Jenny Farrells Essaysammlung Kunst und Befreiung verteidigt mit Nachdruck einen oft vernachlässigten Strang der Kulturgeschichte: den unerschütterlichen Humanismus gerade in der hohen Kunst. Gegen die verbreitete Annahme, diese sei elitär oder weltfremd und überhaupt geradezu unmöglich zu verstehen, argumentiert Farrell überzeugend, dass sie lebensnahe Anliegen lebensnah verfolgt. Die Kunstwerke, die hier vorgestellt werden, stammen aus der Neuzeit, also unserer eigenen Epoche – seit der Renaissance.
Der Neue-Impulse-Verlag beschreibt das Anliegen des Bandes treffend: Farrells Essays zeigen an ausgewählten Kunstwerken, »wie aufgeklärte Künstler (…) sich der großen Aufgabe stellen, auf der Seite des Volkes der Barbarei zu widerstehen«. Diese Prämisse durchzieht das gesamte Buch wie ein roter Faden. Es ist ein Versuch, die Kontinuität einer Kunst sichtbar zu machen, die nicht nur die Welt abbildet, sondern sie auch begreifbar und damit veränderbar machen will. Farrell versteht Kunst als aktive Kraft im gesellschaftlichen Ringen.
Die Stärke dieser Sammlung liegt in der plastischen und tiefgründigen Analyse einzelner Werke. Ein Glanzstück ist die Interpretation von Beethovens Neunter Sinfonie. Farrell liest sie nicht nur als geniale Musik, sondern als eine musikalische Fortführung der Französischen Revolution. Eindrucksvoll, immer am Werk bleibend, schildert sie, wie Beethoven den »Weg durch die Nacht ins Licht«, den Kampf gegen die Reaktion, in Töne fasst – ein Ringen, das sich im Kontrast von düsterem Moll und strahlendem Dur manifestiert. Die »Ode an die Freude« ist für sie keine abstrakte Hymne, sondern die konkrete Utopie einer Gesellschaft, »in der Freiheit, Gleichheit und universelle Gemeinschaft verwirklicht sind«. Die historische Kontextualisierung – von Aufführungen durch Arbeiterchöre bis zum Verbot durch die Nazis – unterstreicht die politische Sprengkraft des Werkes.
Die beeindruckende internationale und internationalistische Spannweite des Buches wird nicht allein in der Vielfalt der Künstler, sondern auch in einzelnen Kapiteln deutlich, wie im Kapitel »Zeuginnen des Kriegs«. Hier spannt Farrell einen weiten Bogen: Sie beginnt bei Käthe Kollwitz, deren Holzschnitt Die Eltern aus dem Zyklus Krieg den unermesslichen, in sich gekehrten Schmerz eines Elternpaares zeigt, und schließt ein Gemälde der palästinensischen Künstlerin Malak Mattar ein, die in Wir haben auf dieser Erde, was das Leben lebenswert macht eine Mutter darstellt, die ihr Kind schützend umarmt – eine Geste der Hoffnung und des Widerstands im Angesicht der Zerstörung.
Doch Farrell belässt es nicht bei der Anklage. Sie unterscheidet bewusst zwischen der Darstellung von Leid und der Kunst, die aus antimperialistischen Befreiungskämpfen schöpft. So porträtiert die sowjetische Frontkämpferin Sofia Uranova in Diensthabende Krankenschwester nicht die Verzweiflung, sondern die ungebrochene Menschlichkeit und Entschlossenheit der Verwundeten. Ebenso zeigt die vietnamesische Künstlerin Trinh Kim Vinh in Operation durch den Dschungel weniger den Kampf selbst als vielmehr die Solidarität und kollektive Stärke der Befreiungsarmee.
Ein besonderes Merkmal des Bandes ist sein nuancierter Blick. Eine Sinfonie von Beethoven oder die Darstellung der irischen Hungersnot in Lilian Lucy Davidsons Gorta stehen neben Werken sozialistischer Autoren, Werke aus Asien und Afrika neben welchen aus Europa oder Nordamerika. Das Buch zeigt Entwicklungslinien auf: Wie zum Beispiel der Humanismus der Renaissance den Boden bereitet hat für eine Kunst, die ihre Rolle als Träger von Kritik und Hoffnung unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen erfüllt. Bei solch materialistischer Kunstgeschichte handelt es sich stets ums Begreifen derselben, werdenden Wirklichkeit. Aber da ist die Domäne der Ästhetik ja gerade dort, wo der wissenschaftliche Begriff sonst zu hoch ins Allgemeine griffe. Also in den Dunkelkammern der Psyche, wo, mit Metaphern tauchend, die Welt widergespiegelt anders aufzusuchen ist.
Abgerundet wird die Sammlung durch eine Fülle von Essays zur englischen und schottischen Literatur. Diese Erweiterung des Blickfelds unterstreicht den Internationalismus des humanistischen Impulses. Sie macht deutlich, dass der Kampf für soziale Gerechtigkeit und Frieden ein grenzüberschreitendes Anliegen der Kunst ist, die das Wesen ihrer Zeit begreift, und bereichert das Buch um wertvolle, dem deutschsprachigen Leser oft weniger bekannte Perspektiven.
Kunst und Befreiung ist eine leidenschaftliche, gelehrt und zugänglich geschriebene Einladung, die Sehnsucht der Menschen nach Befreiung als Freude des Künstlers aufzuspüren, »dem Schicksal in den Rachen zu greifen« (Beethoven). Und sogar als erotische »Lust auf Anderssein« (Octavio Paz): vom »Aschenputtel« und den Werken der Renaissance bis in die unmittelbare Gegenwart. Das Buch ist eine wertvolle Korrektur einer entpolitisierten Kunstbetrachtung und ein kraftvoller Appell, die Kunst in ihrer ganzen Wucht als eine Stimme des Volkes, des Widerstands und der Hoffnung auf eine von Krieg und Armut befreiten Menschheit ernst zu nehmen. Ein unverzichtbarer Beitrag für alle, die der Relevanz von Kunst nachspüren wollen.
Jenny Farrell: Kunst und Befreiung. Literatur, Musik und Kunst im Kampf für die Menschheit, Neue Impulse Verlag 2025, 396 S., 29.80 €.