Wenn man in Zaragoza in die Bahn nach Canfranc steigt, ahnt man nicht, dass man sich gleich auf eine der spektakulärsten Bahnstrecken Europas begibt. Der Regionalzug fährt ab im Tunnelbahnhof Goya. So unspektakulär wie eine U-Bahn irgendwo im Ruhrgebiet.
Erst als mich der Automat nach meiner Passnummer und persönlichen Daten fragt, merke ich: Das ist doch mehr als ein Pendlerzug. Für mich ein kleines Problem, denn ein nicht-spanischer Pass scheint im Ticketsystem gar nicht vorgesehen. Die Zeit läuft, ich haste zum Schalter nebenan, bekomme im letzten Moment noch ein Ticket und sitze wenige Minuten später in einem einfachen Triebwagen, zwischen jungen Leuten mit Kopfhörern und Uni-Rucksäcken.
Bahnhof Huesca. Der Zug ändert die Richtung, und plötzlich verändert sich die Szenerie. Die Landschaft wird weiter, leerer, die Horizonte trockener. Kurz darauf ziehen die Mallos de Riglos vorbei – bis zu 275 Meter hohe Felstürme, die wie rötliche Maiskolben senkrecht aus dem Boden wachsen. Darunter klebt das kleine Dorf Riglos, ein paar Häuser, eine Kirche, ein nicht mehr genutzter Bahnhof.
Das Land wirkt weit und verlassen. Ich verstehe, warum Spanien in den 1960er-Jahren ein beliebter Drehort für Hollywood-Produktionen wurde. Die iberische Weite hat diese epischen Räume, in denen sich Sibirien ebenso inszenieren lässt wie der Wilde Westen. Spiel mir das Lied vom Tod, Doktor Schiwago: Filme, in denen die Kulissen authentisch amerikanisch oder russisch wirken, entstanden in Wirklichkeit zu großen Teilen in Spanien.
Ein älterer Mann neben mir tippt mir auf die Schulter: »Ist das hier Jaca?« – »Ich glaube schon«, antworte ich. Offenbar rechnet niemand damit, dass sich Ausländer in diesen Zug verirren. Schon ein bisschen verrückt: Spanien ist das meistbesuchte Urlaubsland der Deutschen. Und doch kommt kaum jemand in diese Gegend im Hinterland von Aragón.
Langsam schraubt sich der Zug in die Höhe. Tunnel um Tunnel, Schleife um Schleife. In einer engen Kurve überblickt man das ganze Tal. Fast wie aus einem Modellbaukatalog. Ein Mitfahrer gerät ins Schwärmen: »Das hier sollte einmal das Herzstück einer Magistrale Paris – Madrid sein.«
Tatsächlich läuft hier bis heute die kilometermäßig kürzeste Verbindung zwischen den beiden Hauptstädten. Doch ein Erfolg war die Strecke nie. Zu kurvenreich, zu abgelegen, abseits der großen Verkehrsströme.
»Die Basken und die Katalanen wollten lieber ihre eigenen Küstenstrecken«, meint einer der Passagiere. »Unsinn«, kontert ein anderer, »ich bin Katalane, und ich habe nichts dagegen, dass es hier eine Bahnstrecke gibt.«
Tatsächlich war Canfranc einst ein europäischer Traum. Der Grenzbahnhof – damals der zweitgrößte Europas nach Leipzig – wurde 1928 eröffnet, mit Normalspur aus Frankreich und Breitspur aus Spanien. Eine Verbindungsstelle zwischen zwei Ländern, die gerne groß dachten. Doch bald schon kam der Spanische Bürgerkrieg, dann Franco, der Nationalsozialismus und schließlich jahrzehntelange Isolation. Der Tunnel nach Frankreich wurde 1970 geschlossen.
Als sich Spanien nach dem Tod von Franco wieder Europa öffnete, geschah das per Flugzeug und nicht per Bahn. Die Pauschalflieger nach Mallorca, Teneriffa und Ibiza gaben den Weg vor.
