Die entsetzlichen Gräueltaten und das unermessliche Leid waren noch sehr präsent. Vor 80 Jahren schien die internationale Gemeinschaft entschlossen, durch ein von allen Staaten akzeptiertes Abkommen die Wiederkehr von Faschismus und Krieg zu bannen. Die Essentials der UN-Charta zielten darauf, Kriege zu verhindern und Grundrechte, Würde und Wert der Menschen zu achten. Auf der Grundlage der Gleichberechtigung aller Nationen sollte der wirtschaftliche und soziale Fortschritt aller Völker gefördert werden. Alle Unterzeichnerstaaten erklärten sich bereit, Konflikte friedlich zu lösen, keine Hegemonie anzustreben, sich gegen Militarismus, Rassismus und Ausbeutung einzusetzen.
Aber heute scheinen all die Lehren aus der Entmenschlichung im Krieg vergessen; nichts davon gilt als Ziel und Wert in der realen Politik. Jeder halbwegs sensible und nachdenkliche Mensch schaut mit Entsetzen auf die Normalisierung entgrenzter Gewalt und die Verbrechen gegen die Menschheit in der Welt. Angst und Sorgen der Menschen wachsen. Denn die alten Mächte des Kolonialismus und Imperialismus scheinen entschlossen, ihre Interessen mit Gewalt durchzusetzen.
Statt aktiver Politik der Konfliktvermeidung auf der Basis gegenseitiger Sicherheit ist gigantische Aufrüstung das Leitprinzip auch der deutschen Bundesregierung. Der neue deutsche Militarismus samt Führungsanspruch in Europa beschert der Rüstungsindustrie obszöne Profite. Die unbegrenzt zur Verfügung gestellten Milliarden für Waffen fehlen in der Versorgung der Menschen. Intensive Propaganda, freiwillige Gleichschaltung der Leitmedien und das Züchten von Feindbildern sollen für Kriegstüchtigkeit in der Gesellschaft sorgen und eine Kriegsmentalität erzeugen. Zum neuen »Tag der Bundeswehr« zeigt die Tagesschau Kinder am Bundeswehr-Schießstand und in Panzern.
Die UN-Charta wird von den USA ad absurdum geführt. Ihr Anspruch auf die Weltherrschaft verhöhnt alle internationalen Regeln und Rechte – macht aber Angriffs- und Regimechange-Kriege des Westens, einschließlich der Osterweiterung der Nato, unabdingbar. Alle anderen haben sich der imperialen Ausbeutung zu fügen. Widerstand wird niedergemacht – das bekamen etliche demokratisch gewählte Regierungen in aller Welt zu spüren. Die globalen Wirtschaftskriege des Westens fordern mehr Tote als seine zahlreichen Kriege mit Vernichtungswaffen. Die USA und die EU haben im Vorfeld der Kriege in der Ukraine und in Gaza nicht im Sinne der UN-Charta zur Verhinderung von Konflikten beigetragen, sondern sie systematisch gefördert. Einkreisen, destabilisieren, ruinieren – nur unsere Interessen zählen! Deutschland und die EU bekämpfen bis heute Friedensinitiativen und Abrüstungsbemühungen.
Entsetzen hat angesichts Israels Gräueltaten, der Menschenverachtung und der Lügen Menschen auf der ganzen Welt gepackt. Das rechtsextreme, teils faschistische Regime nimmt sich selbstverständlich das Recht, das ganze Land Palästina zu besetzen, die Bewohner zu vertreiben, andere Länder zu überfallen, die Bevölkerung auszuhungern, Ärzte und Journalisten zu morden. Der Vernichtungskrieg in Gaza schockiert alle – bis auf die Politiker in Deutschland und den USA, die allenfalls taktisch geheuchelt humanitäre Hilfe an Hungernde leisten, die dann mit deutschen Waffen ermordet werden. Deutschland hat über Jahrzehnte die völkerrechtswidrige Besatzungspolitik, die Vertreibung und die Entrechtung der Palästinenser faktisch unterstützt. Nie waren Apartheidpolitik, ethnische Säuberung und das Ziel eines Groß-Israel Kriterien, die Waffenlieferungen und die unverbrüchliche Unterstützung des Staates Israel auch nur zu überdenken. Vielmehr erledigt nach Bundeskanzler Merz Israel mit seinen völkerrechtswidrigen Angriffen auf andere Länder die »Drecksarbeit« für uns: Da gleicht er sein Vokabular an das der israelischen Faschisten Ben-Gvir und Smotrich (beide Minister) an.
Kriege und Ausbeutung lassen Millionen von Menschen keine Überlebenschancen. Aber Deutschland bekämpft die Flüchtlinge, nicht die Fluchtursachen. Innenminister Dobrindt will Abschiebelager – unter Missachtung von Menschen- und Grundrechten. 66.000 ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer sind für die deutsche Politik kein Thema. Weil es nur Afrikaner und Asiaten sind? Menschen sind nicht gleichwertig, Menschenrechte ein Privileg, das man sich verdienen muss. Die Ergebnisse des EU-Migrationsgipfels auf der Zugspitze lassen einen schaudern: »Brutale Pushbacks (…) haben nicht nur Gewöhnungseffekte erzeugt, es wird auch immer schwerer, gegen solche Menschenrechtsverstöße vorzugehen. Geflüchtete werden dehumanisiert und ihres Rechts auf Asylantragsstellung beraubt« (Judith Kohlenberger im Freitag). Die Folgen der »Gewöhnung an menschenrechtliche Verstöße, an Militarisierung und Brutalisierung der Außengrenzen und an hetzerische, politische Diskurse über Schutzsuchende« bewirken eine Verrohung der Alltagsmoral und der staatlichen Institutionen.
