Manchmal genügt eine Zahl, um die Zivilisationslüge zu entlarven: Zehn Prozent. So viel Aufmerksamkeit widmen die Leitmedien des Westens den Regionen, in denen 85 Prozent der Menschheit leben. Zehn Prozent Welt, neunzig Prozent Selbstgespräch. Diese Bilanz stammt nicht aus der Feder eines Kulturpessimisten, sondern aus einer Studie des Heidelberger Medienforschers Ladislaus Ludescher. Sie trägt den unscheinbaren Titel Vergessene Welten und blinde Flecken und beschreibt doch in Wahrheit nichts Geringeres als die moralische Topografie des Planeten.
Was Ludescher hier freilegt, ist eine globale Kartografie der Gleichgültigkeit. Er hat Tausende Nachrichtensendungen, Talkshows und Zeitungsseiten durchforstet – und das Ergebnis ist so schneidend klar, dass man es am liebsten nicht glauben möchte. Der Globale Süden existiert in der Medienwelt nur, wenn er brennt, blutet oder geopolitisch verwertbar ist. Hunger, Elend, Klimafolgen – das, was täglich Millionen Menschen betrifft, fällt durch das Raster des Nachrichtenwerts. »Am Ende der Nahrungskette der medialen Aufmerksamkeit steht der Globale Hunger«, schreibt Ludescher. Man möchte hinzufügen: und gleich daneben die westliche Moral.
Denn während im Süden das Überleben zur Lotterie geworden ist, inszeniert der Norden seine Wohlstandsökonomie als moralische Weltordnung. »Nachhaltiges Wachstum«, »soziale Marktwirtschaft«, »Zeitenwende«, das sind die Glaubensbekenntnisse einer Kultur, die sich selbst für vernünftig hält. Tatsächlich ist sie nur effizient in der Kunst des Verdrängens. Die Wohlstandsrhetorik, die in Davos zelebriert und in Talkshows recycelt wird, hat längst die Funktion eines Sedativums: Sie betäubt die Ahnung, dass unser Wohlstand auf dem Hunger anderer beruht.
Ludescher zeigt, was das konkret bedeutet: Während täglich 24.000 Menschen verhungern, davon alle 13 Sekunden ein Kind, berichtet die Tagesschau lieber über Börsenkurse und Königshochzeiten. In der Zeit im Bild kommen die britischen Royals häufiger vor als der Kontinent Afrika. Und in der Schweizer Tagesschau erhielt die Ohrfeige von Will Smith mehr Sendezeit als der Krieg in Tigray, bei dem Hunderttausende starben. Das ist keine statistische Fußnote – das ist ein Spiegelbild unserer Empathieökonomie.
Der Westen behauptet, die Welt retten zu wollen, aber er verwechselt Rettung mit Reichweite. Wir führen Kriege im Namen der Werte, machen aber keine Schlagzeilen im Namen der Hungernden. Unsere Demokratien feiern den Humanismus wie ein Jubiläum, das längst verjährt ist. Man redet von Menschenrechten, aber man meint Eigentumsrechte. Und wenn ein Minister wie Boris Pistorius verkündet, Deutschland müsse »kriegstüchtig« werden, dann vernimmt man in diesem Land zustimmendes Nicken – während niemand fragt, warum man nicht ebenso leidenschaftlich »hungertüchtig« werden sollte.
Die Studie Ludeschers ist deshalb mehr als eine Medienkritik; sie ist ein Röntgenbild der westlichen Psyche. Sie zeigt, wie der Informationsfluss sich selbst genügt, wie das Agenda-Setting zu einem System der moralischen Selbstbestätigung geworden ist. Die Welt wird so abgebildet, dass sie unsere Überlegenheit bestätigt. Das Elend darf vorkommen, aber nur dekorativ, dosiert, dramatisch – wie ein Zwischenbild im Wohlstandsfilm.
Wir sehen die Welt in Prozentpunkten: 0,3 Prozent Zins, 2 Prozent Zielinflation, 1,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Aber 24.000 Tote pro Tag? Keine Kennziffer, kein Trend. Das ist das Drama der Zahlen: Sie gelten nur, wenn sie sich in Rendite übersetzen lassen. Der Hunger bringt keine Klicks, keine Investoren, keine Sponsoren. Also schweigt man. Und das Schweigen ist, wie Ludescher belegt, kein Zufall, sondern Struktur: Der Algorithmus des Marktes frisst das Mitgefühl.
Die westliche Demokratie, einst als Bollwerk gegen die Barbarei entworfen, hat sich zu einer komfortablen Form der Verantwortungsverweigerung entwickelt. Man nennt es Selbstbestimmung, doch es ist Selbstbeschäftigung. Die Freiheit, die hier beschworen wird, ist vor allem die Freiheit, wegzusehen. Man darf alles sagen, solange es niemanden betrifft, der nicht dieselbe Sprache spricht. Das ist die neue Toleranz: global, aber selektiv.
