Der »Lenkungsausschuss« wurde gegründet, nachdem wir, die 68er-Generation, beschlossen hatten, aus dem akademischen Umfeld der neu gegründeten »Eliteuniversität« Konstanz auszusteigen und uns zumindest ein- oder zweimal in der Woche morgens um sieben Uhr vor die Fabrikhallen von Friedrichshafen auf der anderen Seeseite zu begeben. Wir verteilten Flugblätter und gründeten zwei Arbeitsgruppen, eine für Lehrlinge und eine für Schüler, um Marx und Lenin mit ihnen zu lesen (»Was tun« und ähnliches). Dieser Ausschuss, der helfen sollte, das Wissen aus der Uni in die Welt draußen zu tragen, bestand aus drei Personen: Raab, Piper und mir. Die beiden Erstgenannten sind inzwischen verstorben.
In der Schule wurde man von den Lehrern stets mit Nachnamen angesprochen (»Meier, komm mal nach vorne an die Tafel«), während wir uns teilweise exotische Namen wie »Bart« oder »Blacky« zulegten. Das gehörte offenbar zu einer neuen Nachkriegsgeneration, die sich andere Namen gab als die im Nazideutschland groß gewordene Generation der Mütter und Väter. Pit Wuhrer kenne ich aus den genannten Arbeitsgruppen seit diesen 68er-Zeiten. Er hat in Konstanz studiert und sich schon immer politisch (etwa in der Gewerkschaft) und publizistisch betätigt. Heute gehört er zu den Betreibern des im Januar 2018 gegründeten online-Magazins, das zufällig, aber sinnvoll den Namen »Seemoz« trägt. Helmut Reinhardt wechselte von der Uni zur »Arbeiterklasse«, ich hielt ihn lange Zeit für verschollen. Heute sitzt er im Vorstand von Seemoz. Seine italienische Frau, die ich ebenfalls für verschollen hielt, hatte mir am Thurgauischen Lehrerseminar, das heute Pädagogische Hochschule heißt, einen Lehrauftrag für Italienisch besorgt.
Mit Walter bin ich in Köln schon zusammen in die Volksschule gegangen (so hieß damals die Grundschule), danach ins Gymnasium, später haben wir beide in Aix-en-Provence studiert und sind schließlich an der Uni Konstanz gelandet. Eine lange Freundschaft seit Kindertagen. Irgendwann ist er zurück nach Köln gegangen. Bei einem Klassentreffen vor einigen Jahren habe ich ihn wiedergetroffen: Er ist Lehrer irgendwo an einem Gymnasium in Nordrhein-Westfalen.
Mit Nicolo Pasero, der Lehrbeauftragter für Italienisch am Lehrstuhl von Hans Robert Jauss und Mitglied im SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) war – und irgendwann wohl nach Genua zurückgekehrt ist –, kommt der Romanist Jauss ins Spiel. Wir hielten ihn für einen ehemaligen strammen Wehrmachtsoffizier. Ganz anders war Professor Preisendanz, der Germanistik lehrte. Er hatte ein Glasauge und biederte sich bei seinen Studenten auf eine peinliche Art an, die er offenbar als dem Zeitgeist für angemessen empfand. Er habe, so sagte er, als Hauptmann seine Soldaten in Russland immer entscheiden lassen, in welche Richtung marschiert wurde. Worauf besagter Bayer Bart aus den hinteren Reihen rief: »Jetzt woas i endlich, worum mer den Krieg verlorn hom.« Mit hochrotem Kopf verließ Preisendanz den Raum. Das Seminar war vorzeitig zu Ende.
Hans Robert Jauss kam am 13. Dezember 1921 in Göppingen zur Welt, was seinen schwäbischen Akzent erklärt, den er auch im Französischen nie verloren hat. Er war gegen Ende des 2. Weltkriegs Hauptsturmführer der SS, was in der Wehrmacht dem Rang eines Hauptmanns entsprach, ziemlich beachtlich für einen Mann von dreiundzwanzig Jahren. Seine Frau Helga Jauss-Meyer war als in Berlin geborene Jüdin (!) vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Jauss meldete sich 1939 freiwillig zur Waffen-SS, er kämpfte in Frankreich, den Niederlanden und dann in Kroatien gegen Partisanen. Am 4. Oktober 1943 stieß Jauss mit seiner Kompanie (ihm unterstanden 181 Mann) gegen ein kroatisches Dorf vor. Zuletzt kämpfte er dann noch mit der SS-Brigade Charlemagne, die zu einem Gutteil aus Franzosen bestand, gegen die Résistance.
Im Internierungslager erhielt Jauss im Dezember 1947 seinen Strafbescheid und wurde zu einer Geldstrafe von 2.000 RM (Reichsmark) verurteilt. Das Internierungslager wurde im April 1948 aufgelöst. Sein Studium an der Universität Bonn begann er mit gefälschten Unterlagen, in denen er sich als Ostflüchtling ausgab und angab, niemals einer Organisation der NSDAP angehört zu haben. Nachdem er 1942 das Eiserne Kreuz 2. Klasse und 1943 dasjenige 1. Klasse erhalten hatte, bekam er 1944 das von den Nazis geschaffene Deutsche Kreuz in Gold.
Als ich an der Universität Konstanz mit Berufsverbot (der sogenannte »Radikalenerlass« war in Baden-Württemberg ab 1972 in Kraft) belegt wurde, protestierte ausgerechnet mein akademischer Lehrer Jauss dagegen. Welche Chuzpe! Er hatte offenbar keine Angst, enttarnt zu werden. Das geschah erst später, und zwar in den USA, wo er als berühmter Romanist Gastprofessor nach Princeton (so meine ich) und an andere Universitäten eingeladen wurde. Mein Freund, der Soziologe Avraham Zloczower von der Hebräischen Universität Jerusalem, der als Gastdozent an der Universität Konstanz unterrichtete, hatte es kommen sehen.
Ja, die alten Nazis sind wir auch als Erwachsene nicht losgeworden: Als ich mit Berufsverbot belegt wurde, war in Baden-Württemberg Hans Filbinger Ministerpräsident (»der furchtbare Richter«, Rolf Hochhuth) und sein Innenminister Karl Schiess, ebenfalls ein alter Nazi. Zu dritt suchten wir (der »Lenkungsausschuss«) nach einem Anwalt, der uns gegen die Regierung in Stuttgart vertreten sollte. Das war nicht einfach. Wir fanden schließlich einen in Singen, einem Industrieort (»Maggi«), etwa dreißig Kilometer entfernt von Konstanz. Dieser Anwalt, war Mitglied der CDU (!). Der arme Kerl verzweifelte nach etlichen Monaten: Die Verhängung des Berufsverbots war perfiderweise als eine Art von internem Verwaltungsvorgang angelegt, gegen den kein Ankommen war. Als mein Berufsverbot schließlich aufgehoben wurde, lebte ich schon längst im Schweizer Kanton Thurgau und lebe dort noch heute – seit über 55 Jahren und mittlerweile als Schweizer Bürger, den die deutschen Reichsgötter am Abend besuchen können.