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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Gewalt des 7. Oktober 2023

Der israe­li­sche Geo­graph Arnon Sofer, der sich stets für die völ­li­ge Abrie­ge­lung des Gaza­strei­fens ein­ge­setzt hat und die Palä­sti­nen­ser zutiefst ver­ach­tet, schrieb im Jahr 2004 (!) die furcht­ba­ren und inhu­ma­nen, aber pro­phe­ti­schen Wor­te: »Wenn 2,5 Mil­lio­nen Men­schen in einem abge­rie­gel­ten Gaza­strei­fen leben, wird das eine mensch­li­che Kata­stro­phe sein. Die Men­schen wer­den zu noch grö­ße­ren Tie­ren wer­den, als sie es heu­te sind. Der Druck an der Gren­ze wird furcht­bar sein. Es wird ein schreck­li­cher Krieg wer­den. Wenn wir also am Leben blei­ben wol­len, wer­den wir töten, töten und töten müssen.«

Genau die­se Situa­ti­on des Tötens, Tötens und noch­mals Tötens ist nach dem 7. Okto­ber 2023 ein­ge­tre­ten. Isra­el begeht im Gaza­strei­fen einen Völ­ker­mord an den dort ein­ge­schlos­se­nen Palä­sti­nen­sern. Auch wenn die offi­zi­el­le israe­li­sche Rhe­to­rik lau­tet, man wol­le die Hamas ver­nich­ten, bele­gen die Fak­ten (über 50 000 Tote, etwa 100 000 Ver­letz­te und die Zer­stö­rung des gesam­ten Gebiets), dass das nur ein Vor­wand ist. Das wirk­li­che Ziel ist die völ­li­ge Ver­trei­bung der Palä­sti­nen­ser aus dem Gebiet, um es dem israe­li­schen Staat (Groß-Isra­el) einzugliedern.

Das sind kei­ne bösen anti­se­mi­ti­schen Unter­stel­lun­gen, son­dern die Schluss­fol­ge­run­gen aus dem bis­he­ri­gen mili­tä­ri­schen Vor­ge­hen Isra­els und den Äuße­run­gen sei­ner füh­ren­den Poli­ti­ker und Mili­tärs. So der frü­he­re israe­li­sche Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ster Yoav Gallant: »Isra­el wird eine voll­stän­di­ge Bela­ge­rung des Gaza­strei­fens ver­hän­gen. Kein Strom, kei­ne Lebens­mit­tel, kein Was­ser kein Treib­stoff. Alles ist geschlos­sen. Wir kämp­fen gegen mensch­li­che Tie­re und han­deln ent­spre­chend.« Der israe­li­sche Gene­ral­ma­jor Ghassan Ali­an: »Ihr woll­tet die Höl­le, Ihr wer­det die Höl­le bekom­men!« Der israe­li­sche Regie­rungs­chef Ben­ja­min Netan­ja­hu: »Wir wer­den Gaza zu einer Insel aus Rui­nen machen!«

Und dass nicht nur die Hamas das Ziel der Rache­ge­walt für den Hamas-Über­fall am 7. Okto­ber 2023 auf Isra­el ist, son­dern dass sie sich gegen alle Palä­sti­nen­ser im Gaza­strei­fen rich­tet, bestä­tig­te Staats­prä­si­dent Jitz­chak Her­zog mit den Wor­ten: »Es ist ein gan­zes Volk ver­ant­wort­lich. Die­se Rhe­to­rik über Zivi­li­sten, die angeb­lich nicht invol­viert wären, ist abso­lut unwahr.« Die Liste von Äuße­run­gen bru­ta­ler Gewalt gegen die Men­schen des Gaza­strei­fens und die Zer­stö­rung des Strei­fens kann belie­big ver­län­gert werden.

