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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verachtung und Verrohung

Die ent­setz­li­chen Gräu­el­ta­ten und das uner­mess­li­che Leid waren noch sehr prä­sent. Vor 80 Jah­ren schien die inter­na­tio­na­le Gemein­schaft ent­schlos­sen, durch ein von allen Staa­ten akzep­tier­tes Abkom­men die Wie­der­kehr von Faschis­mus und Krieg zu ban­nen. Die Essen­ti­als der UN-Char­ta ziel­ten dar­auf, Krie­ge zu ver­hin­dern und Grund­rech­te, Wür­de und Wert der Men­schen zu ach­ten. Auf der Grund­la­ge der Gleich­be­rech­ti­gung aller Natio­nen soll­te der wirt­schaft­li­che und sozia­le Fort­schritt aller Völ­ker geför­dert wer­den. Alle Unter­zeich­ner­staa­ten erklär­ten sich bereit, Kon­flik­te fried­lich zu lösen, kei­ne Hege­mo­nie anzu­stre­ben, sich gegen Mili­ta­ris­mus, Ras­sis­mus und Aus­beu­tung einzusetzen.

Aber heu­te schei­nen all die Leh­ren aus der Ent­mensch­li­chung im Krieg ver­ges­sen; nichts davon gilt als Ziel und Wert in der rea­len Poli­tik. Jeder halb­wegs sen­si­ble und nach­denk­li­che Mensch schaut mit Ent­set­zen auf die Nor­ma­li­sie­rung ent­grenz­ter Gewalt und die Ver­bre­chen gegen die Mensch­heit in der Welt. Angst und Sor­gen der Men­schen wach­sen. Denn die alten Mäch­te des Kolo­nia­lis­mus und Impe­ria­lis­mus schei­nen ent­schlos­sen, ihre Inter­es­sen mit Gewalt durchzusetzen.

Statt akti­ver Poli­tik der Kon­flikt­ver­mei­dung auf der Basis gegen­sei­ti­ger Sicher­heit ist gigan­ti­sche Auf­rü­stung das Leit­prin­zip auch der deut­schen Bun­des­re­gie­rung. Der neue deut­sche Mili­ta­ris­mus samt Füh­rungs­an­spruch in Euro­pa beschert der Rüstungs­in­du­strie obszö­ne Pro­fi­te. Die unbe­grenzt zur Ver­fü­gung gestell­ten Mil­li­ar­den für Waf­fen feh­len in der Ver­sor­gung der Men­schen. Inten­si­ve Pro­pa­gan­da, frei­wil­li­ge Gleich­schal­tung der Leit­me­di­en und das Züch­ten von Feind­bil­dern sol­len für Kriegs­tüch­tig­keit in der Gesell­schaft sor­gen und eine Kriegs­men­ta­li­tät erzeu­gen. Zum neu­en »Tag der Bun­des­wehr« zeigt die Tages­schau Kin­der am Bun­des­wehr-Schieß­stand und in Panzern.

Die UN-Char­ta wird von den USA ad absur­dum geführt. Ihr Anspruch auf die Welt­herr­schaft ver­höhnt alle inter­na­tio­na­len Regeln und Rech­te – macht aber Angriffs- und Regi­me­ch­an­ge-Krie­ge des Westens, ein­schließ­lich der Ost­erwei­te­rung der Nato, unab­ding­bar. Alle ande­ren haben sich der impe­ria­len Aus­beu­tung zu fügen. Wider­stand wird nie­der­ge­macht – das beka­men etli­che demo­kra­tisch gewähl­te Regie­run­gen in aller Welt zu spü­ren. Die glo­ba­len Wirt­schafts­krie­ge des Westens for­dern mehr Tote als sei­ne zahl­rei­chen Krie­ge mit Ver­nich­tungs­waf­fen. Die USA und die EU haben im Vor­feld der Krie­ge in der Ukrai­ne und in Gaza nicht im Sin­ne der UN-Char­ta zur Ver­hin­de­rung von Kon­flik­ten bei­getra­gen, son­dern sie syste­ma­tisch geför­dert. Ein­krei­sen, desta­bi­li­sie­ren, rui­nie­ren – nur unse­re Inter­es­sen zäh­len! Deutsch­land und die EU bekämp­fen bis heu­te Frie­dens­in­itia­ti­ven und Abrüstungsbemühungen.

