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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wohlstandsrhetorik als Sedativum

Manch­mal genügt eine Zahl, um die Zivi­li­sa­ti­ons­lü­ge zu ent­lar­ven: Zehn Pro­zent. So viel Auf­merk­sam­keit wid­men die Leit­me­di­en des Westens den Regio­nen, in denen 85 Pro­zent der Mensch­heit leben. Zehn Pro­zent Welt, neun­zig Pro­zent Selbst­ge­spräch. Die­se Bilanz stammt nicht aus der Feder eines Kul­tur­pes­si­mi­sten, son­dern aus einer Stu­die des Hei­del­ber­ger Medi­en­for­schers Ladis­laus Lude­scher. Sie trägt den unschein­ba­ren Titel Ver­ges­se­ne Wel­ten und blin­de Flecken und beschreibt doch in Wahr­heit nichts Gerin­ge­res als die mora­li­sche Topo­gra­fie des Planeten.

Was Lude­scher hier frei­legt, ist eine glo­ba­le Kar­to­gra­fie der Gleich­gül­tig­keit. Er hat Tau­sen­de Nach­rich­ten­sen­dun­gen, Talk­shows und Zei­tungs­sei­ten durch­for­stet – und das Ergeb­nis ist so schnei­dend klar, dass man es am lieb­sten nicht glau­ben möch­te. Der Glo­ba­le Süden exi­stiert in der Medi­en­welt nur, wenn er brennt, blu­tet oder geo­po­li­tisch ver­wert­bar ist. Hun­ger, Elend, Kli­ma­fol­gen – das, was täg­lich Mil­lio­nen Men­schen betrifft, fällt durch das Raster des Nach­rich­ten­werts. »Am Ende der Nah­rungs­ket­te der media­len Auf­merk­sam­keit steht der Glo­ba­le Hun­ger«, schreibt Lude­scher. Man möch­te hin­zu­fü­gen: und gleich dane­ben die west­li­che Moral.

Denn wäh­rend im Süden das Über­le­ben zur Lot­te­rie gewor­den ist, insze­niert der Nor­den sei­ne Wohl­stands­öko­no­mie als mora­li­sche Welt­ord­nung. »Nach­hal­ti­ges Wachs­tum«, »sozia­le Markt­wirt­schaft«, »Zei­ten­wen­de«, das sind die Glau­bens­be­kennt­nis­se einer Kul­tur, die sich selbst für ver­nünf­tig hält. Tat­säch­lich ist sie nur effi­zi­ent in der Kunst des Ver­drän­gens. Die Wohl­stands­rhe­to­rik, die in Davos zele­briert und in Talk­shows recy­celt wird, hat längst die Funk­ti­on eines Seda­tiv­ums: Sie betäubt die Ahnung, dass unser Wohl­stand auf dem Hun­ger ande­rer beruht.

Lude­scher zeigt, was das kon­kret bedeu­tet: Wäh­rend täg­lich 24.000 Men­schen ver­hun­gern, davon alle 13 Sekun­den ein Kind, berich­tet die Tages­schau lie­ber über Bör­sen­kur­se und Königs­hoch­zei­ten. In der Zeit im Bild kom­men die bri­ti­schen Roy­als häu­fi­ger vor als der Kon­ti­nent Afri­ka. Und in der Schwei­zer Tages­schau erhielt die Ohr­fei­ge von Will Smith mehr Sen­de­zeit als der Krieg in Tigray, bei dem Hun­dert­tau­sen­de star­ben. Das ist kei­ne sta­ti­sti­sche Fuß­no­te – das ist ein Spie­gel­bild unse­rer Empathieökonomie.

Der Westen behaup­tet, die Welt ret­ten zu wol­len, aber er ver­wech­selt Ret­tung mit Reich­wei­te. Wir füh­ren Krie­ge im Namen der Wer­te, machen aber kei­ne Schlag­zei­len im Namen der Hun­gern­den. Unse­re Demo­kra­tien fei­ern den Huma­nis­mus wie ein Jubi­lä­um, das längst ver­jährt ist. Man redet von Men­schen­rech­ten, aber man meint Eigen­tums­rech­te. Und wenn ein Mini­ster wie Boris Pisto­ri­us ver­kün­det, Deutsch­land müs­se »kriegs­tüch­tig« wer­den, dann ver­nimmt man in die­sem Land zustim­men­des Nicken – wäh­rend nie­mand fragt, war­um man nicht eben­so lei­den­schaft­lich »hun­ger­tüch­tig« wer­den sollte.

