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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vom roten Faden zum roten Teppich

Jen­ny Far­rells Essay­samm­lung Kunst und Befrei­ung ver­tei­digt mit Nach­druck einen oft ver­nach­läs­sig­ten Strang der Kul­tur­ge­schich­te: den uner­schüt­ter­li­chen Huma­nis­mus gera­de in der hohen Kunst. Gegen die ver­brei­te­te Annah­me, die­se sei eli­tär oder welt­fremd und über­haupt gera­de­zu unmög­lich zu ver­ste­hen, argu­men­tiert Far­rell über­zeu­gend, dass sie lebens­na­he Anlie­gen lebens­nah ver­folgt. Die Kunst­wer­ke, die hier vor­ge­stellt wer­den, stam­men aus der Neu­zeit, also unse­rer eige­nen Epo­che – seit der Renaissance.

Der Neue-Impul­se-Ver­lag beschreibt das Anlie­gen des Ban­des tref­fend: Far­rells Essays zei­gen an aus­ge­wähl­ten Kunst­wer­ken, »wie auf­ge­klär­te Künst­ler (…) sich der gro­ßen Auf­ga­be stel­len, auf der Sei­te des Vol­kes der Bar­ba­rei zu wider­ste­hen«. Die­se Prä­mis­se durch­zieht das gesam­te Buch wie ein roter Faden. Es ist ein Ver­such, die Kon­ti­nui­tät einer Kunst sicht­bar zu machen, die nicht nur die Welt abbil­det, son­dern sie auch begreif­bar und damit ver­än­der­bar machen will. Far­rell ver­steht Kunst als akti­ve Kraft im gesell­schaft­li­chen Ringen.

Die Stär­ke die­ser Samm­lung liegt in der pla­sti­schen und tief­grün­di­gen Ana­ly­se ein­zel­ner Wer­ke. Ein Glanz­stück ist die Inter­pre­ta­ti­on von Beet­ho­vens Neun­ter Sin­fo­nie. Far­rell liest sie nicht nur als genia­le Musik, son­dern als eine musi­ka­li­sche Fort­füh­rung der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Ein­drucks­voll, immer am Werk blei­bend, schil­dert sie, wie Beet­ho­ven den »Weg durch die Nacht ins Licht«, den Kampf gegen die Reak­ti­on, in Töne fasst – ein Rin­gen, das sich im Kon­trast von düste­rem Moll und strah­len­dem Dur mani­fe­stiert. Die »Ode an die Freu­de« ist für sie kei­ne abstrak­te Hym­ne, son­dern die kon­kre­te Uto­pie einer Gesell­schaft, »in der Frei­heit, Gleich­heit und uni­ver­sel­le Gemein­schaft ver­wirk­licht sind«. Die histo­ri­sche Kon­tex­tua­li­sie­rung – von Auf­füh­run­gen durch Arbei­ter­chö­re bis zum Ver­bot durch die Nazis – unter­streicht die poli­ti­sche Spreng­kraft des Werkes.

Die beein­drucken­de inter­na­tio­na­le und inter­na­tio­na­li­sti­sche Spann­wei­te des Buches wird nicht allein in der Viel­falt der Künst­ler, son­dern auch in ein­zel­nen Kapi­teln deut­lich, wie im Kapi­tel »Zeu­gin­nen des Kriegs«. Hier spannt Far­rell einen wei­ten Bogen: Sie beginnt bei Käthe Koll­witz, deren Holz­schnitt Die Eltern aus dem Zyklus Krieg den uner­mess­li­chen, in sich gekehr­ten Schmerz eines Eltern­paa­res zeigt, und schließt ein Gemäl­de der palä­sti­nen­si­schen Künst­le­rin Malak Mat­tar ein, die in Wir haben auf die­ser Erde, was das Leben lebens­wert macht eine Mut­ter dar­stellt, die ihr Kind schüt­zend umarmt – eine Geste der Hoff­nung und des Wider­stands im Ange­sicht der Zerstörung.