Ent­set­zen hat ange­sichts Isra­els Gräu­el­ta­ten, der Men­schen­ver­ach­tung und der Lügen Men­schen auf der gan­zen Welt gepackt. Das rechts­extre­me, teils faschi­sti­sche Regime nimmt sich selbst­ver­ständ­lich das Recht, das gan­ze Land Palä­sti­na zu beset­zen, die Bewoh­ner zu ver­trei­ben, ande­re Län­der zu über­fal­len, die Bevöl­ke­rung aus­zu­hun­gern, Ärz­te und Jour­na­li­sten zu mor­den. Der Ver­nich­tungs­krieg in Gaza schockiert alle – bis auf die Poli­ti­ker in Deutsch­land und den USA, die allen­falls tak­tisch geheu­chelt huma­ni­tä­re Hil­fe an Hun­gern­de lei­sten, die dann mit deut­schen Waf­fen ermor­det wer­den. Deutsch­land hat über Jahr­zehn­te die völ­ker­rechts­wid­ri­ge Besat­zungs­po­li­tik, die Ver­trei­bung und die Ent­rech­tung der Palä­sti­nen­ser fak­tisch unter­stützt. Nie waren Apart­heid­po­li­tik, eth­ni­sche Säu­be­rung und das Ziel eines Groß-Isra­el Kri­te­ri­en, die Waf­fen­lie­fe­run­gen und die unver­brüch­li­che Unter­stüt­zung des Staa­tes Isra­el auch nur zu über­den­ken. Viel­mehr erle­digt nach Bun­des­kanz­ler Merz Isra­el mit sei­nen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angrif­fen auf ande­re Län­der die »Drecks­ar­beit« für uns: Da gleicht er sein Voka­bu­lar an das der israe­li­schen Faschi­sten Ben-Gvir und Smo­t­rich (bei­de Mini­ster) an.

Krie­ge und Aus­beu­tung las­sen Mil­lio­nen von Men­schen kei­ne Über­le­bens­chan­cen. Aber Deutsch­land bekämpft die Flücht­lin­ge, nicht die Flucht­ur­sa­chen. Innen­mi­ni­ster Dob­rindt will Abschie­be­la­ger – unter Miss­ach­tung von Men­schen- und Grund­rech­ten. 66.000 ertrun­ke­ne Flücht­lin­ge im Mit­tel­meer sind für die deut­sche Poli­tik kein The­ma. Weil es nur Afri­ka­ner und Asia­ten sind? Men­schen sind nicht gleich­wer­tig, Men­schen­rech­te ein Pri­vi­leg, das man sich ver­die­nen muss. Die Ergeb­nis­se des EU-Migra­ti­ons­gip­fels auf der Zug­spit­ze las­sen einen schau­dern: »Bru­ta­le Push­backs (…) haben nicht nur Gewöh­nungs­ef­fek­te erzeugt, es wird auch immer schwe­rer, gegen sol­che Men­schen­rechts­ver­stö­ße vor­zu­ge­hen. Geflüch­te­te wer­den dehu­ma­ni­siert und ihres Rechts auf Asyl­an­trags­stel­lung beraubt« (Judith Koh­len­ber­ger im Frei­tag). Die Fol­gen der »Gewöh­nung an men­schen­recht­li­che Ver­stö­ße, an Mili­ta­ri­sie­rung und Bru­ta­li­sie­rung der Außen­gren­zen und an het­ze­ri­sche, poli­ti­sche Dis­kur­se über Schutz­su­chen­de« bewir­ken eine Ver­ro­hung der All­tags­mo­ral und der staat­li­chen Institutionen.

Der Real­po­li­ti­ker Egon Bahr hat­te vor einer Schul­klas­se dar­an erin­nert, dass es in der inter­na­tio­na­len Poli­tik nie um Demo­kra­tie oder Men­schen­rech­te gehe, son­dern um die Inter­es­sen von Staa­ten. Lei­der ver­gaß er zu sagen, wes­sen Inter­es­sen der Staat vor­ran­gig bedient. Hun­der­te Mil­li­ar­den wer­den der­zeit aus dem Hut gezau­bert, um Men­schen mas­sen­wei­se mor­den zu kön­nen – Mil­li­ar­den, die für ein men­schen­wür­di­ges Leben im Land feh­len. Man kann Bücher fül­len mit all den Bei­spie­len von Unrecht, Aus­beu­tung und syste­ma­ti­schem Raub von Lebens­chan­cen, die unse­re Wirt­schafts­ord­nung samt ihrem ver­lo­ge­nen Nar­ra­tiv von Lei­stung, die sich loh­nen müs­se, bewirkt. Beglei­tet wer­den die aso­zia­len Maß­nah­men von einer Wel­le von Dem­ago­gie, Demü­ti­gung und Lügen: Steu­er­sen­kung zur Begün­sti­gung der Rei­chen, Het­ze gegen das fau­le Volk, das nicht län­ger arbei­ten will, gegen Sozi­al­schma­rot­zer (womit nicht die Steu­er­hin­ter­zie­her und -ver­mei­der gemeint sind). Bür­ger­geld­emp­fän­gern Dau­men­schrau­ben anle­gen, Totalsank­tio­nen ver­hän­gen! Hier herrscht Klassenkrieg.

