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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Archäologie meiner Generation

Der »Len­kungs­aus­schuss« wur­de gegrün­det, nach­dem wir, die 68er-Gene­ra­ti­on, beschlos­sen hat­ten, aus dem aka­de­mi­schen Umfeld der neu gegrün­de­ten »Eli­te­uni­ver­si­tät« Kon­stanz aus­zu­stei­gen und uns zumin­dest ein- oder zwei­mal in der Woche mor­gens um sie­ben Uhr vor die Fabrik­hal­len von Fried­richs­ha­fen auf der ande­ren See­sei­te zu bege­ben. Wir ver­teil­ten Flug­blät­ter und grün­de­ten zwei Arbeits­grup­pen, eine für Lehr­lin­ge und eine für Schü­ler, um Marx und Lenin mit ihnen zu lesen (»Was tun« und ähn­li­ches). Die­ser Aus­schuss, der hel­fen soll­te, das Wis­sen aus der Uni in die Welt drau­ßen zu tra­gen, bestand aus drei Per­so­nen: Raab, Piper und mir. Die bei­den Erst­ge­nann­ten sind inzwi­schen verstorben.

In der Schu­le wur­de man von den Leh­rern stets mit Nach­na­men ange­spro­chen (»Mei­er, komm mal nach vor­ne an die Tafel«), wäh­rend wir uns teil­wei­se exo­ti­sche Namen wie »Bart« oder »Blacky« zuleg­ten. Das gehör­te offen­bar zu einer neu­en Nach­kriegs­ge­nera­ti­on, die sich ande­re Namen gab als die im Nazi­deutsch­land groß gewor­de­ne Gene­ra­ti­on der Müt­ter und Väter. Pit Wuhrer ken­ne ich aus den genann­ten Arbeits­grup­pen seit die­sen 68er-Zei­ten. Er hat in Kon­stanz stu­diert und sich schon immer poli­tisch (etwa in der Gewerk­schaft) und publi­zi­stisch betä­tigt. Heu­te gehört er zu den Betrei­bern des im Janu­ar 2018 gegrün­de­ten online-Maga­zins, das zufäl­lig, aber sinn­voll den Namen »See­moz« trägt. Hel­mut Rein­hardt wech­sel­te von der Uni zur »Arbei­ter­klas­se«, ich hielt ihn lan­ge Zeit für ver­schol­len. Heu­te sitzt er im Vor­stand von See­moz. Sei­ne ita­lie­ni­sche Frau, die ich eben­falls für ver­schol­len hielt, hat­te mir am Thur­gaui­schen Leh­rer­se­mi­nar, das heu­te Päd­ago­gi­sche Hoch­schu­le heißt, einen Lehr­auf­trag für Ita­lie­nisch besorgt.

Mit Wal­ter bin ich in Köln schon zusam­men in die Volks­schu­le gegan­gen (so hieß damals die Grund­schu­le), danach ins Gym­na­si­um, spä­ter haben wir bei­de in Aix-en-Pro­vence stu­diert und sind schließ­lich an der Uni Kon­stanz gelan­det. Eine lan­ge Freund­schaft seit Kin­der­ta­gen. Irgend­wann ist er zurück nach Köln gegan­gen. Bei einem Klas­sen­tref­fen vor eini­gen Jah­ren habe ich ihn wie­der­ge­trof­fen: Er ist Leh­rer irgend­wo an einem Gym­na­si­um in Nordrhein-Westfalen.

Mit Nico­lo Pase­ro, der Lehr­be­auf­trag­ter für Ita­lie­nisch am Lehr­stuhl von Hans Robert Jauss und Mit­glied im SDS (Sozia­li­sti­scher Deut­scher Stu­den­ten­bund) war – und irgend­wann wohl nach Genua zurück­ge­kehrt ist –, kommt der Roma­nist Jauss ins Spiel. Wir hiel­ten ihn für einen ehe­ma­li­gen stram­men Wehr­machts­of­fi­zier. Ganz anders war Pro­fes­sor Prei­sen­danz, der Ger­ma­ni­stik lehr­te. Er hat­te ein Glas­au­ge und bie­der­te sich bei sei­nen Stu­den­ten auf eine pein­li­che Art an, die er offen­bar als dem Zeit­geist für ange­mes­sen emp­fand. Er habe, so sag­te er, als Haupt­mann sei­ne Sol­da­ten in Russ­land immer ent­schei­den las­sen, in wel­che Rich­tung mar­schiert wur­de. Wor­auf besag­ter Bay­er Bart aus den hin­te­ren Rei­hen rief: »Jetzt woas i end­lich, wor­um mer den Krieg ver­lorn hom.« Mit hoch­ro­tem Kopf ver­ließ Prei­sen­danz den Raum. Das Semi­nar war vor­zei­tig zu Ende.

