Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Vor dem Sturm

»Vor dem Sturm« über­schrieb der am 30.12.1819 in Neu­rup­pin gebo­re­ne Theo­dor Fon­ta­ne sei­nen im Jahr 1877/​78 ent­stan­de­nen Roman. Im Dezem­ber 1812 war Napo­le­ons Russ­land­feld­zug geschei­tert, sein Rück­zug ende­te im Desa­ster, die Befrei­ungs­krie­ge began­nen. In Anleh­nung an Fon­ta­ne über­nahm der ehe­ma­li­ge sowje­ti­sche Bot­schaf­ter in Bonn, Julij Kwizin­ski, des­sen Motiv eines stür­mi­schen Umbruchs. Auch sein Buch »Vor dem Sturm« doku­men­tiert und inter­pre­tiert die fol­gen­rei­chen Hand­lun­gen, Ver­ab­re­dun­gen, Brü­che und Ungleich­ge­wich­te der Kräf­te wäh­rend einer histo­ri­schen Zäsur: Zwi­schen April 1986 und Mai 1990 rei­ste der Diplo­mat rast- und ruhe­los zwi­schen den Macht­zen­tren einer sich auf­lö­sen­den alten Welt­ord­nung hin und her. Kwizinskis Nach­lass ist von gro­ßer Aktua­li­tät, von beson­de­rem Rang und hoher Bedeu­tung. Er beschreibt Zei­ten grund­le­gen­der Ände­run­gen: vom Kal­ten Krieg zur mög­li­chen Frie­dens­ord­nung in Euro­pa. Kwizin­ski begann sei­ne Erin­ne­run­gen im Okto­ber 1991 auf­zu­schrei­ben und schloss sie im April 1992 ab. Sie erschie­nen 1993 im Sied­ler-Ver­lag Berlin.

Die Wen­de 1989/​90 mach­te Hoff­nung auf ein neu­es Euro­pa. Kwizin­ski hat­te zwei Jahr­zehn­te zuvor mit dem Ame­ri­ka­ner Paul Nit­ze über die Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Euro­pa ver­han­delt sowie über die Schluss­ak­te von Hel­sin­ki 1975. Ein erfah­re­ner Diplo­mat sei­nes Lan­des. Nach sei­ner Rück­kehr aus Bonn ist die Ernen­nung im Juli 1990 zum Stell­ver­tre­ter des Außen­mi­ni­sters Edu­ard Sche­ward­n­ad­ses als eine Ehre und Beloh­nung sei­nes Wir­kens zu verstehen.

Der August­putsch von 1991 war ein Anschlag reak­tio­nä­rer Kräf­te auf Gor­bat­schows Pro­jekt des demo­kra­ti­schen Umbruchs von oben, der auf die Wie­der­her­stel­lung der alten Sowjet­uni­on ziel­te. Eine Grup­pie­rung um den dama­li­gen rus­si­schen Prä­si­den­ten Boris Jel­zin (Gemein­schaft Unab­hän­gi­ger Staa­ten) schlug den Auf­stand nie­der. Zu der Zeit koexi­stie­ren die Sowjet­uni­on und ein neu­es föde­ra­les Russ­land unter Jel­zin, der Gor­bat­schow am 25. Dezem­ber 1991 zum Rück­tritt zwang. Es beschleu­nig­te sich die Bil­dung einer neu­en Ord­nung in zwei Lager: Kräf­te der Wie­der­her­stel­lung eines star­ken auto­ri­tä­ren Staa­tes ste­hen den Anhän­gern eines demo­kra­ti­schen Par­la­men­ta­ris­mus und Selbst­ver­wal­tung des Vol­kes gegen­über, mit flie­ßen­den Über­gän­gen zwi­schen den Lagern. Selbst­ver­ständ­lich erga­ben sich dar­aus qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de in den Posi­tio­nen zur natio­na­len Fra­ge bezüg­lich der Zukunft des Ein­heits­staa­tes auf dem Gebiet der Sowjetunion.

Am Ende der Pere­stroi­ka und in den ersten Jah­ren der Herr­schaft Boris Jel­zins haben die Ideen der Demo­kra­tie und der natio­na­len Unab­hän­gig­keit der Repu­bli­ken noch mas­sen­haf­te, aber abneh­men­de Unter­stüt­zung genos­sen. In die­ser Zeit gewal­ti­ger Umbrü­che, Ver­wer­fun­gen und dem Auf­ein­an­der­pral­len der Kräf­te schreibt Kwizin­ski sei­ne Erin­ne­run­gen. Er stellt ihnen, in eige­ner Sache die Macht­lo­sig­keit erklä­rend, Wor­te des Pre­di­gers Salo­mo vor­an: Alle Fähig­kei­ten (die eige­nen) hel­fen nicht, sind macht­los, »dass er ein Ding wohl kann; son­dern alles liegt an Zeit und Glück.« Zu die­sem Zeit­punkt ver­sin­ken die Hoff­nun­gen auf das Gelin­gen inne­rer Refor­men der Demo­kra­ti­sie­rung. Der Umbau für die Völ­ker des größ­ten Lan­des der Erde befand sich im Sta­di­um des Schei­terns, eines Zusam­men­pralls diver­gie­ren­der Kräf­te, die sich ausschließen.

