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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von 1492 bis zur Gegenwart

Die Gala­pa­gos-Insel Flo­re­a­na gehört poli­tisch zu Ecua­dor und hat ihren offi­zi­el­len Namen von Juan José Flo­res (1800-1864), dem ersten Prä­si­den­ten des Lan­des; alter­na­tiv wird sie auch San­ta Maria genannt, nach dem Flagg­schiff von Chri­stoph Kolum­bus, mit wel­chem die­ser 1492 Ame­ri­ka entdeckte.

An einem Tag im Monat März des Jah­res 1934 ver­lor Flo­re­a­na sei­ne Kai­se­rin. Die Öster­rei­che­rin Eloi­se Wag­ner de Bous­quet, die als Baro­nin auf­trat, die aber all­ge­mein als Hoch­stap­le­rin ange­se­hen wird und sich selbst zur Kai­se­rin der Insel gekürt hat­te, war 1932 mit zwei deutsch­stäm­mi­gen Lieb­ha­bern sowie mit Kühen, Eseln und Hüh­nern nach Flo­re­a­na gekom­men, wo sie sofort eine domi­nan­te Rol­le über­nahm und ihre »Unter­ta­nen« drang­sa­lier­te. 80 Zent­ner Zement sol­len eben­falls an Bord des Schif­fes gewe­sen sein, für den Bau eines Tou­ri­sten-Hotels gedacht, aus dem jedoch nichts wur­de. Eini­ge Mona­te vor ihnen war aus Köln ein Ehe­paar mit Sohn ein­ge­trof­fen. Der Vater hat­te sei­ne Tätig­keit im Büro von Ober­bür­ger­mei­ster Kon­rad Ade­nau­er auf­ge­ge­ben, in der Hoff­nung, auf Flo­re­a­na ein »selbst­be­stimm­tes Leben, fern von allen Zwän­gen« füh­ren zu können.

Ange­lockt wur­den die Neu­an­kömm­lin­ge von begei­ster­ten Zei­tungs­ar­ti­keln über die angeb­li­che »Insel der Glück­se­li­gen«. Sie fuß­ten auf Berich­ten von vor allem nord­ame­ri­ka­ni­scher Schiffs­rei­sen­der, die kurz in dem klei­nen Hafen Sta­ti­on gemacht und auf der anson­sten unbe­wohn­ten Insel einen Ber­li­ner Zahn­arzt und sei­ne Lebens­ge­fähr­tin ange­trof­fen hat­ten, die sich dort 1929 nie­der­ge­las­sen hat­ten. Die bei­den woll­ten der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on ent­flie­hen und ent­sa­gen – ein­schließ­lich der Klei­dung, wozu das Kli­ma auf den Gala­pa­gos-Inseln mit Jah­res­durch­schnitts­tem­pe­ra­tu­ren von ange­nehm warm bis som­mer­lich heiß sie ein­lud. Die bei­den Zivi­li­sa­ti­ons­flücht­lin­ge wur­den ange­trie­ben von einem eklek­ti­schen Gemisch aus alter­na­ti­ven, eso­te­ri­schen, mysti­zi­sti­schen, lebens­re­for­me­ri­schen, aber auch ras­si­sti­schen und anti­se­mi­ti­schen Beweg­grün­den. Und »so leb­te das Paar, wie von Gott erschaf­fen, allein in sei­nem Gar­ten Eden«, heißt es in Berichten.

Doch mit dem Ein­tref­fen der Neu­lin­ge und wei­te­rer Per­so­nen, die sich zeit­wei­se auf der Insel auf­hiel­ten, ver­än­der­te sich der »para­die­si­sche Zustand«. Schon bald kam es zu erheb­li­chen Kon­flik­ten unter den Insel­be­woh­nern, die zu dem bis heu­te unauf­ge­klär­ten Vor­gang im März 1934 eska­lier­ten. Seit jenem Tag fehlt jeg­li­che Spur von der »Kai­se­rin« und einem ihrer Lieb­ha­ber. Heut­zu­ta­ge über­wiegt die Hypo­the­se, dass die bei­den von zwei männ­li­chen Insel­be­woh­nern ermor­det und den Hai­en zum Fraß vor­ge­wor­fen wurden.

