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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Völkermord in Gaza

Fast zwei Jah­re schon währt die Zer­stö­rung der Lebens­be­din­gun­gen und des Lebens selbst durch Isra­els Mili­tär (IDF) im Gaza-Strei­fen – unter­stützt durch die USA und Euro­pa, mit weit­ge­hen­der Dul­dung durch die Öffent­lich­keit. In jenem schma­len Küsten­land leb­ten etwa 2,2 Mio. Men­schen (fast zur Hälf­te min­der­jäh­rig) seit 2007 hin­ter hohen Mau­ern und Sta­chel­draht in einer Art Frei­luft­ge­fäng­nis. Die seit­dem schon mehr­fach auf Gaza gewor­fe­nen Bom­ben des IDF töte­ten bereits Tau­sen­de Zivi­li­sten, hin­ter­lie­ßen Ver­letz­te und Ver­schlepp­te, sowie zer­stör­te Häuser.

Die Begrün­dung für die jüng­ste mili­tä­ri­sche Eska­la­ti­on sei­tens Isra­els lau­tet, die Zer­stö­rung Gazas sei eine not­wen­di­ge Kon­se­quenz des alle über­ra­schen­den Ter­ror-Angriffs der Hamas vom 7. Okto­ber 2023 auf israe­li­sches Ter­ri­to­ri­um und zie­le vor allem auf die Eli­mi­nie­rung die­ser Ter­ror-Orga­ni­sa­ti­on, die nicht als 2006 gewähl­te Regie­rung aner­kannt wird. Die israe­li­sche Ver­gel­tungs-Ope­ra­ti­on »Eiser­ne Schwer­ter« folg­te umge­hend am näch­sten Tag, dem 8. Okto­ber, und droht – nach offi­zi­ell bis­her mehr als 200.000 toten Zivi­li­sten und Ver­letz­ten – dem­nächst mit der Ent­völ­ke­rung des Gaza-Strei­fens zu enden.

Im offi­zi­el­len Deutsch­land wur­de und wird das israe­li­sche Nar­ra­tiv mit sei­nen Sprach­re­ge­lun­gen bis­her weit­ge­hend unkri­tisch über­nom­men, ande­re Sicht­wei­sen, Zwei­fel oder Pro­te­ste dage­gen sind viel­fach ver­bo­ten und sank­tio­niert. Schon die Fra­ge, ob es zum Angriff vom 7. Okto­ber eine Vor­ge­schich­te gibt oder ob die Palä­sti­nen­ser kein Recht haben, sich gegen jahr­zehn­te­lan­ge Unter­drückung und Besat­zung zur Wehr zu set­zen, wird aus­ge­blen­det und schlicht des Anti­se­mi­tis­mus‘ ver­däch­tigt. Die Ein­schät­zung der aktu­el­len Ver­bre­chen von Ver­trei­bung und Aus­hun­gern als Völ­ker­mord – ent­spre­chend den Erkennt­nis­sen der Unter­su­chungs­kom­mis­sio­nen der Ver­ein­ten Natio­nen, von Amne­sty Inter­na­tio­nal und ande­ren Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen – wer­den von den Main­stream-Medi­en nicht zur Kennt­nis genommen.

Licht in all die­ses Dun­kel brin­gen zwei reich doku­men­tier­te und zu einem Band ver­ein­te Stu­di­en, im letz­ten März in Wien vor­ge­legt von der in Ost­je­ru­sa­lem leben­den Histo­ri­ke­rin Hel­ga Baum­gar­ten und dem mit Isra­el seit vie­len Jahr­zehn­ten ver­trau­ten Ver­fas­sungs­recht­ler Nor­man Paech unter dem Titel: »Völ­ker­mord in Gaza. Eine poli­ti­sche und recht­li­che Ana­ly­se«. Sie beleuch­ten erst­mals im deut­schen Sprach­raum die israe­li­schen Ver­bre­chen gegen die Palä­sti­nen­ser in Gaza und bie­ten grund­le­gen­de Infor­ma­tio­nen zum bes­se­ren Ver­ständ­nis der kata­stro­pha­len Lage.