Die Stu­die Lude­schers ist des­halb mehr als eine Medi­en­kri­tik; sie ist ein Rönt­gen­bild der west­li­chen Psy­che. Sie zeigt, wie der Infor­ma­ti­ons­fluss sich selbst genügt, wie das Agen­da-Set­ting zu einem System der mora­li­schen Selbst­be­stä­ti­gung gewor­den ist. Die Welt wird so abge­bil­det, dass sie unse­re Über­le­gen­heit bestä­tigt. Das Elend darf vor­kom­men, aber nur deko­ra­tiv, dosiert, dra­ma­tisch – wie ein Zwi­schen­bild im Wohlstandsfilm.

Wir sehen die Welt in Pro­zent­punk­ten: 0,3 Pro­zent Zins, 2 Pro­zent Ziel­in­fla­ti­on, 1,5 Pro­zent Wirt­schafts­wachs­tum. Aber 24.000 Tote pro Tag? Kei­ne Kenn­zif­fer, kein Trend. Das ist das Dra­ma der Zah­len: Sie gel­ten nur, wenn sie sich in Ren­di­te über­set­zen las­sen. Der Hun­ger bringt kei­ne Klicks, kei­ne Inve­sto­ren, kei­ne Spon­so­ren. Also schweigt man. Und das Schwei­gen ist, wie Lude­scher belegt, kein Zufall, son­dern Struk­tur: Der Algo­rith­mus des Mark­tes frisst das Mitgefühl.

Die west­li­che Demo­kra­tie, einst als Boll­werk gegen die Bar­ba­rei ent­wor­fen, hat sich zu einer kom­for­ta­blen Form der Ver­ant­wor­tungs­ver­wei­ge­rung ent­wickelt. Man nennt es Selbst­be­stim­mung, doch es ist Selbst­be­schäf­ti­gung. Die Frei­heit, die hier beschwo­ren wird, ist vor allem die Frei­heit, weg­zu­se­hen. Man darf alles sagen, solan­ge es nie­man­den betrifft, der nicht die­sel­be Spra­che spricht. Das ist die neue Tole­ranz: glo­bal, aber selektiv.

Wäh­rend­des­sen wird der Glo­ba­le Süden medi­al zu einer Rand­no­tiz der Geschich­te degra­diert. Nur wenn Hun­ger sich mit west­li­cher Sicher­heits­po­li­tik kreuzt – etwa beim »ukrai­ni­schen Getrei­de« –, wird er erwäh­nens­wert. Doch auch da inter­es­siert weni­ger das Hun­gern als die Fra­ge, ob Russ­land Getrei­de als Waf­fe nutzt. Das Leid wird geo­po­li­tisch gefil­tert, als wäre Mit­leid eine stra­te­gi­sche Ressource.

Die­se Dop­pel­bö­dig­keit ist das Leit­mo­tiv der Gegen­wart. Der Westen dis­ku­tiert über CO2-Neu­tra­li­tät und Elek­tro­au­tos, wäh­rend die Lithi­um-Abbau­ge­bie­te im Süden aus­trock­nen. Er fei­ert »Fair Trade«, wäh­rend er die Prei­se dik­tiert. Er pre­digt Demo­kra­tie, wäh­rend sei­ne Unter­neh­men Län­der aus­höh­len, die nie eine Chan­ce auf sie hat­ten. Es ist die Ele­ganz der Heu­che­lei, die alles bedeckt: Wir nen­nen Aus­beu­tung Ent­wick­lung und Abhän­gig­keit Partnerschaft.

Lude­scher spricht nicht von Ideo­lo­gie, doch sei­ne Daten sind ein Lehr­buch­bei­spiel dafür. Was die Medi­en igno­rie­ren, exi­stiert nicht im öffent­li­chen Bewusst­sein – und was nicht exi­stiert, hat kei­ne poli­ti­sche Kon­se­quenz. So schafft das Infor­ma­ti­ons­sy­stem, das sich »frei« nennt, sei­ne eige­ne Zen­sur. Sie ist nicht staat­lich, son­dern öko­no­misch. Sie funk­tio­niert nicht durch Ver­bo­te, son­dern durch Prioritäten.

Das Tra­gi­sche ist, dass die­se Blind­heit kein Ver­se­hen ist, son­dern ein Bedürf­nis. Die Bür­ger der rei­chen Demo­kra­tien wol­len gar nicht so genau wis­sen, auf wel­chem Fun­da­ment ihr Lebens­stil ruht. Man will das Gefühl der Welt­ver­bun­den­heit – aber bit­te ohne ihre Zumu­tun­gen. Des­halb wird das Elend in kon­su­mier­ba­re Häpp­chen zer­legt: eine Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on, eine Doku, eine Paten­schaft. Das Gewis­sen hat sein Abo-Modell gefunden.