Zwei deut­sche Autoren – die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Hel­ga Baum­gar­ten, die bis zu ihrer Eme­ri­tie­rung an der Uni­ver­si­tät Bir­zeit im West­jor­dan­land gelehrt hat, und der Völ­ker­recht­ler Nor­man Paech, der an der Uni­ver­si­tät Ham­burg lehr­te und auch außen­po­li­ti­scher Spre­cher der Links­frak­ti­on im deut­schen Bun­des­tag war, haben nun ein Buch vor­ge­legt, das die geno­zi­da­le Kata­stro­phe im Gaza­strei­fen aus wis­sen­schaft­li­cher Sicht betrach­tet. Das Ergeb­nis ist eine ein­drucks­vol­le Stu­die, die in der hyste­ri­schen, von der offi­zi­el­len Poli­tik und den Main­stream­m­e­di­en erzeug­ten Atmo­sphä­re staats­tra­gen­der Soli­da­ri­tät mit Isra­el (Staats­rä­son) und der Dar­stel­lung des Anlie­gens und der Rech­te der Palä­sti­nen­ser als »anti­se­mi­tisch« eine auf­klä­re­ri­sche Ant­wort darstellt.

Hel­ga Baum­gar­ten lei­tet im ersten Teil des Buches das geno­zi­da­le Gewalt­ge­sche­hen im Gaza­strei­fen aus den Grund­vor­aus­set­zun­gen des zio­ni­sti­schen Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus ab. Sie belegt das zunächst mit dem histo­ri­schen Vor­ge­hen der Zio­ni­sten in Palä­sti­na von Anfang an: Sie haben nie­mals die Koexi­stenz mit den indi­ge­nen Palä­sti­nen­sern gesucht, son­dern ver­folg­ten immer nur das ein­zi­ge Ziel: das Land Palä­sti­na in Besitz zu neh­men, um den zio­ni­sti­schen Traum eines Groß-Isra­el zu ver­wirk­li­chen – aber dies soll ein Staat ohne Palä­sti­nen­ser sein, die es ent­we­der zu ver­trei­ben oder zu »eli­mi­nie­ren« gilt.

Hel­ga Baum­gar­ten geht aus­führ­lich auf die ver­schie­de­nen wis­sen­schaft­li­chen Ansät­ze zur Erfor­schung des Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus ein, die hier nicht im Ein­zel­nen auf­ge­führt wer­den kön­nen. Stell­ver­tre­tend für die Defi­ni­ti­on von Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus sei des­halb die Begriffs­be­stim­mung des ara­bi­schen Poli­to­lo­gen Tariq Dama ange­führt: »Israe­li­scher Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus ist nicht nur eine Fort­set­zung des Kolo­nia­lis­mus, son­dern eine kom­ple­xe Anpas­sung an das Zeit­al­ter der Deko­lo­ni­sa­ti­on im Glo­ba­len Süden nach dem Zwei­ten Welt­krieg. Dabei wer­den histo­ri­sche Nar­ra­ti­ve des Über­le­bens und der Rück­kehr so mani­pu­liert, dass auf ihrer Basis aktu­el­le Kolo­ni­sa­ti­on und Eli­mi­nie­rung gerecht­fer­tigt wer­den können.«

Die Autorin zieht in ihrer Bilanz die ein­zig mög­li­che Schluss­fol­ge­rung, die man nach über 100 Jah­ren zio­ni­sti­scher Unter­drückung der Palä­sti­nen­ser, dem Raub ihres Lan­des und der seit Jahr­zehn­ten anhal­ten­den bru­ta­len Besat­zung über die­ses Volk aus dem von Isra­el prak­ti­zier­ten Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus zie­hen kann: Ursa­che der Gewalt am 7. Okto­ber war der israe­li­sche Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus. Sie begrün­det das so: »Bar­ba­ri­sche Gewalt ging und geht zuerst und vor allem von der israe­li­schen Armee und von israe­li­schen Sied­lern aus. Die­se Gewalt gegen die Kolo­ni­sier­ten ist im Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus und sei­nem zen­tra­len Ziel ange­legt: immer mehr Land auf Kosten der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung aneig­nen, die ver­trie­ben, eth­nisch gesäu­bert und falls es kei­ne Alter­na­ti­ven gibt, auch eli­mi­niert wer­den muss.«

Für den Völ­ker­recht­ler Nor­man Paech ist die von der UNO-Gene­ral­ver­samm­lung am 9.12.1948 beschlos­se­ne Völ­ker­mord­kon­ven­ti­on der Aus­gangs­punkt. Sie setzt als Kri­te­ri­um für den Tat­be­stand des Völ­ker­mords nicht allein die Zahl der Toten in einem Krieg an, ent­schei­dend ist viel­mehr die Absicht, mit der die Hand­lun­gen began­gen wer­den: Tötung von Mit­glie­dern der bekämpf­ten Grup­pe, Ver­ur­sa­chung von schwe­ren kör­per­li­chen und see­li­schen Schä­den an Mit­glie­dern der Grup­pe sowie die Schaf­fung von Lebens­be­din­gun­gen für die Grup­pe, die ihre kör­per­li­che Zer­stö­rung her­bei­füh­ren können.

