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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vergessene Linie

Wenn man in Zara­go­za in die Bahn nach Can­franc steigt, ahnt man nicht, dass man sich gleich auf eine der spek­ta­ku­lär­sten Bahn­strecken Euro­pas begibt. Der Regio­nal­zug fährt ab im Tun­nel­bahn­hof Goya. So unspek­ta­ku­lär wie eine U-Bahn irgend­wo im Ruhrgebiet.

Erst als mich der Auto­mat nach mei­ner Pass­num­mer und per­sön­li­chen Daten fragt, mer­ke ich: Das ist doch mehr als ein Pend­ler­zug. Für mich ein klei­nes Pro­blem, denn ein nicht-spa­ni­scher Pass scheint im Ticket­sy­stem gar nicht vor­ge­se­hen. Die Zeit läuft, ich haste zum Schal­ter neben­an, bekom­me im letz­ten Moment noch ein Ticket und sit­ze weni­ge Minu­ten spä­ter in einem ein­fa­chen Trieb­wa­gen, zwi­schen jun­gen Leu­ten mit Kopf­hö­rern und Uni-Rucksäcken.

Bahn­hof Hues­ca. Der Zug ändert die Rich­tung, und plötz­lich ver­än­dert sich die Sze­ne­rie. Die Land­schaft wird wei­ter, lee­rer, die Hori­zon­te trocke­ner. Kurz dar­auf zie­hen die Mal­los de Rig­los vor­bei – bis zu 275 Meter hohe Fels­tür­me, die wie röt­li­che Mais­kol­ben senk­recht aus dem Boden wach­sen. Dar­un­ter klebt das klei­ne Dorf Rig­los, ein paar Häu­ser, eine Kir­che, ein nicht mehr genutz­ter Bahnhof.

Das Land wirkt weit und ver­las­sen. Ich ver­ste­he, war­um Spa­ni­en in den 1960er-Jah­ren ein belieb­ter Dreh­ort für Hol­ly­wood-Pro­duk­tio­nen wur­de. Die ibe­ri­sche Wei­te hat die­se epi­schen Räu­me, in denen sich Sibi­ri­en eben­so insze­nie­ren lässt wie der Wil­de Westen. Spiel mir das Lied vom Tod, Dok­tor Schi­wa­go: Fil­me, in denen die Kulis­sen authen­tisch ame­ri­ka­nisch oder rus­sisch wir­ken, ent­stan­den in Wirk­lich­keit zu gro­ßen Tei­len in Spanien.

Ein älte­rer Mann neben mir tippt mir auf die Schul­ter: »Ist das hier Jaca?« – »Ich glau­be schon«, ant­wor­te ich. Offen­bar rech­net nie­mand damit, dass sich Aus­län­der in die­sen Zug ver­ir­ren. Schon ein biss­chen ver­rückt: Spa­ni­en ist das meist­be­such­te Urlaubs­land der Deut­schen. Und doch kommt kaum jemand in die­se Gegend im Hin­ter­land von Aragón.

Lang­sam schraubt sich der Zug in die Höhe. Tun­nel um Tun­nel, Schlei­fe um Schlei­fe. In einer engen Kur­ve über­blickt man das gan­ze Tal. Fast wie aus einem Modell­bau­ka­ta­log. Ein Mit­fah­rer gerät ins Schwär­men: »Das hier soll­te ein­mal das Herz­stück einer Magi­stra­le Paris – Madrid sein.«

Tat­säch­lich läuft hier bis heu­te die kilo­me­ter­mä­ßig kür­ze­ste Ver­bin­dung zwi­schen den bei­den Haupt­städ­ten. Doch ein Erfolg war die Strecke nie. Zu kur­ven­reich, zu abge­le­gen, abseits der gro­ßen Verkehrsströme.

»Die Bas­ken und die Kata­la­nen woll­ten lie­ber ihre eige­nen Küsten­strecken«, meint einer der Pas­sa­gie­re. »Unsinn«, kon­tert ein ande­rer, »ich bin Kata­la­ne, und ich habe nichts dage­gen, dass es hier eine Bahn­strecke gibt.«

Tat­säch­lich war Can­franc einst ein euro­päi­scher Traum. Der Grenz­bahn­hof – damals der zweit­größ­te Euro­pas nach Leip­zig – wur­de 1928 eröff­net, mit Nor­mal­spur aus Frank­reich und Breit­spur aus Spa­ni­en. Eine Ver­bin­dungs­stel­le zwi­schen zwei Län­dern, die ger­ne groß dach­ten. Doch bald schon kam der Spa­ni­sche Bür­ger­krieg, dann Fran­co, der Natio­nal­so­zia­lis­mus und schließ­lich jahr­zehn­te­lan­ge Iso­la­ti­on. Der Tun­nel nach Frank­reich wur­de 1970 geschlossen.

Als sich Spa­ni­en nach dem Tod von Fran­co wie­der Euro­pa öff­ne­te, geschah das per Flug­zeug und nicht per Bahn. Die Pau­schal­f­lie­ger nach Mal­lor­ca, Tene­rif­fa und Ibi­za gaben den Weg vor.