Die­se »Gala­pa­gos-Affä­re« beschäf­tig­te die inter­na­tio­na­le Öffent­lich­keit der­art, dass der US-ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent Frank­lin D. Roo­se­velt 1938 im Zuge einer Süd­ame­ri­ka­rei­se auf der Insel Sta­ti­on mach­te. Kein Gerin­ge­rer als Geor­ges Sime­non ver­fass­te eine Repor­ta­ge-Serie für die dama­li­ge Tages­zei­tung Paris-Soir, und er schrieb einen Kri­mi­nal­ro­man mit dem Titel Ceux de la soif (auf Deutsch erschie­nen bei Dio­ge­nes unter zwei Titeln: … die da dür­stet bzw. Hotel »Zurück zur Natur«). Jour­na­li­sten, Schrift­stel­ler, Histo­ri­ker und auch Insel­be­woh­ner sorg­ten in der Fol­ge mit Roma­nen, Repor­ta­gen, Ana­ly­sen, Memoi­ren und fil­mi­schen Bear­bei­tun­gen inter­na­tio­nal für ein star­kes, bis zum heu­ti­gen Tage anhal­ten­des, die Fan­ta­sie anre­gen­des publi­zi­sti­sches Echo. 2024 stell­te der US-ame­ri­ka­ni­sche Regis­seur und Oscar-Preis­trä­ger Ron Howard in Toron­to sei­nen spe­ku­la­ti­ven Sur­vi­val-Thril­ler »Eden« vor, der im April die­ses Jah­res in die deut­schen Kinos kam. Die His­pa­ni­stin, Angli­stin und Roma­ni­stin Michi Strausfeld nutz­te die Gunst der Stun­de. Zeit­nah erschien im Febru­ar ihr neu­es Sach­buch über »deut­sche Aben­teu­er in Latein­ame­ri­ka« unter dem Titel »Die Kai­se­rin von Gala­pa­gos«. Den Ereig­nis­sen sind fünf Sei­ten gewidmet.

Strausfeld hat über Gabri­el Gar­cía Már­quez und den neu­en Roman Latein­ame­ri­kas pro­mo­viert und zahl­rei­che Mate­ri­al­bän­de und Antho­lo­gien über Latein­ame­ri­ka her­aus­ge­ge­ben. Bei Suhr­kamp und danach bei S. Fischer war sie ab Mit­te der 1970er Jah­re für die spa­nisch-latein­ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur ver­ant­wort­lich und hat zahl­rei­chen süd­ame­ri­ka­ni­schen Autorin­nen und Autoren den Weg in die deut­schen Bücher­re­ga­le geeb­net. 2012 wur­de sie von der Buch­mes­se Bue­nos Aires in die Liste der 50 wich­tig­sten Per­so­nen für die spa­nisch­spra­chi­ge Kul­tur­welt aufgenommen.

Strausfelds Buch passt zu einer wei­te­ren aktu­el­len Nach­richt. Mit­te Mai mel­de­ten Agen­tu­ren, Mit­ar­bei­ter des Ober­sten Gerichts­hofs in Argen­ti­ni­en hät­ten im Rah­men eines Umzugs 83 Kisten mit Mate­ri­al aus der Zeit des Natio­nal­so­zia­lis­mus gefun­den. Sie sei­en 1941 von der deut­schen Bot­schaft in Tokio an Bord eines japa­ni­schen Damp­fers nach Argen­ti­ni­en geschickt wor­den, als per­sön­li­che Gegen­stän­de dekla­riert. Nach­dem damals die Zoll­be­hör­den eini­ge Kisten durch­sucht hat­ten, habe ein Bun­des­rich­ter in Anbe­tracht der ent­deck­ten Post­kar­ten und Fotos, Notiz- und Mit­glieds­bü­cher sowie des umfang­rei­chen Pro­pa­gan­da­ma­te­ri­als die Beschlag­nah­me ver­fügt. »Als wir eine der Kisten öff­ne­ten, fan­den wir Mate­ri­al, das dazu bestimmt war, die Ideo­lo­gie Adolf Hit­lers wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs in Argen­ti­ni­en zu festig­ten und zu ver­brei­ten«, stell­te der Gerichts­hof 84 Jah­re spä­ter fest.

Auf welch frucht­ba­ren Boden die NS-Ideo­lo­gie schon lan­ge vor dem Zwei­ten Welt­krieg in den deut­schen Gemein­den in Latein­ame­ri­ka gefal­len war, nicht nur in Argen­ti­ni­en, son­dern eben­so in Bra­si­li­en, Boli­vi­en, Gua­te­ma­la, Kolum­bi­en, Uru­gu­ay, Chi­le oder Mexi­ko, das lässt sich in Strausfelds Buch nach­le­sen. Eben­so wird die »Rat­ten­li­nie« genann­te Hel­fer­ket­te the­ma­ti­siert, in die sich auch der Vati­kan ein­ge­reiht hat­te und auf der die mei­sten Nazis nach Kriegs­en­de Süd­ame­ri­ka erreich­ten, so auch Adolf Eich­mann, Josef Men­ge­le, Erich Prieb­ke und Edu­ard Rosch­mann, der »Schläch­ter von Riga«. Sie konn­ten in Argen­ti­ni­en, Para­gu­ay und Bra­si­li­en, auch dank der Unter­stüt­zung aus den deut­schen Gemein­den, ein »nor­ma­les« Leben füh­ren. So wie Klaus Bar­bie, der »Schläch­ter von Lyon«, der unter Schutz bri­ti­scher und dann US-ame­ri­ka­ni­scher Behör­den stand, die ihn als Agen­ten beschäf­tig­ten und ihm bei der Ein­rei­se nach Boli­vi­en hal­fen, wo er als mili­tä­ri­scher Bera­ter und Waf­fen­schmugg­ler für den Dik­ta­tor Hugo Ban­zer tätig war. Aber auch in ande­ren Län­dern stan­den Nazis unter dem Schutz der jewei­li­gen Regie­run­gen und wur­den häu­fig zu deren poli­ti­schen oder mili­tä­ri­schen Bera­tern. Nach­zu­le­sen bei Michi Strausfeld.