Vie­les hing an der Lösung der deut­schen Fra­ge. Der 2+4-Vertrag als zen­tra­les völ­ker­recht­li­ches Abkom­men ermög­lich­te die deut­sche Ver­ei­ni­gung am 3. Okto­ber 1990. Im Zuge der Ver­hand­lun­gen kri­ti­sier­te Julij Kwizin­ski des Öfte­ren die zu gro­ße Nach­gie­big­keit der sowje­ti­schen Füh­rung. »Vor dem Sturm« ist auch so zu lesen, dass die Refor­men von Michail Gor­bat­schow und sei­nen Leu­ten eben nicht zur erhoff­ten Lösung der Fes­seln führ­ten, son­dern zu anar­chi­schen Ver­wer­fun­gen, die wei­te Tei­le der Bevöl­ke­rung in die Armut stürz­te, und gro­ßen Zuge­ständ­nis­sen gegen­über den Inter­es­sen des Westens. Die Ver­ei­ni­gung Deutsch­lands konn­te oder muss­te vie­le ihrer Zeit­ge­nos­sen als Stär­kung des Westens zu Lasten der Sowjet­uni­on empfinden.

Wäh­rend die Ver­ei­ni­gung bei­der deut­scher Staa­ten von Kanz­ler Kohl vor­an­ge­trie­ben wur­de, woll­te die Sowjet­uni­on die Aus­deh­nung der Nato auf die DDR und die Sta­tio­nie­rung von Atom­waf­fen bis zur Oder und Nei­ße auf alle Fäl­le ver­hin­dern. Außen­mi­ni­ster Gen­scher und ande­re sahen dies genau­so, sogar Nato-Gene­ral­se­kre­tär Wör­ner mach­te dies­be­züg­li­che Andeu­tun­gen. Kaum vor­stell­bar, dass wei­te­re Aus­deh­nun­gen des west­li­chen Mili­tär­bünd­nis­ses denk­bar waren, denn die sowje­ti­sche Füh­rung sah die Über­win­dung bei­der mili­tä­ri­scher Sicher­heits­sy­ste­me kom­men, jeden­falls wünsch­te sie das. Gleich­zei­tig droh­te der Sowjet­uni­on der Staats­bank­rott, weil der Markt durch Pri­va­ti­sie­rung und Kapi­ta­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Betriebs­for­men außer Kon­trol­le gera­ten war.

Die War­schau­er Ver­trags­staa­ten erklär­ten auf der KSZE-Tagung im Novem­ber 1990 in Paris, das Schwer­ge­wicht auf Abrü­stung und den Auf­bau eines gesamt­eu­ro­päi­schen Sicher­heits­sy­stems zu legen. Das Bünd­nis soll­te in dem Maße abge­baut wer­den, wie sich der KSZE-Pro­zess wei­ter­ent­wickel­te und gesamt­eu­ro­päi­sche Sicher­heits­struk­tu­ren ent­stan­den. Die Sowjets bemerk­ten aller­dings, dass »ihre« Ver­bün­de­ten sie längst ver­las­sen hat­ten. Am 1. Juli 1991 löste sich das öst­li­che Mili­tär­bünd­nis auf­grund der Stim­mungs­la­ge in den ost­eu­ro­päi­schen Län­dern und dem real­po­li­ti­schen Den­ken des sowje­ti­schen Prä­si­den­ten. Er ris­kier­te viel, denn die West­al­li­ier­ten woll­ten die Nato erhalten.

Am 22. Juni 1990, dem 50. Jah­res­tag des deut­schen Über­falls auf die Sowjet­uni­on, mit der Schreckens­bi­lanz von 27 Mil­lio­nen Toten, leg­te die Sowjet­uni­on ihren Ent­wurf zum 2+4-Vertrag vor, wobei die »wit­zi­ge, aber bedeu­tungs­schwe­re For­mel ›2+4=1+5‹« umging, weil »jeder Ver­trag, der zu vie­le Details und Fest­le­gun­gen ent­hal­te, von den Deut­schen als eine belei­di­gen­de Ein­schrän­kung ihrer Sou­ve­rä­ni­tät auf­ge­fasst« wer­de, und »wir täten bes­ser dar­an, den Bogen nicht zu über­span­nen«, notier­te Kwizinski.

Ende Juni 1990 zogen die drei West­mäch­te den Schluss, dass sie bei der Wie­der­ver­ei­ni­gung Deutsch­lands hin­sicht­lich der Mit­glied­schaft der Bun­des­re­pu­blik in der Nato und des Ver­bleibs ihrer Trup­pen auf deut­schem Boden kei­ner­lei Zuge­ständ­nis­se zu machen brauchten.