Heu­te endet der Zug in Can­franc – an einem Bahn­hof, der wie ein Monu­ment wirkt. 365 Fen­ster, 150 Türen, fast 250 Meter Län­ge. Frü­her der größ­te Grenz­bahn­hof der Welt, ein Pre­sti­ge­pro­jekt, das Spa­ni­en als Groß­macht insze­nie­ren soll­te. Spä­ter haf­te­te dem Ort etwas Geheim­nis­vol­les an: Geschich­ten über Nazi-Gold und auf­re­gen­de Fluch­ten in den 1940ern. Spä­ter dann die jahr­zehn­te­lan­ge Bahn­hofs­rui­ne. Tita­nic der Ber­ge, sag­te man.

2013 kauf­te die Regio­nal­re­gie­rung von Ara­gón die Rui­ne, sanier­te Dach und Hal­le, und die Hotel­grup­pe Bar­celó rich­te­te ein Fünf-Ster­ne-Haus ein: Roy­al Hidea­way Canfranc.

Ich bin fast ein biss­chen ent­täuscht, als der Zug in Can­franc ankommt. Die Fas­sa­de des alten Bahn­hofs wirkt ste­ril auf Hoch­glanz poliert. Der neue Bahn­steig liegt in einer umge­bau­ten Lager­hal­le, dazwi­schen vie­le Park­plät­ze. Fast wie einer der spa­ni­schen Provinzflughäfen.

Doch in die­sem moder­nen Ter­mi­nal steckt auch Hoff­nung: Auf der Strecke wur­de Spa­ni­ens erster Was­ser­stoff­zug gete­stet. Ent­wickelt im EU-Pro­jekt FCH2Rail, fährt er mit einer Kom­bi­na­ti­on aus Ober­lei­tung, Bat­te­rie und Was­ser­stoff­zel­len. Eine nach­hal­ti­ge Alter­na­ti­ve zum Die­sel und ein Sym­bol für Spa­ni­ens Zukunft. Das Deut­sche Zen­trum für Luft- und Raum­fahrt ist einer der wich­tig­sten Partner.

»Wenn die Strecke kom­plett elek­tri­fi­ziert und auf Nor­mal­spur umge­stellt wird, könn­te es doch noch was wer­den mit Paris – Madrid über die Ber­ge«, sagt der Mann aus dem Zug. Er rech­net akri­bisch: Am Vor­tag war er von Sevil­la nach Zara­go­za gefah­ren – gut 850 Kilo­me­ter in rund vier Stun­den. Jetzt hat er für die letz­ten 160 Kilo­me­ter nach Can­franc fast eben­so lan­ge gebraucht. »Das ist sehr roman­tisch«, sagt er. »Aber nichts für die Zukunft. Jeder nor­ma­le Mensch nimmt hier den Bus. Der ist fast dop­pelt so schnell.«

Ich sehe es etwas anders. Denn als Rei­sen­der fin­de ich: Gera­de die Lang­sam­keit gibt mir eine Per­spek­ti­ve auf Spa­ni­en, die ich sonst nicht gehabt hätte.

Und ja, irgend­wie wirkt es hier wie eine Sack­gas­se. Die Pyre­nä­en sind nicht nur eine geo­gra­phi­sche Bar­rie­re. Es ist erstaun­lich, wie unter­schied­lich Nord­spa­ni­en und Süd­frank­reich sind – land­schaft­lich, kul­tu­rell, wirtschaftlich.

Noch immer fehlt die durch­ge­hen­de Ver­bin­dung. Seit Herbst 2024 läuft in Frank­reich zwar eine öffent­li­che Kon­sul­ta­ti­on zur Reak­ti­vie­rung der Linie Pau – Can­franc. Vor­ge­se­hen sind bis zu 13 Regio­nal­zü­ge am Tag und sogar zwei Fern­zü­ge Pau – Zara­go­za. Doch ob Paris den ent­schei­den­den Abschnitt Bedous – Gren­ze tat­säch­lich finan­ziert, ist wei­ter offen.

»Da fährt der Bus nach Frank­reich«, sagt mein Beglei­ter zum Abschied. »Direkt durch den Stra­ßen­tun­nel.« Doch ich win­ke ab. Ich bin mit dem Fahr­rad unter­wegs, nut­ze die alte Pass­stra­ße über den Som­port, fah­re nach Lour­des, neh­me dort den Nacht­zug nach Paris und von dort den Zug zurück nach Deutsch­land. Es bleibt die Erkennt­nis: Wür­de Can­franc wie­der ein ech­ter inter­na­tio­na­ler Bahn­hof, dann wäre das ein Sym­bol. Und gleich­zei­tig ein ech­ter neu­er Weg nach Spanien.

Ich erin­ne­re mich an eine Eisen­bahn­re­kla­me, die vor ein paar Jah­ren im spa­ni­schen Fern­se­hen lief. Ein Hei­zer und ein Dampf­lok­füh­rer schuf­ten auf einer Lok. »Ricar­do, seit Gene­ra­tio­nen sind wir Hei­zer und Lok­füh­rer«, sagt einer. »Aber was wir machen, das hat kei­ne Zukunft. Mein Sohn will Pilot wer­den.« Schnitt: Jahr­zehn­te spä­ter rauscht ein Hoch­ge­schwin­dig­keits­zug vor­bei, und der­sel­be Mann ruft: »Ricar­do, du glaubst es nicht: Mein Enkel will Lok­füh­rer werden.«