Der 130 Sei­ten lan­ge Rück­blick von Hel­ga Baum­gar­ten auf die über hun­dert­jäh­ri­ge Vor­ge­schich­te des andau­ern­den Kon­flik­tes – vom Base­ler Grün­dungs­kon­gress der Zio­ni­sti­schen Bewe­gung (1897) über den frü­hen anti­zio­ni­sti­schen Wider­stand einer nach dem ersten Welt­krieg ent­stan­de­nen palä­sti­nen­si­schen Natio­nal­be­we­gung (1917) bis zur Nak­ba (1947/​8), jener Kata­stro­phe der Ver­trei­bung von mehr als 750.000 Palä­sti­nen­sern aus ihren ange­stamm­ten Gebie­ten, bis heu­te – zen­triert sich auf die Ent­ste­hung jenes spe­zi­fi­schen Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus, der sich in Isra­el durch Jahr­zehn­te ent­wickel­te und bis heu­te dominiert.

Aus­gangs­punkt ist ein von Beginn an auf Exklu­si­on aus­ge­leg­ter Zio­nis­mus, der sich durch­ge­setzt hat – gegen frü­he sozia­li­sti­sche Vor­stel­lun­gen und die der soge­nann­ten Kul­tur-Zio­ni­sten für ein frucht­brin­gen­des Zusam­men­le­ben mit der ara­bi­schen Bevöl­ke­rung. Theo­dor Herzl im »Juden­staat« (1896): »Wenn ich an die Stel­le eines alten Bau­mes einen neu­en set­zen will, muss ich zuerst demo­li­ren und dann con­strui­ren.« Die­ser Satz steht neben ande­ren deut­li­chen Aus­sa­gen über eine not­wen­di­ge Ver­trei­bung der Ara­ber aus dem dama­li­gen bri­ti­schen Man­dats­ge­biet, jenem ver­meint­li­chen »Land ohne Volk«.

Der spe­zi­fi­sche Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus zielt nicht auf Unter­wer­fung der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung, son­dern auf deren Ver­trei­bung, die Zer­stö­rung von deren gesam­ten Lebens­grund­la­gen und den Bau neu­er Sied­lun­gen unter israe­li­scher Sou­ve­rä­ni­tät. Dazu zitiert Baum­gar­ten aus­führ­lich seit län­ge­rem vor­lie­gen­de Stu­di­en israe­li­scher und palä­sti­nen­si­scher Histo­ri­ker. Die Unter­su­chun­gen von Fayez Sayegh (1965) bis zu Patrick Wol­fe (2006) ermög­li­chen auch nöti­ge Unter­schei­dun­gen zwi­schen den heu­te umstrit­te­nen Tat­be­stän­den von Apart­heid, Mas­sen­mord und Völ­ker­mord. Tariq Dana’s (2024) jüng­ste Defi­ni­ti­on des Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus nach dem Zwei­ten Welt­krieg als eine »kom­ple­xe Anpas­sung an das Zeit­al­ter der Deko­lo­ni­sa­ti­on im Glo­ba­len Süden« unter­streicht die beson­de­re »Kom­bi­na­ti­on ahi­sto­ri­scher Nar­ra­ti­ve, reli­giö­ser Mani­pu­la­tio­nen, impe­ria­li­sti­scher Inter­es­sen«. Die­se Kom­bi­na­ti­on scheint mir – gera­de auch für die deut­sche Sicht auf Isra­el – beson­ders auf­schluss­reich zu sein, bei der »histo­ri­sche Nar­ra­ti­ve des Über­le­bens und der Rück­kehr so mani­pu­liert (wer­den), dass auf ihrer Basis aktu­el­le Kolo­ni­sa­ti­on und Eli­mi­nie­rung gerecht­fer­tigt wer­den können«.

