Fast zwei Jahre schon währt die Zerstörung der Lebensbedingungen und des Lebens selbst durch Israels Militär (IDF) im Gaza-Streifen – unterstützt durch die USA und Europa, mit weitgehender Duldung durch die Öffentlichkeit. In jenem schmalen Küstenland lebten etwa 2,2 Mio. Menschen (fast zur Hälfte minderjährig) seit 2007 hinter hohen Mauern und Stacheldraht in einer Art Freiluftgefängnis. Die seitdem schon mehrfach auf Gaza geworfenen Bomben des IDF töteten bereits Tausende Zivilisten, hinterließen Verletzte und Verschleppte, sowie zerstörte Häuser.
Die Begründung für die jüngste militärische Eskalation seitens Israels lautet, die Zerstörung Gazas sei eine notwendige Konsequenz des alle überraschenden Terror-Angriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf israelisches Territorium und ziele vor allem auf die Eliminierung dieser Terror-Organisation, die nicht als 2006 gewählte Regierung anerkannt wird. Die israelische Vergeltungs-Operation »Eiserne Schwerter« folgte umgehend am nächsten Tag, dem 8. Oktober, und droht – nach offiziell bisher mehr als 200.000 toten Zivilisten und Verletzten – demnächst mit der Entvölkerung des Gaza-Streifens zu enden.
Im offiziellen Deutschland wurde und wird das israelische Narrativ mit seinen Sprachregelungen bisher weitgehend unkritisch übernommen, andere Sichtweisen, Zweifel oder Proteste dagegen sind vielfach verboten und sanktioniert. Schon die Frage, ob es zum Angriff vom 7. Oktober eine Vorgeschichte gibt oder ob die Palästinenser kein Recht haben, sich gegen jahrzehntelange Unterdrückung und Besatzung zur Wehr zu setzen, wird ausgeblendet und schlicht des Antisemitismus‘ verdächtigt. Die Einschätzung der aktuellen Verbrechen von Vertreibung und Aushungern als Völkermord – entsprechend den Erkenntnissen der Untersuchungskommissionen der Vereinten Nationen, von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen – werden von den Mainstream-Medien nicht zur Kenntnis genommen.
Licht in all dieses Dunkel bringen zwei reich dokumentierte und zu einem Band vereinte Studien, im letzten März in Wien vorgelegt von der in Ostjerusalem lebenden Historikerin Helga Baumgarten und dem mit Israel seit vielen Jahrzehnten vertrauten Verfassungsrechtler Norman Paech unter dem Titel: »Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse«. Sie beleuchten erstmals im deutschen Sprachraum die israelischen Verbrechen gegen die Palästinenser in Gaza und bieten grundlegende Informationen zum besseren Verständnis der katastrophalen Lage.
Der 130 Seiten lange Rückblick von Helga Baumgarten auf die über hundertjährige Vorgeschichte des andauernden Konfliktes – vom Baseler Gründungskongress der Zionistischen Bewegung (1897) über den frühen antizionistischen Widerstand einer nach dem ersten Weltkrieg entstandenen palästinensischen Nationalbewegung (1917) bis zur Nakba (1947/8), jener Katastrophe der Vertreibung von mehr als 750.000 Palästinensern aus ihren angestammten Gebieten, bis heute – zentriert sich auf die Entstehung jenes spezifischen Siedlerkolonialismus, der sich in Israel durch Jahrzehnte entwickelte und bis heute dominiert.
Ausgangspunkt ist ein von Beginn an auf Exklusion ausgelegter Zionismus, der sich durchgesetzt hat – gegen frühe sozialistische Vorstellungen und die der sogenannten Kultur-Zionisten für ein fruchtbringendes Zusammenleben mit der arabischen Bevölkerung. Theodor Herzl im »Judenstaat« (1896): »Wenn ich an die Stelle eines alten Baumes einen neuen setzen will, muss ich zuerst demoliren und dann construiren.« Dieser Satz steht neben anderen deutlichen Aussagen über eine notwendige Vertreibung der Araber aus dem damaligen britischen Mandatsgebiet, jenem vermeintlichen »Land ohne Volk«.