Doch es gibt auch »unüber­seh­ba­re« posi­ti­ve Spu­ren aus jener Zeit in Latein­ame­ri­ka, und zwar die der jüdi­schen und poli­ti­schen Emi­gra­ti­on aus Deutsch­land und ande­ren Län­dern Euro­pas. Das Per­so­nen­re­gi­ster des Buches liest sich wie ein Who’s Who des Kul­tur- und Gei­stes­le­bens jener Zeit. Her­vor­he­ben möch­te ich die Pas­sa­ge über den »boli­via­ni­schen Schind­ler«, den im baden-würt­tem­ber­gi­schen Bib­lis gebo­re­nen Moritz Hoch­schild, der 1919 als stu­dier­ter Berg­bau­in­ge­nieur emi­grier­te, in Chi­le und dann in Boli­vi­en erfolg­reich war und zu einem »legen­dä­ren Zinn­ba­ron« auf­stieg, »mär­chen­haft reich und poli­tisch mäch­tig«. Als »agno­sti­scher Jude« soll er neun­tau­send, viel­leicht sogar 20 000 Flücht­lin­gen die Über­fahrt aus Euro­pa bezahlt und Zuflucht in Boli­vi­en ver­schafft haben. Strausfeld: »Als aber immer mehr Län­der die Ein­rei­se von Juden erschwer­ten, (…) setz­te er sei­nen Ein­fluss bei der boli­via­ni­schen Regie­rung und sei­nen Reich­tum ein, damit das Land den Flücht­lin­gen die Ein­rei­se erlaub­te und ihnen ein Stück Land zuteilte.«

So bie­tet »Die Kai­se­rin von Gala­pa­gos« auf »nur« 264 Sei­ten chro­no­lo­gisch und nach Län­dern geord­net eine Fül­le von Infor­ma­tio­nen. Namen, Orte, Zita­te, ein kom­pak­ter Rea­der, der zum Wei­ter­le­sen und Wei­ter­su­chen anregt.

Das bis­her Geschil­der­te umfasst aller­dings nur einen Teil des Buches, das sich nicht in «deut­schen Aben­teu­ern« erschöpft, wie der Unter­ti­tel lau­tet. Die Lese­rei­se beginnt im Jahr 1492, durch­pflügt die Jahr­hun­der­te spa­ni­scher und por­tu­gie­si­scher Räu­be­rei, die »ordent­li­chen« Mis­si­ons­ver­su­che, vor allem der Jesui­ten, die Aus­lö­schung und Ver­skla­vung indi­ge­ner Völ­ker, die Aus­wan­de­rungs­wel­len aus Euro­pa, aus Not und Armut und Ver­fol­gung, die Suche nach dem El Dora­do, dem Goldland.

Das Buch schließt mit einem Bedau­ern: dass seit den 1990er Jah­ren das Inter­es­se an Latein­ame­ri­ka nach­ge­las­sen habe, nach dem Hype in den 1970er Jah­ren, für den Stich­wor­te wie Castro/​Kuba, Allen­de und Uni­dad Popular/​Chile, Fren­te Sandinista/​Nicaragua und die Soli­da­ri­täts­be­we­gun­gen ste­hen. Strausfeld: Zwar »las­sen sich noch immer Rei­sen­de, Aus­wan­de­rer und Unter­neh­mer vom Kon­ti­nent, sei­nen Men­schen und sei­ner Kul­tur fas­zi­nie­ren. Die deut­sche – und zum Groß­teil auch die euro­päi­sche – Poli­tik scheint hin­ge­gen das Inter­es­se an Latein­ame­ri­ka ver­lo­ren zu haben und denkt vor­nehm­lich an den Ein­kauf der nöti­gen Roh­stof­fe, um den eige­nen Wohl­stand aufrechtzuerhalten.«

 Michi Strausfeld: Die Kai­se­rin von Gala­pa­gos. Deut­sche Aben­teu­er in Latein­ame­ri­ka, Beren­berg, Ber­lin 2025,264 S., 24 €. – Strausfeld erwähnt in ihrem Buch auch den Deutsch-Argen­ti­ni­er Car­los Gesell (1891-1979), der fast 2000 Hekt­ar Dünen­land süd­lich von Bue­nos Aires kauf­te, um dort eine Sied­lung zu grün­den. Sie besteht bis heu­te. Uwe Timm beschreibt in sei­nem Buch »Der Ver­rück­te in den Dünen« das Vor­ha­ben (sie­he Ossietzky 18/​2020, »Vom Nach­den­ken über die Kraft der Utopie«).