Die zio­ni­sti­sche Bewe­gung ent­stammt dem euro­päi­schen Natio­na­lis­mus und woll­te einen jüdi­schen Staat für euro­päi­sche Juden schaf­fen, »im Mitt­le­ren Osten, nicht als Teil des Mitt­le­ren Ostens«, in dem auch die aus ara­bi­schen Län­dern ein­ge­wan­der­ten Juden sich eher fremd fühl­ten, wie Avi Shla­im (2023) bezeugt: Die Israe­lis haben »unse­re gemein­sa­me Ver­gan­gen­heit, unse­re eng ver­floch­te­nen Geschich­ten und unser jahr­hun­der­te­al­tes Erbe von Plu­ra­lis­mus, reli­giö­ser Tole­ranz, Welt­bür­ger­tum und Ko-Exi­stenz aus­ge­löscht«, also jene lan­ge gemein­sa­me Geschich­te von Juden, Chri­sten und Mus­li­men. Zwar wur­den die in Isra­el ver­blie­be­nen Palä­sti­nen­ser 1948 neue Staats­bür­ger, konn­ten aber nie in ihre Hei­mat­dör­fer oder Städ­te zurück­keh­ren und blie­ben diskriminiert.

Die letz­ten fünf­zig Sei­ten ihrer Stu­die wid­met Baum­gar­ten den israe­li­schen Reak­tio­nen auf den 7. Okto­ber im Ein­zel­nen: »Scho­la­sti­zid«, die Aus­schal­tung der Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten, »Medi­zid«, die bru­ta­le Zer­stö­rung des Gesund­heits­sek­tors mit Tötung des medi­zi­ni­schen Per­so­nals, den Aus­schluss aus­län­di­scher Jour­na­li­sten und die geziel­te Tötung meh­re­rer Hun­dert palä­sti­nen­si­scher Bericht­erstat­ter bis hin zu jenem »kul­tu­rel­len Völ­ker­mord«, der bis heu­te im inter­na­tio­na­len Recht nicht kodi­fi­ziert ist. Der Begriff ver­weist auch auf Zehn­tau­sen­de Tote, die aus Gaza den der­zeit »größ­ten Kin­der­fried­hof der Welt« machen. Vom »Krieg gegen unser Nar­ra­tiv, gegen unse­re Geschich­te und Zivi­li­sa­ti­on« spricht Atef Abu Seif, Schrift­stel­ler und ein­sti­ger Kul­tus­mi­ni­ster in Ramallah.

Der schwie­ri­gen und wider­sprüch­li­chen Ent­ste­hung des inter­na­tio­na­len Völ­ker­rechts und sei­ner Insti­tu­tio­nen im 20. Jahr­hun­dert wid­met Nor­man Paech den ersten Teil sei­nes detail­rei­chen 100 Sei­ten-Über­blicks, bevor er auf die lau­fen­den vier Ver­fah­ren vor den Inter­na­tio­na­len Gerichts­hö­fen in Den Haag gegen Isra­el ein­geht. Sei­ne Eru­ie­rung vor allem der inter­na­tio­na­len juri­sti­schen Grund­la­gen, auf denen offen­sicht­li­che Ver­bre­chen unter­sucht und als sol­che sank­tio­niert wer­den kön­nen – oder auch nicht –, ist ernüch­ternd, denn es geht dabei vor allem um das pro­ble­ma­ti­sche und zumeist ver­nach­läs­sig­te Ver­hält­nis von Recht und Poli­tik, denn: »Recht ist Poli­tik und Poli­tik macht Recht.« Paech stellt fest, dass das Völ­ker­recht schon seit dem 11. Sep­tem­ber 2001 weit­ge­hend als tot gilt und noch kei­nen wirk­sa­men Ersatz gefun­den hat. Der Glau­be an die Wirk­sam­keit der UN-Char­ta ist im Süden weit­ge­hend ver­lo­ren, ins­be­son­de­re durch die seit­dem erfolg­te Reko­lo­ni­sie­rung des Mitt­le­ren Ostens nach den Wirt­schafts­in­ter­es­sen der USA und ihrer euro­päi­schen Ver­bün­de­ten. In die­ses Pro­jekt »Grea­ter Midd­le East« fügt sich Isra­els Poli­tik bruch­los ein.