Der spezifische Siedlerkolonialismus zielt nicht auf Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung, sondern auf deren Vertreibung, die Zerstörung von deren gesamten Lebensgrundlagen und den Bau neuer Siedlungen unter israelischer Souveränität. Dazu zitiert Baumgarten ausführlich seit längerem vorliegende Studien israelischer und palästinensischer Historiker. Die Untersuchungen von Fayez Sayegh (1965) bis zu Patrick Wolfe (2006) ermöglichen auch nötige Unterscheidungen zwischen den heute umstrittenen Tatbeständen von Apartheid, Massenmord und Völkermord. Tariq Dana’s (2024) jüngste Definition des Siedlerkolonialismus nach dem Zweiten Weltkrieg als eine »komplexe Anpassung an das Zeitalter der Dekolonisation im Globalen Süden« unterstreicht die besondere »Kombination ahistorischer Narrative, religiöser Manipulationen, imperialistischer Interessen«. Diese Kombination scheint mir – gerade auch für die deutsche Sicht auf Israel – besonders aufschlussreich zu sein, bei der »historische Narrative des Überlebens und der Rückkehr so manipuliert (werden), dass auf ihrer Basis aktuelle Kolonisation und Eliminierung gerechtfertigt werden können«.
Die zionistische Bewegung entstammt dem europäischen Nationalismus und wollte einen jüdischen Staat für europäische Juden schaffen, »im Mittleren Osten, nicht als Teil des Mittleren Ostens«, in dem auch die aus arabischen Ländern eingewanderten Juden sich eher fremd fühlten, wie Avi Shlaim (2023) bezeugt: Die Israelis haben »unsere gemeinsame Vergangenheit, unsere eng verflochtenen Geschichten und unser jahrhundertealtes Erbe von Pluralismus, religiöser Toleranz, Weltbürgertum und Ko-Existenz ausgelöscht«, also jene lange gemeinsame Geschichte von Juden, Christen und Muslimen. Zwar wurden die in Israel verbliebenen Palästinenser 1948 neue Staatsbürger, konnten aber nie in ihre Heimatdörfer oder Städte zurückkehren und blieben diskriminiert.
Die letzten fünfzig Seiten ihrer Studie widmet Baumgarten den israelischen Reaktionen auf den 7. Oktober im Einzelnen: »Scholastizid«, die Ausschaltung der Schulen und Universitäten, »Medizid«, die brutale Zerstörung des Gesundheitssektors mit Tötung des medizinischen Personals, den Ausschluss ausländischer Journalisten und die gezielte Tötung mehrerer Hundert palästinensischer Berichterstatter bis hin zu jenem »kulturellen Völkermord«, der bis heute im internationalen Recht nicht kodifiziert ist. Der Begriff verweist auch auf Zehntausende Tote, die aus Gaza den derzeit »größten Kinderfriedhof der Welt« machen. Vom »Krieg gegen unser Narrativ, gegen unsere Geschichte und Zivilisation« spricht Atef Abu Seif, Schriftsteller und einstiger Kultusminister in Ramallah.
Der schwierigen und widersprüchlichen Entstehung des internationalen Völkerrechts und seiner Institutionen im 20. Jahrhundert widmet Norman Paech den ersten Teil seines detailreichen 100 Seiten-Überblicks, bevor er auf die laufenden vier Verfahren vor den Internationalen Gerichtshöfen in Den Haag gegen Israel eingeht. Seine Eruierung vor allem der internationalen juristischen Grundlagen, auf denen offensichtliche Verbrechen untersucht und als solche sanktioniert werden können – oder auch nicht –, ist ernüchternd, denn es geht dabei vor allem um das problematische und zumeist vernachlässigte Verhältnis von Recht und Politik, denn: »Recht ist Politik und Politik macht Recht.« Paech stellt fest, dass das Völkerrecht schon seit dem 11. September 2001 weitgehend als tot gilt und noch keinen wirksamen Ersatz gefunden hat. Der Glaube an die Wirksamkeit der UN-Charta ist im Süden weitgehend verloren, insbesondere durch die seitdem erfolgte Rekolonisierung des Mittleren Ostens nach den Wirtschaftsinteressen der USA und ihrer europäischen Verbündeten. In dieses Projekt »Greater Middle East« fügt sich Israels Politik bruchlos ein.
