»Vor dem Sturm« überschrieb der am 30.12.1819 in Neuruppin geborene Theodor Fontane seinen im Jahr 1877/78 entstandenen Roman. Im Dezember 1812 war Napoleons Russlandfeldzug gescheitert, sein Rückzug endete im Desaster, die Befreiungskriege begannen. In Anlehnung an Fontane übernahm der ehemalige sowjetische Botschafter in Bonn, Julij Kwizinski, dessen Motiv eines stürmischen Umbruchs. Auch sein Buch »Vor dem Sturm« dokumentiert und interpretiert die folgenreichen Handlungen, Verabredungen, Brüche und Ungleichgewichte der Kräfte während einer historischen Zäsur: Zwischen April 1986 und Mai 1990 reiste der Diplomat rast- und ruhelos zwischen den Machtzentren einer sich auflösenden alten Weltordnung hin und her. Kwizinskis Nachlass ist von großer Aktualität, von besonderem Rang und hoher Bedeutung. Er beschreibt Zeiten grundlegender Änderungen: vom Kalten Krieg zur möglichen Friedensordnung in Europa. Kwizinski begann seine Erinnerungen im Oktober 1991 aufzuschreiben und schloss sie im April 1992 ab. Sie erschienen 1993 im Siedler-Verlag Berlin.
Die Wende 1989/90 machte Hoffnung auf ein neues Europa. Kwizinski hatte zwei Jahrzehnte zuvor mit dem Amerikaner Paul Nitze über die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa verhandelt sowie über die Schlussakte von Helsinki 1975. Ein erfahrener Diplomat seines Landes. Nach seiner Rückkehr aus Bonn ist die Ernennung im Juli 1990 zum Stellvertreter des Außenministers Eduard Schewardnadses als eine Ehre und Belohnung seines Wirkens zu verstehen.
Der Augustputsch von 1991 war ein Anschlag reaktionärer Kräfte auf Gorbatschows Projekt des demokratischen Umbruchs von oben, der auf die Wiederherstellung der alten Sowjetunion zielte. Eine Gruppierung um den damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin (Gemeinschaft Unabhängiger Staaten) schlug den Aufstand nieder. Zu der Zeit koexistieren die Sowjetunion und ein neues föderales Russland unter Jelzin, der Gorbatschow am 25. Dezember 1991 zum Rücktritt zwang. Es beschleunigte sich die Bildung einer neuen Ordnung in zwei Lager: Kräfte der Wiederherstellung eines starken autoritären Staates stehen den Anhängern eines demokratischen Parlamentarismus und Selbstverwaltung des Volkes gegenüber, mit fließenden Übergängen zwischen den Lagern. Selbstverständlich ergaben sich daraus qualitative Unterschiede in den Positionen zur nationalen Frage bezüglich der Zukunft des Einheitsstaates auf dem Gebiet der Sowjetunion.
Am Ende der Perestroika und in den ersten Jahren der Herrschaft Boris Jelzins haben die Ideen der Demokratie und der nationalen Unabhängigkeit der Republiken noch massenhafte, aber abnehmende Unterstützung genossen. In dieser Zeit gewaltiger Umbrüche, Verwerfungen und dem Aufeinanderprallen der Kräfte schreibt Kwizinski seine Erinnerungen. Er stellt ihnen, in eigener Sache die Machtlosigkeit erklärend, Worte des Predigers Salomo voran: Alle Fähigkeiten (die eigenen) helfen nicht, sind machtlos, »dass er ein Ding wohl kann; sondern alles liegt an Zeit und Glück.« Zu diesem Zeitpunkt versinken die Hoffnungen auf das Gelingen innerer Reformen der Demokratisierung. Der Umbau für die Völker des größten Landes der Erde befand sich im Stadium des Scheiterns, eines Zusammenpralls divergierender Kräfte, die sich ausschließen.
Vieles hing an der Lösung der deutschen Frage. Der 2+4-Vertrag als zentrales völkerrechtliches Abkommen ermöglichte die deutsche Vereinigung am 3. Oktober 1990. Im Zuge der Verhandlungen kritisierte Julij Kwizinski des Öfteren die zu große Nachgiebigkeit der sowjetischen Führung. »Vor dem Sturm« ist auch so zu lesen, dass die Reformen von Michail Gorbatschow und seinen Leuten eben nicht zur erhofften Lösung der Fesseln führten, sondern zu anarchischen Verwerfungen, die weite Teile der Bevölkerung in die Armut stürzte, und großen Zugeständnissen gegenüber den Interessen des Westens. Die Vereinigung Deutschlands konnte oder musste viele ihrer Zeitgenossen als Stärkung des Westens zu Lasten der Sowjetunion empfinden.
Während die Vereinigung beider deutscher Staaten von Kanzler Kohl vorangetrieben wurde, wollte die Sowjetunion die Ausdehnung der Nato auf die DDR und die Stationierung von Atomwaffen bis zur Oder und Neiße auf alle Fälle verhindern. Außenminister Genscher und andere sahen dies genauso, sogar Nato-Generalsekretär Wörner machte diesbezügliche Andeutungen. Kaum vorstellbar, dass weitere Ausdehnungen des westlichen Militärbündnisses denkbar waren, denn die sowjetische Führung sah die Überwindung beider militärischer Sicherheitssysteme kommen, jedenfalls wünschte sie das. Gleichzeitig drohte der Sowjetunion der Staatsbankrott, weil der Markt durch Privatisierung und Kapitalisierung gesellschaftlicher Betriebsformen außer Kontrolle geraten war.