Heute endet der Zug in Canfranc – an einem Bahnhof, der wie ein Monument wirkt. 365 Fenster, 150 Türen, fast 250 Meter Länge. Früher der größte Grenzbahnhof der Welt, ein Prestigeprojekt, das Spanien als Großmacht inszenieren sollte. Später haftete dem Ort etwas Geheimnisvolles an: Geschichten über Nazi-Gold und aufregende Fluchten in den 1940ern. Später dann die jahrzehntelange Bahnhofsruine. Titanic der Berge, sagte man.
2013 kaufte die Regionalregierung von Aragón die Ruine, sanierte Dach und Halle, und die Hotelgruppe Barceló richtete ein Fünf-Sterne-Haus ein: Royal Hideaway Canfranc.
Ich bin fast ein bisschen enttäuscht, als der Zug in Canfranc ankommt. Die Fassade des alten Bahnhofs wirkt steril auf Hochglanz poliert. Der neue Bahnsteig liegt in einer umgebauten Lagerhalle, dazwischen viele Parkplätze. Fast wie einer der spanischen Provinzflughäfen.
Doch in diesem modernen Terminal steckt auch Hoffnung: Auf der Strecke wurde Spaniens erster Wasserstoffzug getestet. Entwickelt im EU-Projekt FCH2Rail, fährt er mit einer Kombination aus Oberleitung, Batterie und Wasserstoffzellen. Eine nachhaltige Alternative zum Diesel und ein Symbol für Spaniens Zukunft. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt ist einer der wichtigsten Partner.
»Wenn die Strecke komplett elektrifiziert und auf Normalspur umgestellt wird, könnte es doch noch was werden mit Paris – Madrid über die Berge«, sagt der Mann aus dem Zug. Er rechnet akribisch: Am Vortag war er von Sevilla nach Zaragoza gefahren – gut 850 Kilometer in rund vier Stunden. Jetzt hat er für die letzten 160 Kilometer nach Canfranc fast ebenso lange gebraucht. »Das ist sehr romantisch«, sagt er. »Aber nichts für die Zukunft. Jeder normale Mensch nimmt hier den Bus. Der ist fast doppelt so schnell.«
Ich sehe es etwas anders. Denn als Reisender finde ich: Gerade die Langsamkeit gibt mir eine Perspektive auf Spanien, die ich sonst nicht gehabt hätte.
Und ja, irgendwie wirkt es hier wie eine Sackgasse. Die Pyrenäen sind nicht nur eine geographische Barriere. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich Nordspanien und Südfrankreich sind – landschaftlich, kulturell, wirtschaftlich.
Noch immer fehlt die durchgehende Verbindung. Seit Herbst 2024 läuft in Frankreich zwar eine öffentliche Konsultation zur Reaktivierung der Linie Pau – Canfranc. Vorgesehen sind bis zu 13 Regionalzüge am Tag und sogar zwei Fernzüge Pau – Zaragoza. Doch ob Paris den entscheidenden Abschnitt Bedous – Grenze tatsächlich finanziert, ist weiter offen.
»Da fährt der Bus nach Frankreich«, sagt mein Begleiter zum Abschied. »Direkt durch den Straßentunnel.« Doch ich winke ab. Ich bin mit dem Fahrrad unterwegs, nutze die alte Passstraße über den Somport, fahre nach Lourdes, nehme dort den Nachtzug nach Paris und von dort den Zug zurück nach Deutschland. Es bleibt die Erkenntnis: Würde Canfranc wieder ein echter internationaler Bahnhof, dann wäre das ein Symbol. Und gleichzeitig ein echter neuer Weg nach Spanien.
Ich erinnere mich an eine Eisenbahnreklame, die vor ein paar Jahren im spanischen Fernsehen lief. Ein Heizer und ein Dampflokführer schuften auf einer Lok. »Ricardo, seit Generationen sind wir Heizer und Lokführer«, sagt einer. »Aber was wir machen, das hat keine Zukunft. Mein Sohn will Pilot werden.« Schnitt: Jahrzehnte später rauscht ein Hochgeschwindigkeitszug vorbei, und derselbe Mann ruft: »Ricardo, du glaubst es nicht: Mein Enkel will Lokführer werden.«