Am 12. Oktober gab es eine Stichwahl für das Amt eines Oberbürgermeisters oder einer Oberbürgermeisterin in Potsdam. Eigentlich war die Sache durch das Ergebnis des ersten Wahlganges zwei Wochen zuvor deutlich genug entschieden. Noosha Aubel, klug, weiblich, überparteilich, hatte 34 Prozent der Stimmen erhalten, , der Kandidat der SPD, 17 Prozent. Die seit 35 Jahren im Rathaus mehr vor sich hin resignierende als regierende SPD profiliert sich in Brandenburg offenbar durch spektakuläre Aufholjagden. Diesmal versuchte sie, Wählerpotential im naiv-konservativen Spektrum der Gesellschaft durch Plattitüden über grüne Politik abzufischen.
Deutlich wurde dies durch einen Brief an die Wähler, in dem die beiden Alt-Oberbürgermeister von vorgestern und vor-vorgestern Matthias Platzeck (1998-2002) und Jann Jakobs (2002-2018) vor grüner Politik warnten. Jawohl, der gewendete frühere Umwelthygieniker, Mitbegründer von ARGUS, Grüner Liga und BürgerBündnis sowie Deichgraf Platzeck gab seinen Namen dafür her! Die beiden wegen Unfähigkeit (Horst Gramlich, 1990-1998) und Korruption (Mike Schubert, 2018-2025) abgewählten OBs wurden wie bei einer Nullrunde vorsichtshalber in den Skat gedrückt. Dabei hat Gramlich 1993 auch eine spektakuläre Aufholjagd hingelegt, als es darum ging, den PDS-Kandidaten Rolf Kutzmutz zu verhindern.
OB-Kandidat Fischer ließ in den Tagen vor der Stichwahl noch einmal gründlich in der Stadt nachplakatieren. Sein griffiger Werbespruch stammte aus der miesen Populistentrickkiste: »Verlässlichkeit statt grüne Experimente«. Ein Slogan, der sich in jeder Hinsicht als fataler politischer Zungenbrecher erweist. Wer hat Severin Fischer bloß dazu geraten? Die Parteiführung der SPD? Was für merkwürdige Vorstellungen hat man dort offenbar nicht nur von Grüner Politik, sondern auch von Experimenten. Schließlich scheint es der SPD an eigenen politischen Zielen und Ideen zu fehlen, die sich positiv plakativ verkünden ließen.
Umweltpolitik ist die Reaktion der Gesellschaft auf die menschengemachte Klimakatastrophe, die das gesamte Biotop unseres Planeten existenziell bedroht. Sie ist überparteilich und lebensnotwendig, kein ernstzunehmender Politiker darf sich diesen Problemen mehr verschließen. Und was soll schlecht sein an gesellschaftlichen Experimenten? Es gibt nichts, was in der Wissenschaft gründlicher und aufmerksamer vorbereitet, durchgeführt, dokumentiert und erforscht wird als ein Experiment. Prognosen und Ergebnisse werden miteinander vergleichen, und die Resultate führen zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Auf Experimente zu verzichten bedeutet, den gesellschaftlichen Innovationsprozess zu behindern. Schon Ende des 19. Jahrhunderts erklärte Fontane: »Dass Staaten an einer kühnen Umformung, die die Zeit forderte, zu Grunde gegangen wären, – dieser Fall ist sehr selten. Ich wüsste keinen zu nennen. Aber das Umgekehrte zeigt sich hundertfältig.« Die Zeichen der Zeit lesen heißt, vor der Notwendigkeit grundlegender Veränderungen die Augen nicht mehr verschließen zu können. Nur eine grüne Politik kann die Menschheit überhaupt noch retten. Unrettbar verloren ist dagegen eine Partei, die die Zeichen der Zeit nicht erkennt, die Augen vor den Problemen der Gegenwart verschließt und sich aus populistischen Gründen gegen Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklung stemmt. Der Stadt Potsdam kann nichts Besseres passieren, als wenn sich die Politik im Rathaus auch von wissenschaftlichen und ökologischen Grundsätzen leiten lässt. So sehen es jedenfalls die Wähler, die in der Stichwahl mit überwältigender Mehrheit für Noosha Aubel votierten, und zwar ausnahmslos in allen Wahlkreisen.
Auch grammatikalisch ist Fischers Slogan bedenklich. Die Präposition »statt« verlangt den Genitiv. War diese Plakatkampagne zugleich eine Initiative für einfache Sprache in Alltag und Politik im Vorgriff auf eine absehbare Entwicklung, die noch nicht einmal der Duden beschrieben hat? Wie die Puristen des Vereins Deutsche Sprache scheinen die Wahlkampfhelfer Platzeck und Jakobs auch wenig vom Gendern zu halten. Vier Mal liest man in ihrem Schreiben die suggestive Feststellung: »Potsdam braucht einen Oberbürgermeister«. Dass es auch eine Oberbürgermeisterin sein könnte, darauf kommen diese Herren überhaupt nicht. An Brunhilde Hanke, Oberbürgermeisterin von 1961 bis 1984, erinnern sie sich offenbar nicht. Es ist Zeit für starke Frauen, für eine nachhaltige, zukunftsfähige Politik, unabhängig von Geschlecht und Parteibuch.