns doch. / Jetzt erst beginne ich meinen Vater zu lieben.«
Das vom Verlag Ralf Liebe in Weilerswist mit wirklicher Liebe gestaltete Buch, wozu auch 10 wunderschöne, beflügelnde (sie haben etwas Auffahrendes, zum Himmel Gerichtetes) Holzschnitte von Katja Zwirnmann gehören, enthält 111 Gedichte Rathenows, was mehrfach betont wird. Nun kann das Zufall sein, da aber laut dem Text auf dem Buchdeckel ein »Gesamtkunstwerk« angestrebt wurde, ist die Zahl vielleicht doch mit Bedeutung aufgeladen? (Auskunft über die »Engelszahl« erteilt das Internet.)
Auch wenn einem alle Gedichte gefallen (von der Stufe »Begeisterung« bis zu »nun ja«), sprengt ihre Anzahl die Möglichkeit einer eingehenden Einzelbesprechung. In computeraffinen Zeiten lässt sich aus der Binärzahl 111 die Dezimalzahl 7 errechnen. Wir haben jetzt also noch fünf Gedichte:
Ein »Nun ja«-Gedicht »Natur. Natur?« auf Seite 18. Die Reime kommen glatt daher: »pur / stur«, »Hitzewelle / Kältedelle«. Andererseits können simpel wirkende Reime eine starke Wirkung entfalten, etwa in »Wütend sein und schunkeln«. (Eine Weiterentwicklung des Titels »Trotzig lächeln und das Weltall schaukeln«?) Das Gedicht schließt mit einprägsam-sarkastischen Versen: »Notfalls gelegentlich auch einen Schuss – / statt fortwährend Einwanderungsverdruss.« So kann es zugehen im »Schurkenstaat … zum Glück noch moderat«. Schade ist nur, dass ausgerechnet in diesem wirklich tausend Assoziationen entfachenden Gedicht der Fehler »Abgrenzungsseeligkeit« nicht bemerkt wurde. Die Seligkeit hat nun einmal nichts mit der Seele zu tun, obwohl das Gedicht genau in diese trifft. Oder ist dies ein doppelsinniger Neologismus des Autors, der uns sagt, dass »Abgrenzung« schon beginnt, unsere Seelen zu vergiften?
Zu den schwierigen Aufgaben des lyrischen Dichters gehört, im Band seiner Gedichte einen tragenden Spannungsbogen zu errichten, zu halten und ihn überzeugend abzusenken. Das ist hier bravourös gelungen. Rathenow beginnt mit der Kindheit, in der man aus dem Haus rennt und hört: »Die Welt / bellt mich an.« Gerade darum wirken die »Gedichte als Biografie« (so lautet die Überschrift des Kapitels IV) so stark, weil der Dichter Rathenow den Mut hat und listig genug ist, Texte aus früheren Zeiten (siebziger Jahre etwa) hervorzuholen, vielleicht weiterzuschreiben und zu präsentieren. So sitzt man plötzlich wieder in einem Parteilehrjahr, Montag (in der Tat fanden die Parteilehrjahre für Lehrer immer montags statt), 22.11.1976. Der Direktor einer Oberschule, befragt zum Fall Biermann, erklärt, dass er gar nicht wissen wolle, worum es geht, wenn er die richtige Haltung habe. Denn mit richtiger Haltung wisse er, worum es geht. Das sei so sicher wie das Amen in der Kirche. Dass das Bekreuzigen unterbleibt, versteht sich, doch gerade dies nebenhin Erwähnte macht die Situation fürchterlich lebendig. Denn plötzlich steht der Widersinn jener Jahre und des darin verbrachten Lebens vor einem. Aber es sind nicht nur die Gedichte, die an ein Früher erinnern, in der die Beatgruppe THE WHO »My Generation« stotterte und man vielleicht fühlte, aber nicht sagen konnte: »Lust an der Empörung beginnt mit dem Verweigern korrekter Sprache« – es sind vor allem die Texte, die »Gefunden und weitergeschrieben (mit Jahreszahlen), die einen das Nebeneinander von Gestern und Heute spüren lassen. So etwa: »In die Zukunft segeln«. Hier liest man vielleicht ein Credo Rathenows: »Sieg ohne Krieg, Festbankett statt Massengrab«. Ja, wäre das doch möglich, denkt man dann, und es fällt einem ein, dass wir uns immer weiter davon entfernen in diesen Tagen. Und dennoch, und für diesen Gedichtschluss muss man Rathenow dankbar sein: »Ich bebe und lebe, fliege gern«. Seine Gedichte sind eine Lebensreise.
Da ich weder Jenaer, Jenenser noch Bratwurstjunkie (nach Definition der Triggerwarnung) bin, darf ich vielleicht mein Lieblingsgedicht aus diesem Buch zitieren: »Ab einer gewissen Entfernung / liebe ich Thüringen. / Seine Klöße stecken uns / nicht nur im Hals. / Diese Bratwurstluft. / Alles verzeihende, ein jegliches / benölende Geselligkeit. / Wegrennt der Rennsteig. / Wohin nur, wonach. / Ein Volk geknetet und fröhlich / beißend, auch hier verdrängt / Ketchup allmählich den Senf.« Ich kann, was der Fall ist, Thüringen nur lieben, wenn ich da bin. Lustigerweise las ich diese Verse in Thüringen, auf dem Rennsteig. Der ist bis zur Abreise zum Glück geblieben und nicht fortgelaufen, das große R auf den Schildern hatte noch seine Funktion. Aber mir gingen die Verse nicht aus dem Sinn, und ich merkte, als ich die Ankündigungen der Kirmessen (manche nur für Männer!) las, wie die Sicht des lyrischen Ichs (Rathenow ist überhaupt ein lyrisches Ich in Person.) sich in meine Gedanken flocht. Das ist seine Kunst: Man liest ein »Placebogedicht« und meint zuerst keine Wirkung der Wortspiele zu spüren. Doch auf einmal ist sie da. Die geliebte Formel »Es werde Licht!« als »Es wäre Licht.« bei Rathenow lässt einen so leicht nicht los. So geht es mit vielen Gedichten des Bandes, den man, wie früher üblich, den Leserinnen und Lesern ans Herz legen sollte.
Lutz Rathenow: Früher ist morgen. 111 Gedichte mit 10 Holzschnitten von Katja Zwirnmann, Verlag Ralf Liebe Weilerswist 2025, 152 S., 25 €.