Aus­schlag­ge­bend für den Vor­wurf des Völ­ker­mords ist also »der sub­jek­ti­ve Tat­be­stand, dass die geno­zi­da­le Hand­lung in der Absicht began­gen wird, eine natio­na­le, eth­ni­sche, ras­si­sche oder reli­giö­se Grup­pe als sol­che ganz oder teil­wei­se zu zer­stö­ren«. Die­se Absicht liegt bei Isra­els Vor­ge­hen im Gaza­strei­fen ein­deu­tig vor. Erin­nert sei an die oben zitier­ten Absichts­er­klä­run­gen israe­li­scher Poli­ti­ker und Mili­tärs. Da ist von »tota­ler Zer­stö­rung«, sogar von »Aus­lö­schen von Fami­li­en, Müt­tern und Kin­dern« die Rede, von der »Zer­schla­gung Gazas und dem Erd­bo­den gleich­ma­chen – ohne Gnade« …

Nor­man Paech fol­gert aus dem mili­tä­ri­schen Vor­ge­hen der Israe­lis im Gaza­strei­fen und sol­chen Äuße­run­gen, dass kein Zwei­fel an dem sub­jek­ti­ven Tat­be­stand des Völ­ker­mords bestehen kön­ne, weil die ein­deu­ti­ge Absicht bestehe, »die Grup­pe ganz oder teil­wei­se zu zer­stö­ren«. Dass Isra­el die­se Absicht ver­folgt, machen die Ver­bre­chen deut­lich, die die israe­li­sche Armee täg­lich im Gaza­strei­fen begeht. Paech zählt auf: die täg­lich stei­gen­de Zahl der Toten und Ver­letz­ten, die gna­den­lo­se Ver­wü­stung von Häu­sern, Ort­schaf­ten, Flücht­lings­la­gern und Städ­ten, die syste­ma­ti­schen Ver­trei­bun­gen, die Unter­ver­sor­gung und Hun­ger­stra­te­gie; die Bom­bar­die­rung und der Beschuss der Zivil­be­völ­ke­rung, die als ein unter­schieds­los angreif­ba­res Ziel ange­se­hen wird; die Eva­ku­ie­rung und Ver­trei­bung der Men­schen. Paech zitiert den israe­li­schen Holo­caust-Histo­ri­ker Raz Segal, der in Isra­els Vor­ge­hen »einen Lehr­buch­fall des Völ­ker­mor­des« sieht. Es sei hin­zu­ge­fügt: Fünf wei­te­re israe­li­sche Holo­caust-For­scher haben sich der Beur­tei­lung Segals ange­schlos­sen: Omer Bar­tov, Amos Gold­berg, Shmu­el Leder­man, Lee Mord­e­chai und Bar­ry Trach­ten­berg. Das soll­te gera­de in Deutsch­land ange­sichts der blin­den Unter­stüt­zung Isra­els bei sei­nem Geno­zid zu den­ken geben.

Mag die Beur­tei­lung, dass Isra­el in Gaza einen Völ­ker­mord begeht, auch noch so klar und ein­deu­tig sein, Nor­man Paech weiß natür­lich um die schwa­che Posi­ti­on des Völ­ker­rechts in der inter­na­tio­na­len Poli­tik. Denn nicht das Recht lei­tet die Poli­tik der Staa­ten, beson­ders der west­li­chen Staa­ten (und schon gar nicht im Fall Israel/​Palästina), son­dern ihre Inter­es­sen. Das Recht bleibt dabei ohn­mäch­tig zurück. Ja, um das Völ­ker­recht zu umge­hen, haben die USA das Kon­zept der »regel­ba­sier­ten Ord­nung« erfun­den – ein Ord­nungs­sy­stem, in dem allein ihre Macht­in­ter­es­sen den Ton ange­ben. Völ­ker­rechts­bruch ist des­halb eher die Regel als die Aus­nah­me, sodass der Begriff des »Völ­ker­rechts­ni­hi­lis­mus« mehr als ange­bracht erscheint.