Aus­ge­hend von der Vor­ge­schich­te des 7. Okto­ber skiz­ziert auch Paech das zio­ni­sti­sche Pro­jekt als von Anfang an als mit Gewalt und Unter­drückung ver­bun­den. Er unter­zieht dann bei­de Sei­ten, den Angriff der Hamas und die Reak­ti­on Isra­els einer umfas­sen­den Ana­ly­se im Hin­blick auf Moti­va­ti­on und Ange­mes­sen­heit der Mit­tel. Und stellt die Fra­ge nach mög­li­chen Alter­na­ti­ven zum bewaff­ne­ten Wider­stand gegen ein sied­ler­ko­lo­nia­li­sti­sches Regime und damit auch danach, ob die­ser Wider­stand nun defi­ni­tiv geschei­tert ist. Denn Isra­el hat im Tan­dem mit den USA und Unter­stüt­zung aus Euro­pa die vol­le Kon­trol­le über palä­sti­nen­si­sches Land erreicht, von Gaza über die West­Bank nach Ost-Jeru­sa­lem – und auch die »Ach­se des Wider­stands« von der His­bol­lah im Liba­non über Syri­en bis in den Iran ist mas­siv geschwächt. Nur eine anti­zio­ni­sti­sche De-Kolo­nia­li­sie­rung könn­te die Grund­la­ge für einen schon oft rekla­mier­ten bina­tio­na­len, demo­kra­ti­schen Staat bil­den, von dem man heu­te weit ent­fernt ist.

Und die inter­na­tio­na­le Poli­tik? Seit Okto­ber 2023 steht Deutsch­land immer mehr in einer Außen­sei­ter­po­si­ti­on; und die hie­si­gen Leit­me­di­en erwie­sen sich als deren lan­ger Arm – aus­ge­präg­ter als in ande­ren Län­dern. Denn seit Mona­ten regt sich welt­weit ver­stärk­ter Wider­stand, bis hin zu der jüng­sten Glo­bal Sumud Flot­il­la aus 80 Län­dern, die die Gaza-Blocka­de durch­bre­chen will, um Lebens­mit­tel an Hun­gern­de aus­zu­lie­fern, und die, wie alle poli­ti­schen Geg­ner, von Isra­el als poten­zi­ell ter­ro­ri­stisch betrach­tet wird.

Der wie­der­hol­te Vor­wurf des Anti­se­mi­tis­mus gegen isra­el­kri­ti­sche Stim­men kann in Deutsch­land offen­bar auf ein unzu­rei­chen­des histo­ri­sches Bewusst­sein set­zen und auf eine ver­brei­te­te Unkennt­nis der Geschich­te auch des Mitt­le­ren Ostens. Zuneh­mend geht es um Pole­mik gegen Isla­mi­sten, bzw. gegen eine »isla­mi­sche Bar­ba­rei«, ange­führt von ehe­mals anti­se­mi­ti­schen Kräf­ten, die die extre­me Rech­te und die Post­fa­schi­sten über­all zu wei­ßen Supre­ma­ti­sten vereinen.

Die zur deut­schen »Staats­rä­son« erklär­te bedin­gungs­lo­se Unter­stüt­zung des Staa­tes Isra­el nimmt mit die­sem Begriff offen­sicht­lich auch ein Ver­hal­ten in Kauf, das gän­gi­ge Nor­men und Wer­te durch­bricht. Frei nach Machia­vel­li: Der Zweck hei­ligt die Mit­tel. Auch nach Nor­ber­to Bob­bio, einem in Ita­li­en viel­zi­tier­ten Sozio­lo­gen, ermög­licht und recht­fer­tigt die »Staats­rä­son« Hand­lun­gen, die, von einem ein­zel­nen Indi­vi­du­um aus­ge­übt, zu ver­ur­tei­len wären, aber einem Staats­we­sen jenen »poli­ti­schen Rea­lis­mus« ermög­li­chen, der die Moral dem Macht­in­ter­es­se opfert. Der Histo­ri­ker Enzo Tra­ver­so führt in sei­ner jüng­sten Schrift zum The­ma (Gaza davan­ti alla Sto­ria, Bari/​Roma 2024) histo­ri­sche Bei­spie­le dafür an, bis hin zu US-Prä­si­dent Geor­ge Bushs Recht­fer­ti­gung sei­nes Angriffs auf den Irak nach dem 11. Sep­tem­ber 2001 – das lässt Tra­ver­so schluss­fol­gern: »Hin­ter der Staats­rä­son steht kei­ne Demo­kra­tie, son­dern Guantanamo.«

Hel­ga Baumgarten/​Norman Paech: Völ­ker­mord in Gaza. Eine poli­ti­sche und recht­li­che Ana­ly­se, Pro­me­dia 2025, 232 S., 22 €.