Doch Far­rell belässt es nicht bei der Ankla­ge. Sie unter­schei­det bewusst zwi­schen der Dar­stel­lung von Leid und der Kunst, die aus antim­pe­ria­li­sti­schen Befrei­ungs­kämp­fen schöpft. So por­trä­tiert die sowje­ti­sche Front­kämp­fe­rin Sofia Ura­no­va in Dienst­ha­ben­de Kran­ken­schwe­ster nicht die Ver­zweif­lung, son­dern die unge­bro­che­ne Mensch­lich­keit und Ent­schlos­sen­heit der Ver­wun­de­ten. Eben­so zeigt die viet­na­me­si­sche Künst­le­rin Trinh Kim Vinh in Ope­ra­ti­on durch den Dschun­gel weni­ger den Kampf selbst als viel­mehr die Soli­da­ri­tät und kol­lek­ti­ve Stär­ke der Befreiungsarmee.

Ein beson­de­res Merk­mal des Ban­des ist sein nuan­cier­ter Blick. Eine Sin­fo­nie von Beet­ho­ven oder die Dar­stel­lung der iri­schen Hun­gers­not in Lili­an Lucy David­sons Gor­ta ste­hen neben Wer­ken sozia­li­sti­scher Autoren, Wer­ke aus Asi­en und Afri­ka neben wel­chen aus Euro­pa oder Nord­ame­ri­ka. Das Buch zeigt Ent­wick­lungs­li­ni­en auf: Wie zum Bei­spiel der Huma­nis­mus der Renais­sance den Boden berei­tet hat für eine Kunst, die ihre Rol­le als Trä­ger von Kri­tik und Hoff­nung unter neu­en gesell­schaft­li­chen Bedin­gun­gen erfüllt. Bei solch mate­ria­li­sti­scher Kunst­ge­schich­te han­delt es sich stets ums Begrei­fen der­sel­ben, wer­den­den Wirk­lich­keit. Aber da ist die Domä­ne der Ästhe­tik ja gera­de dort, wo der wis­sen­schaft­li­che Begriff sonst zu hoch ins All­ge­mei­ne grif­fe. Also in den Dun­kel­kam­mern der Psy­che, wo, mit Meta­phern tau­chend, die Welt wider­ge­spie­gelt anders auf­zu­su­chen ist.

Abge­run­det wird die Samm­lung durch eine Fül­le von Essays zur eng­li­schen und schot­ti­schen Lite­ra­tur. Die­se Erwei­te­rung des Blick­felds unter­streicht den Inter­na­tio­na­lis­mus des huma­ni­sti­schen Impul­ses. Sie macht deut­lich, dass der Kampf für sozia­le Gerech­tig­keit und Frie­den ein grenz­über­schrei­ten­des Anlie­gen der Kunst ist, die das Wesen ihrer Zeit begreift, und berei­chert das Buch um wert­vol­le, dem deutsch­spra­chi­gen Leser oft weni­ger bekann­te Perspektiven.

Kunst und Befrei­ung ist eine lei­den­schaft­li­che, gelehrt und zugäng­lich geschrie­be­ne Ein­la­dung, die Sehn­sucht der Men­schen nach Befrei­ung als Freu­de des Künst­lers auf­zu­spü­ren, »dem Schick­sal in den Rachen zu grei­fen« (Beet­ho­ven). Und sogar als ero­ti­sche »Lust auf Anders­sein« (Octa­vio Paz): vom »Aschen­put­tel« und den Wer­ken der Renais­sance bis in die unmit­tel­ba­re Gegen­wart. Das Buch ist eine wert­vol­le Kor­rek­tur einer ent­po­li­ti­sier­ten Kunst­be­trach­tung und ein kraft­vol­ler Appell, die Kunst in ihrer gan­zen Wucht als eine Stim­me des Vol­kes, des Wider­stands und der Hoff­nung auf eine von Krieg und Armut befrei­ten Mensch­heit ernst zu neh­men. Ein unver­zicht­ba­rer Bei­trag für alle, die der Rele­vanz von Kunst nach­spü­ren wollen.

Jen­ny Far­rell: Kunst und Befrei­ung. Lite­ra­tur, Musik und Kunst im Kampf für die Mensch­heit, Neue Impul­se Ver­lag 2025, 396 S., 29.80 €.