Da aber das Rechts­ver­ständ­nis in Bezug auf das Nah­ost-Pro­blem gera­de durch den Westen so dis­kre­di­tiert ist, dort Gesetz­lo­sig­keit und die Gewalt des Stär­ke­ren domi­nie­ren, hat ein Frie­den dort, der sich auf die UNO-Char­ta beru­fen kann, kei­ne Chan­ce. Eine Lösung des ver­fah­re­nen Kon­flikts kann es des­halb zur­zeit nicht geben. Das Recht müss­te die Ober­hand gewin­nen, aber dazu ist vor allem Isra­el nicht bereit. Den­noch, trotz aller Schwä­chen ist das Völ­ker­recht nicht über­flüs­sig, was gäbe es sonst für Kri­te­ri­en und Maß­stä­be, um sagen zu kön­nen, was gerecht und was ver­bre­che­risch ist. Das Völ­ker­recht ist zur Ori­en­tie­rung in der poli­ti­schen Anar­chie der Gegen­wart unerlässlich.

So kön­nen die bei­den Autoren kei­nen posi­ti­ven Blick in die Zukunft anbie­ten. Sie wis­sen natür­lich, was die Bedin­gun­gen eines Frie­dens im Nahen Osten sind: »Frie­den, und das hat sich bis heu­te nicht geän­dert, ist nur nach einer De-Kolo­ni­sie­rung Isra­els, der rest­lo­sen Auf­he­bung der Besat­zung und der Her­stel­lung der vol­len Gleich­be­rech­ti­gung aller Men­schen ›from the river to the sea‹ mög­lich.« Aber solan­ge die USA rück­halt­los hin­ter Isra­el ste­hen, hat der Frie­den in die­ser Regi­on kei­ne Chan­ce. Die­se trau­ri­ge Bilanz schmä­lert aber in kei­ner Wei­se den gro­ßen Wert der Aus­füh­run­gen der bei­den Autoren. Denn sie bie­ten eine kla­re Ana­ly­se des Geno­zid-Gesche­hens im Gazastreifen.

Das allein ist schon ein gro­ßes Ver­dienst, da in Deutsch­land inzwi­schen schon das Nen­nen von Fak­ten im Zusam­men­hang mit Isra­els Poli­tik den Anti­se­mi­tis­mus-Vor­wurf auf den Plan ruft. Ihr Buch ist so gese­hen auch eine schar­fe Kri­tik an der deut­schen Soli­da­ri­tät mit Isra­el, denn das Land der Täter scheut nicht davor zurück, den Rea­li­tä­ten in Israel/​ Palä­sti­na eine ganz ande­re Deu­tung zu geben (Stich­wor­te: »ein­zi­ge Demo­kra­tie im Nahen Osten, Treue zum Völ­ker­recht, Selbst­ver­tei­di­gung«) und so durch die Unter­stüt­zung der Zio­ni­sten zum Mit­tä­ter an dem Völ­ker­mord wird.

Aber die Fak­ten haben ihre eige­ne Macht, und sie ohne ideo­lo­gi­sche Scheu klar zu benen­nen und einer Ana­ly­se zu unter­zie­hen, ist in einer Zeit, in der Des­in­for­ma­tio­nen, Fak­e­mel­dun­gen und – in die­sem Fall – die israe­li­sche Pro­pa­gan­da (Has­ba­ra) weit­ge­hend den Dis­kurs bestim­men, ein gro­ßes Ver­dienst. Wer sich ein kla­res Bild von dem gegen­wär­ti­gen Gesche­hen im Gaza­strei­fen, sei­nen Ursa­chen und mög­li­che Fol­gen machen will, kommt um die­ses Buch nicht herum.

 Hel­ga Baumgarten/​Norman Paech: Völ­ker­mord in Gaza. Eine poli­ti­sche und recht­li­che Ana­ly­se, Pro­me­dia Ver­lag Wien 2025, 232 S., 22 €.