»In der Nacht war sie einsam gestorben. / Einen nächtlichen Anruf hatte ich überhört.« So endet das letzte Gedicht in Thomas Böhmes kleinem, aber auch durch die Grafiken Steffen Büchners ungemein intensiv gestalteten und wirkenden Gedichtband »Orpheussplitter«. Geradezu kennzeichnend sind diese dem Gedicht »Abbitte (für meine Mutter)« entnommenen Verse für das Wiederkommen scheinbar Verschwundener. Der überhörte Anruf wird zum Symbol für die mitunter drängenden Meldungen all derer, die unseren Gesichtskreis verlassen haben und uns nun täglich »anrufen«, bei Tag und in der Nacht. Für Thomas Böhme sind das auch der »ermüdete Demiurg« in der Kreidezeit, Stimmen aus dem langsam dahinsterbenden Rom, Alexander der Große. Oder Kaiser Hadrian. Dieses Gedicht, das die Geschichte des äußerlich vielleicht erfolgreichen Herrschers wiederzugeben scheint, ist überaus geschickt gestaltet und zeigt die hohe Kunst Thomas Böhmes. Denn: Je öfter man es liest, desto mehr erscheint es einem wie ein Anruf bei der Telefonseelsorge: »Seit ich ein Gott bin / flieht mich der Schlaf.« Die Liebe lässt ihn die christliche Lehre von der ewigen Verdammnis begreifen, er sieht ein, dass er kaum Getreue hat, aber für die Zahl der Missgünstigen und Schmeichler die Zahl seiner Barthaare nicht als Vergleichswert taugt.
Auf ganz besondere und subtile Art sind die Gedichte angeordnet: Die scheinbar zurückblickenden finden eine Art Abschluss mit dem wuchtigen Text »Orpheus-Splitter«, sozusagen in der Mitte des Buches. Er zeigt den mythischen Sänger als »Orpheus im Wandel«, tauglich für verschiedenste Auftritts- und Verwendungsmöglichkeiten, »auch tauglich als Paperback im Tornister«. Klar, wer gemeint ist. Rilke lässt Thomas Böhme nicht los. Oder ist es umgekehrt? Jedenfalls gibt es eine enge Beziehung, wie auch das Gedicht »Mutwille in Paris« zeigt, bis hin zur Anspielung auf die Pferde eines Karussells.
Die Wandlung des Orpheus bringt auch eine Umkehrung des Verhaltens des antiken Personals. Hat der Leser sie in ihrer Zeit besucht, so sind sie nun auf einmal mitten in unserem Leben, der Kriegsgott Mars glotzt plötzlich »mit blutunterlaufenen Augen« zum Fenster herein. Es ist, als sei er ein Herold, der das meines Erachtens stärkste und wirkungsvollste Gedicht des Bandes ankündigt: »Zwischen den Kriegen«. Mit Schilderungen unseres banalen Alltags, der aber unser Leben ist, der es ausmacht und der uns Erfüllung empfinden lässt, und der mehrfachen Wiederholung der Titelzeile macht der Dichter nachdrücklich klar, dass wir nur das Glück einer Zwischenzeit genießen, dass der Grundantrieb unserer Welt wirklich der Krieg ist. Glücklicherweise gebietet der Dichter über eine Ironie, die zwar grimmig daherkommt, aber es dem Leser ermöglicht, sich in ein Trotzdem zu retten: »Die Mauern haben alle Wärmedämmung / auf denen grelle Schriften paradieren«. Oder er darf Amoretten zusehen, die «rammdösig« geworden sind oder einem »Mirakel vor Aldi« beiwohnen, das Merkur, der Gott der Diebe, höchstselbst angezettelt hat. Zwar sagt das Sprichwort, dass Übermut nur selten guttue, hier aber hat er eine heilsame Wirkung. Wie auch das Wiederkommen des längst Verschwundenen und der lange Vergessenen in den Gedichten Thomas Böhmes, der auf seine und damit unnachahmliche Weise die Antike in unsere Welt holt. Man liest »Antikes« und verspürt nur: Gegenwart. Dies zu ermöglicht zu haben, dafür gebührt einem kleinen Verlag großes Lob.
Thomas Böhme: Orpheussplitter. Gedichte. Mit Grafiken von Steffen Büchner, Verlag der 9 Reiche, Berlin, 2024, 9 €.