Die Warschauer Vertragsstaaten erklärten auf der KSZE-Tagung im November 1990 in Paris, das Schwergewicht auf Abrüstung und den Aufbau eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems zu legen. Das Bündnis sollte in dem Maße abgebaut werden, wie sich der KSZE-Prozess weiterentwickelte und gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen entstanden. Die Sowjets bemerkten allerdings, dass »ihre« Verbündeten sie längst verlassen hatten. Am 1. Juli 1991 löste sich das östliche Militärbündnis aufgrund der Stimmungslage in den osteuropäischen Ländern und dem realpolitischen Denken des sowjetischen Präsidenten. Er riskierte viel, denn die Westalliierten wollten die Nato erhalten.
Am 22. Juni 1990, dem 50. Jahrestag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, mit der Schreckensbilanz von 27 Millionen Toten, legte die Sowjetunion ihren Entwurf zum 2+4-Vertrag vor, wobei die »witzige, aber bedeutungsschwere Formel ›2+4=1+5‹« umging, weil »jeder Vertrag, der zu viele Details und Festlegungen enthalte, von den Deutschen als eine beleidigende Einschränkung ihrer Souveränität aufgefasst« werde, und »wir täten besser daran, den Bogen nicht zu überspannen«, notierte Kwizinski.
Ende Juni 1990 zogen die drei Westmächte den Schluss, dass sie bei der Wiedervereinigung Deutschlands hinsichtlich der Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Nato und des Verbleibs ihrer Truppen auf deutschem Boden keinerlei Zugeständnisse zu machen brauchten.
»Gestützt auf die drei Mächte waren sie bemüht, aus unserem Dokument alles hinauszuwerfen, was sie behindern konnte, und den Rest auf später aufzuschieben. Unser Dokument wurde im Westen mit eisiger Kälte aufgenommen.« Die Zurückweisungen vieler bedeutender Forderungen im Entwurf konnten nur durch Einsatz der Trumpfkarte gelingen, so Kwizinski, durch den »Einsatz unserer militärischen Möglichkeiten in der DDR«. Was zur Katastrophe hätte führen können, weshalb nach seinem Urteil die Führung diesen Weg von vornherein ausschloss.
Warum wiesen die Westalliierten, die bereit waren, für den Abzug der russischen Truppen den Deutschen alle Rechte und Freiheiten eines souveränen Staates zu geben, den Entwurf der sowjetischen Regierung ab?
Zentrale Vorschläge über Grundprinzipien einer künftigen Regelung der Deutschlandfrage, die eisige Kälte im Westen auslösten, waren im sowjetischen Entwurf unter zweitens genannt: »Das vereinte Deutschland wird seine Politik so gestalten, dass von ihm nur Frieden ausgeht. Von seinem Gebiet werden keinerlei militärische Aktionen – weder mit eigenen Kräften noch im Bündnis mit anderen Staaten – unternommen werden, außer in Fällen der Ausübung des legitimen Rechts auf Selbstverteidigung. Auch militärische Handlungen dritter Staaten, die sich gegen andere richten, dürfen auf ihrem Territorium nicht stattfinden.« Grundsätzlicher Dissens bestand auch über den Artikel 7 des Entwurfs; dort heißt es: »Der zum Zeitpunkt der Vereinigung bestehende faktische Zustand, dass die DDR dem Warschauer Vertrag und die Bundesrepublik der Nato angehört, werden nicht auf Gebiete ausgedehnt, die nicht zu ihrem jeweiligen Geltungsbereich gehören.« Im Artikel 12 wird ausgeführt, dass für die am Vertrag über die Lösung der deutschen Frage beteiligten Staaten mit den anderen Teilnehmerstaaten des KSZE-Prozesses »aktiv zur Vertiefung und Weiterentwicklung beitragen«, »energische Maßnahmen ergreifen, institutionalisieren, sowie neue integrierende und auf gegenseitige Anpassung gerichtete Strukturen im Bereich der Sicherheitspolitik (u.a. Abwendung von Kriegsdrohungen und Konflikten, Verringerung der Kriegsgefahr und Erweiterung vertrauensbildender Maßnahmen, Rüstungskontrolle) schaffen«. Beide Militärbündnisse sollten aufgelöst werden.
Den »1+5«-Vertragsstaaten passte dieser sowjetische Vertragsentwurf zur Behandlung der deutschen und europäischen Frage ganz und gar nicht. Insbesondere die Vereinigten Staaten behielten ihre Rechte, die sie nach dem Besatzungsrecht seit der Kapitulation 1945, im Nato-Truppenstatut (1951) und in Zusatzabkommen 1963 bestimmten, das 1971, 1981 und 1993 mehrmals »angepasst« worden ist, plus einer Parallelwelt geheimer Detailregelungen.
Angesichts einer Dynamik von Eskalationen der Konflikte zu Kriegen weltweit mit Millionen Toten stellt sich die Frage nach gründlicher Analyse heute umso drängender. Russland in die Nato zu integrieren, war ein unwirkliches Versprechen, sollte sich als Täuschung über Absichten herausstellen. Europa dagegen neu zu bauen, eine Chance. Doch Kwizinski hoffte vergeblich, den Sturm abzuwehren und »in einem neuen Europa (zu) leben, das nicht mehr in Militärbündnisse und einander gegenüberstehenden Allianzen gespalten ist«.