Währenddessen wird der Globale Süden medial zu einer Randnotiz der Geschichte degradiert. Nur wenn Hunger sich mit westlicher Sicherheitspolitik kreuzt – etwa beim »ukrainischen Getreide« –, wird er erwähnenswert. Doch auch da interessiert weniger das Hungern als die Frage, ob Russland Getreide als Waffe nutzt. Das Leid wird geopolitisch gefiltert, als wäre Mitleid eine strategische Ressource.
Diese Doppelbödigkeit ist das Leitmotiv der Gegenwart. Der Westen diskutiert über CO2-Neutralität und Elektroautos, während die Lithium-Abbaugebiete im Süden austrocknen. Er feiert »Fair Trade«, während er die Preise diktiert. Er predigt Demokratie, während seine Unternehmen Länder aushöhlen, die nie eine Chance auf sie hatten. Es ist die Eleganz der Heuchelei, die alles bedeckt: Wir nennen Ausbeutung Entwicklung und Abhängigkeit Partnerschaft.
Ludescher spricht nicht von Ideologie, doch seine Daten sind ein Lehrbuchbeispiel dafür. Was die Medien ignorieren, existiert nicht im öffentlichen Bewusstsein – und was nicht existiert, hat keine politische Konsequenz. So schafft das Informationssystem, das sich »frei« nennt, seine eigene Zensur. Sie ist nicht staatlich, sondern ökonomisch. Sie funktioniert nicht durch Verbote, sondern durch Prioritäten.
Das Tragische ist, dass diese Blindheit kein Versehen ist, sondern ein Bedürfnis. Die Bürger der reichen Demokratien wollen gar nicht so genau wissen, auf welchem Fundament ihr Lebensstil ruht. Man will das Gefühl der Weltverbundenheit – aber bitte ohne ihre Zumutungen. Deshalb wird das Elend in konsumierbare Häppchen zerlegt: eine Hilfsorganisation, eine Doku, eine Patenschaft. Das Gewissen hat sein Abo-Modell gefunden.
So entsteht das, was Ludescher in nüchternen Tabellen belegt, in der Realität als psychologisches Syndrom: die Abspaltung der Verantwortung. Man weiß, aber man handelt nicht. Man sieht vielleicht, aber man blendet es weg. Das ist die eigentliche Pathologie des 21. Jahrhunderts – und sie wird von Demokratien getragen, die sich für gesund halten.
Doch diese Demokratien sind porös geworden. Sie leben von der Illusion, dass Teilhabe automatisch Gerechtigkeit bedeutet. Denn das Wahlrecht heilt keine strukturelle Gleichgültigkeit. Was nützt die Stimme des Bürgers, wenn sie nur dazu dient, die bestehende Ordnung zu bestätigen? Der Wähler des Nordens stimmt alle vier Jahre darüber ab, wie seine Interessen am besten gesichert werden – nicht, wie die Welt gerechter wird. Demokratie als Wohlstandsverwaltung: Das ist der Status quo.
Dabei wäre genau jetzt der Moment, sie weiterzuentwickeln. Nicht, indem man mehr Flaggen hisst, sondern indem man Verantwortung global denkt. Der Westen könnte seine Demokratie zur Schule der Empathie machen – stattdessen hält er sie für abgeschlossen. Man ruht sich auf ihrer Form aus, wie ein Erbe auf dem Vermögen seiner Vorfahren, das man verwaltet, ohne zu verstehen, woher es kam.
Vielleicht ist das die tiefere Lehre von Ludeschers Arbeit: Die mediale Vernachlässigung des Globalen Hungers ist keine journalistische Panne, sondern das Symptom eines gesellschaftlichen Systems, das sein Zentrum für den Mittelpunkt der Welt hält. Solange das so bleibt, wird sich nichts ändern. Außer der Zahl der Toten.
Der Kapitalismus, der sich mit demokratischer Schminke tarnt, gleicht einem Medikament mit tödlicher Nebenwirkung: Er betäubt die Empathie. Die Welt wird konsumiert, nicht verstanden. Der Mensch wird als Kunde geschätzt, nicht als Mitmensch. Und die Demokratie dient als Packungsbeilage, die vor Risiken und Nebenwirkungen warnt, während sie selbst zur Droge geworden ist.
Am Ende bleibt ein bitteres Fazit: Der Globale Süden verhungert – und der Norden macht Diät fürs Gewissen. Es ist das Spiegelbild einer Zivilisation, die sich selbst für vernünftig hält, während sie das Offensichtliche nicht mehr erträgt. Vielleicht gilt Brechts Satz »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral« heute umgekehrt? Erst kommt die Moral, dann das Fressen? Aber nur hier oben. Und wer satt ist, hat immer Recht.
Ludeschers Studie ruft uns in Erinnerung, dass jede Schlagzeile, die wir nicht machen, eine Entscheidung ist. Keine über Worte, sondern über Leben. Das Schweigen tötet nicht direkt – aber es wäscht sich die Hände dabei. Und der Westen, dieser moralisch desinfizierte Kontinent, nennt das: Fortschritt.
Ladislaus Ludescher: Vergessene Welten und blinde Flecken. Wie deutsche Medien über den Globalen Süden berichten, heiBOOKS, Heidelberg 2020, 162 S., 31,90 €.