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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Trotz alledem

»Ich hal­te den ver­zwei­fel­ten Opti­mi­sten für den Rea­li­sten der Zeit. Solan­ge ich in einer Welt lebe, in der ich die Frei­heit habe, Fra­gen zu stel­len, in der ich kei­ne Angst haben muss, Auto­ri­tä­ten anzu­zwei­feln, gibt es Hoff­nung.« So der jüdi­sche Publi­zist und Jurist Michel Fried­man in einem aktu­el­len Inter­view. Er selbst bezeich­net sich als einen »ver­zwei­fel­ten Demo­kra­ten« und hat sei­ne Äng­ste und Beden­ken in einem aktu­el­len Buch zum Aus­druck gebracht. Dabei ist er offen­bar jetzt an einem Punkt ange­langt, wo es ihn drängt, die Öffent­lich­keit auf­zu­rüt­teln. Er sieht die Demo­kra­tie in Gefahr, vor allem, weil nicht genü­gend Men­schen an ihrer Erhal­tung mit­wir­ken und eine gewis­se Gleich­gül­tig­keit bzw. Ago­nie Ein­zug gehal­ten hat. Die bestehen­de Frei­heit wird von vie­len als gege­ben hin­ge­nom­men und als selbst­ver­ständ­lich ange­se­hen. Fried­man macht deut­lich, dass dies nicht so ist und die Demo­kra­tie täg­lich neu ver­tei­digt wer­den muss.

In ihrem Mit­tel­punkt steht der Mensch und letzt­lich auch die Lie­be zum Men­schen. Die Unan­tast­bar­keit sei­ner Wür­de ist ver­fas­sungs­recht­lich ver­bürgt. Den­noch berei­tet ihm Sor­ge, »wie ein gro­ßer Teil der Men­schen aus der Geschich­te nicht lernt«. Die Unter­schied­lich­keit und Viel­fäl­tig­keit der Mei­nun­gen sind ihm wich­tig. Sie gehö­ren zur Demo­kra­tie, und der Streit kann die­ser nur för­der­lich sein. Er muss aber in gepfleg­ter Kul­tur aus­ge­tra­gen wer­den und mit gegen­sei­ti­gem Respekt. Dar­an man­gelt es heu­te oft­mals; nicht sel­ten wird die­ser Man­gel durch sozia­le Netz­wer­ke geför­dert. Hass, Gewalt und Bedro­hung sind lei­der viel­fach All­tag gewor­den und beglei­ten die Menschen.

Belei­di­gun­gen und auch Bedro­hun­gen war Fried­man selbst in sei­nem Leben oft aus­ge­setzt, auch zwei Atten­tats­ver­su­che hat es gege­ben. Einen abso­lu­ten Schutz kann der Staat nicht garan­tie­ren. Man­che Gegen­den in Ber­lin sind für bestimm­te Per­so­nen­grup­pen gefähr­li­cher als ande­re. Wer Kip­pa trägt, zeigt Bekennt­nis und Mut. Lei­der gibt es aber Mit­men­schen, die sich dadurch schein­bar pro­vo­ziert füh­len und mit psy­chi­scher oder phy­si­scher Gewalt reagie­ren. Anti­se­mi­ti­sche Straf­ta­ten sind auf dem Vor­marsch. Sehr zu Recht ver­weist Fried­man dar­auf, dass Demo­kra­tie Ver­trau­en braucht – das sich aber gesell­schaft­lich auf dem Rück­zug befin­det. Michel Fried­man for­mu­liert es so: »Der Ver­trau­ens­ver­lust beginnt dort, wo Erwar­tun­gen und Rea­li­tät aus­ein­an­der­klaf­fen.« Dabei treibt ihn die Fra­ge um, was wirk­lich aus der Ver­gan­gen­heit gelernt wur­de. Brechts War­nung, dass der Schoß noch immer frucht­bar ist, hat erschrecken­de Aktua­li­tät. »Wer jetzt nicht ein­greift, macht sich zum Kom­pli­zen. Jetzt gilt es, zu den­ken und zu reden, und zu handeln.«

Die­se Auf­for­de­rung ist mehr als über­fäl­lig, und es bleibt zu hof­fen, dass sie genü­gend Adres­sa­ten erreicht, die sich davon ange­spro­chen füh­len. Die Rechts­ent­wick­lung in vie­len euro­päi­schen Län­dern trägt zusätz­lich dazu bei, dass die Sor­ge um die Erhal­tung der Demo­kra­tie steigt. Die All­ge­mei­ne Erklä­rung der Men­schen­rech­te, die am 10. Dezem­ber 1948 durch die Gene­ral­ver­samm­lung der Ver­ein­ten Natio­nen ver­öf­fent­licht wur­de, gilt wei­ter­hin. Den­noch beob­ach­ten wir mit Sor­ge die inner­staat­li­che Ent­wick­lung in vie­len Ländern.

»Der Mensch ist nicht unmün­dig und die Geschich­te hat bewie­sen, dass Dik­ta­to­ren und Auto­kra­ten sich nicht ewig an der Macht hal­ten kön­nen.« Das 21. Jahr­hun­dert – ein Zeit­al­ter, das uns hät­te nach vorn brin­gen sol­len, geo­stra­te­gisch, geo­po­li­tisch. Statt­des­sen erle­ben wir ein gefähr­li­ches Zurück­fal­len in die alten Muster. »Es geht um Macht. Um Geld. Um die Fan­ta­sien impe­ria­ler Größenwahnträume.«

Auch wenn die Erkennt­nis­se nicht neu sind, kann man Fried­man nur nach­hal­tig zustim­men. Den­noch bleibt er ver­hal­ten opti­mi­stisch: »Das demo­kra­ti­sche System wird sich wei­ter­ent­wickeln müs­sen – auf der Basis sei­ner fun­da­men­ta­len Grund­rech­te. (…) Der kri­ti­sche Dia­log braucht die offe­ne Büh­ne. (…) Wir brau­chen Dia­log. Öffent­lich­keit. Eine neue Streit­kul­tur. Eine neue Demo­kra­tie. Eine ehr­li­che­re Demo­kra­tie.« Wir soll­ten wei­ter zwei­feln, auch gele­gent­lich wei­ter irren, aber an den Men­schen glauben.

Michel Fried­man: Mensch! Lie­bes­er­klä­rung eines ver­zwei­fel­ten Demo­kra­ten, Ber­lin Ver­lag 2025,140 S., 20 €.