Ist das mit dem sozia­len Rechts­staat, der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie ver­ein­bar? Laut Johan­nes Agno­li bekam Mus­so­li­ni zu Beginn sei­ner faschi­sti­schen Herr­schaft den Rat, das Par­la­ment bestehen zu las­sen: »Mas­sen, die demo­kra­ti­schen Gefüh­len zunei­gen, sei­en am besten durch ein Organ neu­tra­li­sier­bar, das ihnen die Illu­si­on einer Betei­li­gung an der staat­li­chen Macht ver­mit­telt. Nicht die gänz­li­che Abschaf­fung des Par­la­ments mache den Neu­en Staat stark, son­dern die Ver­le­gung der Ent­schei­dungs­be­fug­nis­se vom Par­la­ment in den enge­ren Kreis nicht öffent­lich tagen­der ›Eli­ten‹.« Klingt das nicht aktu­ell? Da die Demo­kra­tie auf For­ma­li­en redu­ziert wird, schwin­det das Ver­trau­en in Regie­rung und Par­tei­en – also muss das Volk über­wacht, kon­trol­liert, muss jede Dis­si­denz unter­drückt wer­den. Dank der digi­ta­len Platt­for­men gelingt das weit­aus effek­ti­ver als frü­her. Die Tech-Kon­zer­ne besit­zen nicht nur eine gigan­ti­sche Wirt­schafts­macht. Sie die­nen vor allem der Total­über­wa­chung. Apple, Meta/​Facebook, Alphabet/​Google, Ama­zon und Micro­soft: Nie­mand ent­kommt ihrer tota­li­tä­ren Macht.

Nach einem Bericht in dem Digi­tal­ma­ga­zin Glo­bal­bridge hat die israe­li­sche Regie­rung mit Bill Gates einen Ver­trag geschlos­sen. Auf­trag: Alle Tele­fon­ge­sprä­che der Ein­woh­ner in Gaza und dem West­jor­dan­land spei­chern. »Eine KI erkennt Stim­men, rekon­stru­iert Wege, erstellt Pro­fi­le und fällt anhand von Algo­rith­men regel­rech­te Todes­ur­tei­le. Der Gaza­strei­fen ver­wan­delt sich in ein Labor für digi­ta­le Bio­po­li­tik und zukünf­ti­ge Kriegs­füh­rung.« In Deutsch­land plant das Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­ri­um ein neu­es Über­wa­chungs­pa­ket, mit Gesichts­er­ken­nung und KI-basier­ter Zusam­men­füh­rung ver­schie­de­ner Daten­be­stän­de. Auch unser lieb­stes Spiel­zeug Smart­phone, dem wir alle unse­re Gedan­ken, Bedürf­nis­se und Geschäf­te anver­trau­en, dient Sicher­heits­be­hör­den, Clou­dan­bie­tern und Ana­ly­se­fir­men als Daten­quel­le zum Aus­beu­ten, Aus­for­schen und Beein­flus­sen: Der Mensch wird zum Objekt, sein Kon­troll­ver­lust ist Rea­li­tät. Can­celn, Grund- und Men­schen­rech­te ein­schrän­ken, »ver­fas­sungs­schutz­re­le­van­te Dele­gi­ti­ma­ti­on des Staa­tes« ver­fol­gen, alle Pro­te­ste gegen den Völ­ker­mord Isra­els gewalt­sam unter­drücken: Wie groß ist unse­re Bereit­schaft, Repres­si­on und tota­li­tä­re Ten­den­zen hinzunehmen?

Die Fol­ge: Auto­ri­tä­re Regie­run­gen, faschi­sti­sche Par­tei­en erstar­ken in den USA und in fast allen Län­dern der EU. Sie zu bekämp­fen bleibt Auf­ga­be anti­fa­schi­sti­scher Kräf­te. Die Gefahr in Deutsch­land geht aber nicht nur von der AfD aus. Die moder­ne Form des Faschis­mus kommt nicht mit Haken­kreu­zen und Heil-Hit­ler-Geschrei. Gewiss sind Merz, Kling­beil, Pisto­ri­us oder Dob­rindt kei­ne Faschi­sten. Aber die gegen­wär­ti­gen Schwer­punk­te der Poli­tik sind eines auto­ri­tä­ren Staa­tes »wür­dig« und för­dern eine Klas­sen­herr­schaft, die mit ihren aso­zia­len und men­schen­feind­li­chen Prak­ti­ken nicht nur die AfD, son­dern auch einen Faschis­mus aus der Mit­te der Gesell­schaft wach­sen lässt.

Wenn Sozi­al­dar­wi­nis­mus und Mili­ta­ris­mus fak­tisch Staats­rä­son wer­den, wenn Men­schen nicht als gleich­wer­tig, son­dern als Objekt von Mani­pu­la­ti­on und Ver­wer­tung behan­delt wer­den; wenn UN-Char­ta, Men­schen­rech­te und Völ­ker­recht nichts mehr gel­ten; wenn Kri­ti­ker als Staats­fein­de behan­delt wer­den und mas­si­ver repres­si­ver Gewalt aus­ge­setzt sind, wäh­rend sich die staats­treu­en Medi­en in frei­wil­li­ger Gleich­schal­tung üben, dann ist Gefahr im Ver­zug. Wir soll­ten uns nicht zum Objekt der Inter­es­sen von faschi­sto­iden Olig­ar­chen degra­die­ren las­sen. Und wir soll­ten mit unse­rer Gegen­wehr nicht bis zur Abschaf­fung der Demo­kra­tie und bis zum näch­sten Welt­krieg warten.