Hans Robert Jauss kam am 13. Dezem­ber 1921 in Göp­pin­gen zur Welt, was sei­nen schwä­bi­schen Akzent erklärt, den er auch im Fran­zö­si­schen nie ver­lo­ren hat. Er war gegen Ende des 2. Welt­kriegs Haupt­sturm­füh­rer der SS, was in der Wehr­macht dem Rang eines Haupt­manns ent­sprach, ziem­lich beacht­lich für einen Mann von drei­und­zwan­zig Jah­ren. Sei­ne Frau Hel­ga Jauss-Mey­er war als in Ber­lin gebo­re­ne Jüdin (!) vom öffent­li­chen Leben aus­ge­schlos­sen. Jauss mel­de­te sich 1939 frei­wil­lig zur Waf­fen-SS, er kämpf­te in Frank­reich, den Nie­der­lan­den und dann in Kroa­ti­en gegen Par­ti­sa­nen. Am 4. Okto­ber 1943 stieß Jauss mit sei­ner Kom­pa­nie (ihm unter­stan­den 181 Mann) gegen ein kroa­ti­sches Dorf vor. Zuletzt kämpf­te er dann noch mit der SS-Bri­ga­de Char­le­ma­gne, die zu einem Gut­teil aus Fran­zo­sen bestand, gegen die Rési­stance.

Im Inter­nie­rungs­la­ger erhielt Jauss im Dezem­ber 1947 sei­nen Straf­be­scheid und wur­de zu einer Geld­stra­fe von 2.000 RM (Reichs­mark) ver­ur­teilt. Das Inter­nie­rungs­la­ger wur­de im April 1948 auf­ge­löst. Sein Stu­di­um an der Uni­ver­si­tät Bonn begann er mit gefälsch­ten Unter­la­gen, in denen er sich als Ost­flücht­ling aus­gab und angab, nie­mals einer Orga­ni­sa­ti­on der NSDAP ange­hört zu haben. Nach­dem er 1942 das Eiser­ne Kreuz 2. Klas­se und 1943 das­je­ni­ge 1. Klas­se erhal­ten hat­te, bekam er 1944 das von den Nazis geschaf­fe­ne Deut­sche Kreuz in Gold.

Als ich an der Uni­ver­si­tät Kon­stanz mit Berufs­ver­bot (der soge­nann­te »Radi­ka­len­er­lass« war in Baden-Würt­tem­berg ab 1972 in Kraft) belegt wur­de, pro­te­stier­te aus­ge­rech­net mein aka­de­mi­scher Leh­rer Jauss dage­gen. Wel­che Chuz­pe! Er hat­te offen­bar kei­ne Angst, ent­tarnt zu wer­den. Das geschah erst spä­ter, und zwar in den USA, wo er als berühm­ter Roma­nist Gast­pro­fes­sor nach Prin­ce­ton (so mei­ne ich) und an ande­re Uni­ver­si­tä­ten ein­ge­la­den wur­de. Mein Freund, der Sozio­lo­ge Avra­ham Zloc­zower von der Hebräi­schen Uni­ver­si­tät Jeru­sa­lem, der als Gast­do­zent an der Uni­ver­si­tät Kon­stanz unter­rich­te­te, hat­te es kom­men sehen.

Ja, die alten Nazis sind wir auch als Erwach­se­ne nicht los­ge­wor­den: Als ich mit Berufs­ver­bot belegt wur­de, war in Baden-Würt­tem­berg Hans Fil­bin­ger Mini­ster­prä­si­dent (»der furcht­ba­re Rich­ter«, Rolf Hoch­huth) und sein Innen­mi­ni­ster Karl Schiess, eben­falls ein alter Nazi. Zu dritt such­ten wir (der »Len­kungs­aus­schuss«) nach einem Anwalt, der uns gegen die Regie­rung in Stutt­gart ver­tre­ten soll­te. Das war nicht ein­fach. Wir fan­den schließ­lich einen in Sin­gen, einem Indu­strie­ort (»Mag­gi«), etwa drei­ßig Kilo­me­ter ent­fernt von Kon­stanz. Die­ser Anwalt, war Mit­glied der CDU (!). Der arme Kerl ver­zwei­fel­te nach etli­chen Mona­ten: Die Ver­hän­gung des Berufs­ver­bots war per­fi­der­wei­se als eine Art von inter­nem Ver­wal­tungs­vor­gang ange­legt, gegen den kein Ankom­men war. Als mein Berufs­ver­bot schließ­lich auf­ge­ho­ben wur­de, leb­te ich schon längst im Schwei­zer Kan­ton Thur­gau und lebe dort noch heu­te – seit über 55 Jah­ren und mitt­ler­wei­le als Schwei­zer Bür­ger, den die deut­schen Reichs­göt­ter am Abend besu­chen können.