»Gestützt auf die drei Mäch­te waren sie bemüht, aus unse­rem Doku­ment alles hin­aus­zu­wer­fen, was sie behin­dern konn­te, und den Rest auf spä­ter auf­zu­schie­ben. Unser Doku­ment wur­de im Westen mit eisi­ger Käl­te auf­ge­nom­men.« Die Zurück­wei­sun­gen vie­ler bedeu­ten­der For­de­run­gen im Ent­wurf konn­ten nur durch Ein­satz der Trumpf­kar­te gelin­gen, so Kwizin­ski, durch den »Ein­satz unse­rer mili­tä­ri­schen Mög­lich­kei­ten in der DDR«. Was zur Kata­stro­phe hät­te füh­ren kön­nen, wes­halb nach sei­nem Urteil die Füh­rung die­sen Weg von vorn­her­ein ausschloss.

War­um wie­sen die West­al­li­ier­ten, die bereit waren, für den Abzug der rus­si­schen Trup­pen den Deut­schen alle Rech­te und Frei­hei­ten eines sou­ve­rä­nen Staa­tes zu geben, den Ent­wurf der sowje­ti­schen Regie­rung ab?

Zen­tra­le Vor­schlä­ge über Grund­prin­zi­pi­en einer künf­ti­gen Rege­lung der Deutsch­land­fra­ge, die eisi­ge Käl­te im Westen aus­lö­sten, waren im sowje­ti­schen Ent­wurf unter zwei­tens genannt: »Das ver­ein­te Deutsch­land wird sei­ne Poli­tik so gestal­ten, dass von ihm nur Frie­den aus­geht. Von sei­nem Gebiet wer­den kei­ner­lei mili­tä­ri­sche Aktio­nen – weder mit eige­nen Kräf­ten noch im Bünd­nis mit ande­ren Staa­ten – unter­nom­men wer­den, außer in Fäl­len der Aus­übung des legi­ti­men Rechts auf Selbst­ver­tei­di­gung. Auch mili­tä­ri­sche Hand­lun­gen drit­ter Staa­ten, die sich gegen ande­re rich­ten, dür­fen auf ihrem Ter­ri­to­ri­um nicht statt­fin­den.« Grund­sätz­li­cher Dis­sens bestand auch über den Arti­kel 7 des Ent­wurfs; dort heißt es: »Der zum Zeit­punkt der Ver­ei­ni­gung bestehen­de fak­ti­sche Zustand, dass die DDR dem War­schau­er Ver­trag und die Bun­des­re­pu­blik der Nato ange­hört, wer­den nicht auf Gebie­te aus­ge­dehnt, die nicht zu ihrem jewei­li­gen Gel­tungs­be­reich gehö­ren.« Im Arti­kel 12 wird aus­ge­führt, dass für die am Ver­trag über die Lösung der deut­schen Fra­ge betei­lig­ten Staa­ten mit den ande­ren Teil­neh­mer­staa­ten des KSZE-Pro­zes­ses »aktiv zur Ver­tie­fung und Wei­ter­ent­wick­lung bei­tra­gen«, »ener­gi­sche Maß­nah­men ergrei­fen, insti­tu­tio­na­li­sie­ren, sowie neue inte­grie­ren­de und auf gegen­sei­ti­ge Anpas­sung gerich­te­te Struk­tu­ren im Bereich der Sicher­heits­po­li­tik (u.a. Abwen­dung von Kriegs­dro­hun­gen und Kon­flik­ten, Ver­rin­ge­rung der Kriegs­ge­fahr und Erwei­te­rung ver­trau­ens­bil­den­der Maß­nah­men, Rüstungs­kon­trol­le) schaf­fen«. Bei­de Mili­tär­bünd­nis­se soll­ten auf­ge­löst werden.

Den »1+5«-Vertragsstaaten pass­te die­ser sowje­ti­sche Ver­trags­ent­wurf zur Behand­lung der deut­schen und euro­päi­schen Fra­ge ganz und gar nicht. Ins­be­son­de­re die Ver­ei­nig­ten Staa­ten behiel­ten ihre Rech­te, die sie nach dem Besat­zungs­recht seit der Kapi­tu­la­ti­on 1945, im Nato-Trup­pen­sta­tut (1951) und in Zusatz­ab­kom­men 1963 bestimm­ten, das 1971, 1981 und 1993 mehr­mals »ange­passt« wor­den ist, plus einer Par­al­lel­welt gehei­mer Detailregelungen.

Ange­sichts einer Dyna­mik von Eska­la­tio­nen der Kon­flik­te zu Krie­gen welt­weit mit Mil­lio­nen Toten stellt sich die Fra­ge nach gründ­li­cher Ana­ly­se heu­te umso drän­gen­der. Russ­land in die Nato zu inte­grie­ren, war ein unwirk­li­ches Ver­spre­chen, soll­te sich als Täu­schung über Absich­ten her­aus­stel­len. Euro­pa dage­gen neu zu bau­en, eine Chan­ce. Doch Kwizin­ski hoff­te ver­geb­lich, den Sturm abzu­weh­ren und »in einem neu­en Euro­pa (zu) leben, das nicht mehr in Mili­tär­bünd­nis­se und ein­an­der gegen­über­ste­hen­den Alli­an­zen gespal­ten ist«.