Der Realpolitiker Egon Bahr hatte vor einer Schulklasse daran erinnert, dass es in der internationalen Politik nie um Demokratie oder Menschenrechte gehe, sondern um die Interessen von Staaten. Leider vergaß er zu sagen, wessen Interessen der Staat vorrangig bedient. Hunderte Milliarden werden derzeit aus dem Hut gezaubert, um Menschen massenweise morden zu können – Milliarden, die für ein menschenwürdiges Leben im Land fehlen. Man kann Bücher füllen mit all den Beispielen von Unrecht, Ausbeutung und systematischem Raub von Lebenschancen, die unsere Wirtschaftsordnung samt ihrem verlogenen Narrativ von Leistung, die sich lohnen müsse, bewirkt. Begleitet werden die asozialen Maßnahmen von einer Welle von Demagogie, Demütigung und Lügen: Steuersenkung zur Begünstigung der Reichen, Hetze gegen das faule Volk, das nicht länger arbeiten will, gegen Sozialschmarotzer (womit nicht die Steuerhinterzieher und -vermeider gemeint sind). Bürgergeldempfängern Daumenschrauben anlegen, Totalsanktionen verhängen! Hier herrscht Klassenkrieg.
Ist das mit dem sozialen Rechtsstaat, der parlamentarischen Demokratie vereinbar? Laut Johannes Agnoli bekam Mussolini zu Beginn seiner faschistischen Herrschaft den Rat, das Parlament bestehen zu lassen: »Massen, die demokratischen Gefühlen zuneigen, seien am besten durch ein Organ neutralisierbar, das ihnen die Illusion einer Beteiligung an der staatlichen Macht vermittelt. Nicht die gänzliche Abschaffung des Parlaments mache den Neuen Staat stark, sondern die Verlegung der Entscheidungsbefugnisse vom Parlament in den engeren Kreis nicht öffentlich tagender ›Eliten‹.« Klingt das nicht aktuell? Da die Demokratie auf Formalien reduziert wird, schwindet das Vertrauen in Regierung und Parteien – also muss das Volk überwacht, kontrolliert, muss jede Dissidenz unterdrückt werden. Dank der digitalen Plattformen gelingt das weitaus effektiver als früher. Die Tech-Konzerne besitzen nicht nur eine gigantische Wirtschaftsmacht. Sie dienen vor allem der Totalüberwachung. Apple, Meta/Facebook, Alphabet/Google, Amazon und Microsoft: Niemand entkommt ihrer totalitären Macht.
Nach einem Bericht in dem Digitalmagazin Globalbridge hat die israelische Regierung mit Bill Gates einen Vertrag geschlossen. Auftrag: Alle Telefongespräche der Einwohner in Gaza und dem Westjordanland speichern. »Eine KI erkennt Stimmen, rekonstruiert Wege, erstellt Profile und fällt anhand von Algorithmen regelrechte Todesurteile. Der Gazastreifen verwandelt sich in ein Labor für digitale Biopolitik und zukünftige Kriegsführung.« In Deutschland plant das Bundesinnenministerium ein neues Überwachungspaket, mit Gesichtserkennung und KI-basierter Zusammenführung verschiedener Datenbestände. Auch unser liebstes Spielzeug Smartphone, dem wir alle unsere Gedanken, Bedürfnisse und Geschäfte anvertrauen, dient Sicherheitsbehörden, Cloudanbietern und Analysefirmen als Datenquelle zum Ausbeuten, Ausforschen und Beeinflussen: Der Mensch wird zum Objekt, sein Kontrollverlust ist Realität. Canceln, Grund- und Menschenrechte einschränken, »verfassungsschutzrelevante Delegitimation des Staates« verfolgen, alle Proteste gegen den Völkermord Israels gewaltsam unterdrücken: Wie groß ist unsere Bereitschaft, Repression und totalitäre Tendenzen hinzunehmen?
Die Folge: Autoritäre Regierungen, faschistische Parteien erstarken in den USA und in fast allen Ländern der EU. Sie zu bekämpfen bleibt Aufgabe antifaschistischer Kräfte. Die Gefahr in Deutschland geht aber nicht nur von der AfD aus. Die moderne Form des Faschismus kommt nicht mit Hakenkreuzen und Heil-Hitler-Geschrei. Gewiss sind Merz, Klingbeil, Pistorius oder Dobrindt keine Faschisten. Aber die gegenwärtigen Schwerpunkte der Politik sind eines autoritären Staates »würdig« und fördern eine Klassenherrschaft, die mit ihren asozialen und menschenfeindlichen Praktiken nicht nur die AfD, sondern auch einen Faschismus aus der Mitte der Gesellschaft wachsen lässt.
Wenn Sozialdarwinismus und Militarismus faktisch Staatsräson werden, wenn Menschen nicht als gleichwertig, sondern als Objekt von Manipulation und Verwertung behandelt werden; wenn UN-Charta, Menschenrechte und Völkerrecht nichts mehr gelten; wenn Kritiker als Staatsfeinde behandelt werden und massiver repressiver Gewalt ausgesetzt sind, während sich die staatstreuen Medien in freiwilliger Gleichschaltung üben, dann ist Gefahr im Verzug. Wir sollten uns nicht zum Objekt der Interessen von faschistoiden Oligarchen degradieren lassen. Und wir sollten mit unserer Gegenwehr nicht bis zur Abschaffung der Demokratie und bis zum nächsten Weltkrieg warten.