Ausgehend von der Vorgeschichte des 7. Oktober skizziert auch Paech das zionistische Projekt als von Anfang an als mit Gewalt und Unterdrückung verbunden. Er unterzieht dann beide Seiten, den Angriff der Hamas und die Reaktion Israels einer umfassenden Analyse im Hinblick auf Motivation und Angemessenheit der Mittel. Und stellt die Frage nach möglichen Alternativen zum bewaffneten Widerstand gegen ein siedlerkolonialistisches Regime und damit auch danach, ob dieser Widerstand nun definitiv gescheitert ist. Denn Israel hat im Tandem mit den USA und Unterstützung aus Europa die volle Kontrolle über palästinensisches Land erreicht, von Gaza über die WestBank nach Ost-Jerusalem – und auch die »Achse des Widerstands« von der Hisbollah im Libanon über Syrien bis in den Iran ist massiv geschwächt. Nur eine antizionistische De-Kolonialisierung könnte die Grundlage für einen schon oft reklamierten binationalen, demokratischen Staat bilden, von dem man heute weit entfernt ist.
Und die internationale Politik? Seit Oktober 2023 steht Deutschland immer mehr in einer Außenseiterposition; und die hiesigen Leitmedien erwiesen sich als deren langer Arm – ausgeprägter als in anderen Ländern. Denn seit Monaten regt sich weltweit verstärkter Widerstand, bis hin zu der jüngsten Global Sumud Flotilla aus 80 Ländern, die die Gaza-Blockade durchbrechen will, um Lebensmittel an Hungernde auszuliefern, und die, wie alle politischen Gegner, von Israel als potenziell terroristisch betrachtet wird.
Der wiederholte Vorwurf des Antisemitismus gegen israelkritische Stimmen kann in Deutschland offenbar auf ein unzureichendes historisches Bewusstsein setzen und auf eine verbreitete Unkenntnis der Geschichte auch des Mittleren Ostens. Zunehmend geht es um Polemik gegen Islamisten, bzw. gegen eine »islamische Barbarei«, angeführt von ehemals antisemitischen Kräften, die die extreme Rechte und die Postfaschisten überall zu weißen Suprematisten vereinen.
Die zur deutschen »Staatsräson« erklärte bedingungslose Unterstützung des Staates Israel nimmt mit diesem Begriff offensichtlich auch ein Verhalten in Kauf, das gängige Normen und Werte durchbricht. Frei nach Machiavelli: Der Zweck heiligt die Mittel. Auch nach Norberto Bobbio, einem in Italien vielzitierten Soziologen, ermöglicht und rechtfertigt die »Staatsräson« Handlungen, die, von einem einzelnen Individuum ausgeübt, zu verurteilen wären, aber einem Staatswesen jenen »politischen Realismus« ermöglichen, der die Moral dem Machtinteresse opfert. Der Historiker Enzo Traverso führt in seiner jüngsten Schrift zum Thema (Gaza davanti alla Storia, Bari/Roma 2024) historische Beispiele dafür an, bis hin zu US-Präsident George Bushs Rechtfertigung seines Angriffs auf den Irak nach dem 11. September 2001 – das lässt Traverso schlussfolgern: »Hinter der Staatsräson steht keine Demokratie, sondern Guantanamo.«
Helga Baumgarten/Norman Paech: Völkermord in Gaza. Eine politische und rechtliche Analyse, Promedia 2025, 232 S., 22 €.