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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Verschwinden und Wiederkommen

»In der Nacht war sie ein­sam gestor­ben. /​ Einen nächt­li­chen Anruf hat­te ich über­hört.« So endet das letz­te Gedicht in Tho­mas Böh­mes klei­nem, aber auch durch die Gra­fi­ken Stef­fen Büch­ners unge­mein inten­siv gestal­te­ten und wir­ken­den Gedicht­band »Orpheus­split­ter«. Gera­de­zu kenn­zeich­nend sind die­se dem Gedicht »Abbit­te (für mei­ne Mut­ter)« ent­nom­me­nen Ver­se für das Wie­der­kom­men schein­bar Ver­schwun­de­ner. Der über­hör­te Anruf wird zum Sym­bol für die mit­un­ter drän­gen­den Mel­dun­gen all derer, die unse­ren Gesichts­kreis ver­las­sen haben und uns nun täg­lich »anru­fen«, bei Tag und in der Nacht. Für Tho­mas Böh­me sind das auch der »ermü­de­te Demi­urg« in der Krei­de­zeit, Stim­men aus dem lang­sam dahin­ster­ben­den Rom, Alex­an­der der Gro­ße. Oder Kai­ser Hadri­an. Die­ses Gedicht, das die Geschich­te des äußer­lich viel­leicht erfolg­rei­chen Herr­schers wie­der­zu­ge­ben scheint, ist über­aus geschickt gestal­tet und zeigt die hohe Kunst Tho­mas Böh­mes. Denn: Je öfter man es liest, desto mehr erscheint es einem wie ein Anruf bei der Tele­fon­seel­sor­ge: »Seit ich ein Gott bin /​ flieht mich der Schlaf.« Die Lie­be lässt ihn die christ­li­che Leh­re von der ewi­gen Ver­damm­nis begrei­fen, er sieht ein, dass er kaum Getreue hat, aber für die Zahl der Miss­gün­sti­gen und Schmeich­ler die Zahl sei­ner Bart­haa­re nicht als Ver­gleichs­wert taugt.

Auf ganz beson­de­re und sub­ti­le Art sind die Gedich­te ange­ord­net: Die schein­bar zurück­blicken­den fin­den eine Art Abschluss mit dem wuch­ti­gen Text »Orpheus-Split­ter«, sozu­sa­gen in der Mit­te des Buches. Er zeigt den mythi­schen Sän­ger als »Orpheus im Wan­del«, taug­lich für ver­schie­den­ste Auf­tritts- und Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten, »auch taug­lich als Paper­back im Tor­ni­ster«. Klar, wer gemeint ist. Ril­ke lässt Tho­mas Böh­me nicht los. Oder ist es umge­kehrt? Jeden­falls gibt es eine enge Bezie­hung, wie auch das Gedicht »Mut­wil­le in Paris« zeigt, bis hin zur Anspie­lung auf die Pfer­de eines Karussells.

Die Wand­lung des Orpheus bringt auch eine Umkeh­rung des Ver­hal­tens des anti­ken Per­so­nals. Hat der Leser sie in ihrer Zeit besucht, so sind sie nun auf ein­mal mit­ten in unse­rem Leben, der Kriegs­gott Mars glotzt plötz­lich »mit blut­un­ter­lau­fe­nen Augen« zum Fen­ster her­ein. Es ist, als sei er ein Herold, der das mei­nes Erach­tens stärk­ste und wir­kungs­voll­ste Gedicht des Ban­des ankün­digt: »Zwi­schen den Krie­gen«. Mit Schil­de­run­gen unse­res bana­len All­tags, der aber unser Leben ist, der es aus­macht und der uns Erfül­lung emp­fin­den lässt, und der mehr­fa­chen Wie­der­ho­lung der Titel­zei­le macht der Dich­ter nach­drück­lich klar, dass wir nur das Glück einer Zwi­schen­zeit genie­ßen, dass der Grund­an­trieb unse­rer Welt wirk­lich der Krieg ist. Glück­li­cher­wei­se gebie­tet der Dich­ter über eine Iro­nie, die zwar grim­mig daher­kommt, aber es dem Leser ermög­licht, sich in ein Trotz­dem zu ret­ten: »Die Mau­ern haben alle Wär­me­däm­mung /​ auf denen grel­le Schrif­ten para­die­ren«. Oder er darf Amo­ret­ten zuse­hen, die «ramm­dö­sig« gewor­den sind oder einem »Mira­kel vor Aldi« bei­woh­nen, das Mer­kur, der Gott der Die­be, höchst­selbst ange­zet­telt hat. Zwar sagt das Sprich­wort, dass Über­mut nur sel­ten gut­tue, hier aber hat er eine heil­sa­me Wir­kung. Wie auch das Wie­der­kom­men des längst Ver­schwun­de­nen und der lan­ge Ver­ges­se­nen in den Gedich­ten Tho­mas Böh­mes, der auf sei­ne und damit unnach­ahm­li­che Wei­se die Anti­ke in unse­re Welt holt. Man liest »Anti­kes« und ver­spürt nur: Gegen­wart. Dies zu ermög­licht zu haben, dafür gebührt einem klei­nen Ver­lag gro­ßes Lob.

Tho­mas Böh­me: Orpheus­split­ter. Gedich­te. Mit Gra­fi­ken von Stef­fen Büch­ner, Ver­lag der 9 Rei­che, Ber­lin, 2024, 9 €.