So ent­steht das, was Lude­scher in nüch­ter­nen Tabel­len belegt, in der Rea­li­tät als psy­cho­lo­gi­sches Syn­drom: die Abspal­tung der Ver­ant­wor­tung. Man weiß, aber man han­delt nicht. Man sieht viel­leicht, aber man blen­det es weg. Das ist die eigent­li­che Patho­lo­gie des 21. Jahr­hun­derts – und sie wird von Demo­kra­tien getra­gen, die sich für gesund halten.

Doch die­se Demo­kra­tien sind porös gewor­den. Sie leben von der Illu­si­on, dass Teil­ha­be auto­ma­tisch Gerech­tig­keit bedeu­tet. Denn das Wahl­recht heilt kei­ne struk­tu­rel­le Gleich­gül­tig­keit. Was nützt die Stim­me des Bür­gers, wenn sie nur dazu dient, die bestehen­de Ord­nung zu bestä­ti­gen? Der Wäh­ler des Nor­dens stimmt alle vier Jah­re dar­über ab, wie sei­ne Inter­es­sen am besten gesi­chert wer­den – nicht, wie die Welt gerech­ter wird. Demo­kra­tie als Wohl­stands­ver­wal­tung: Das ist der Sta­tus quo.

Dabei wäre genau jetzt der Moment, sie wei­ter­zu­ent­wickeln. Nicht, indem man mehr Flag­gen hisst, son­dern indem man Ver­ant­wor­tung glo­bal denkt. Der Westen könn­te sei­ne Demo­kra­tie zur Schu­le der Empa­thie machen – statt­des­sen hält er sie für abge­schlos­sen. Man ruht sich auf ihrer Form aus, wie ein Erbe auf dem Ver­mö­gen sei­ner Vor­fah­ren, das man ver­wal­tet, ohne zu ver­ste­hen, woher es kam.

Viel­leicht ist das die tie­fe­re Leh­re von Lude­schers Arbeit: Die media­le Ver­nach­läs­si­gung des Glo­ba­len Hun­gers ist kei­ne jour­na­li­sti­sche Pan­ne, son­dern das Sym­ptom eines gesell­schaft­li­chen Systems, das sein Zen­trum für den Mit­tel­punkt der Welt hält. Solan­ge das so bleibt, wird sich nichts ändern. Außer der Zahl der Toten.

Der Kapi­ta­lis­mus, der sich mit demo­kra­ti­scher Schmin­ke tarnt, gleicht einem Medi­ka­ment mit töd­li­cher Neben­wir­kung: Er betäubt die Empa­thie. Die Welt wird kon­su­miert, nicht ver­stan­den. Der Mensch wird als Kun­de geschätzt, nicht als Mit­mensch. Und die Demo­kra­tie dient als Packungs­bei­la­ge, die vor Risi­ken und Neben­wir­kun­gen warnt, wäh­rend sie selbst zur Dro­ge gewor­den ist.

Am Ende bleibt ein bit­te­res Fazit: Der Glo­ba­le Süden ver­hun­gert – und der Nor­den macht Diät fürs Gewis­sen. Es ist das Spie­gel­bild einer Zivi­li­sa­ti­on, die sich selbst für ver­nünf­tig hält, wäh­rend sie das Offen­sicht­li­che nicht mehr erträgt. Viel­leicht gilt Brechts Satz »Erst kommt das Fres­sen, dann kommt die Moral« heu­te umge­kehrt? Erst kommt die Moral, dann das Fres­sen? Aber nur hier oben. Und wer satt ist, hat immer Recht.

Lude­schers Stu­die ruft uns in Erin­ne­rung, dass jede Schlag­zei­le, die wir nicht machen, eine Ent­schei­dung ist. Kei­ne über Wor­te, son­dern über Leben. Das Schwei­gen tötet nicht direkt – aber es wäscht sich die Hän­de dabei. Und der Westen, die­ser mora­lisch des­in­fi­zier­te Kon­ti­nent, nennt das: Fortschritt.

Ladis­laus Lude­scher: Ver­ges­se­ne Wel­ten und blin­de Flecken. Wie deut­sche Medi­en über den Glo­ba­len Süden berich­ten, hei­BOOKS, Hei­del­berg 2020, 162 S., 31,90 €.