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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Fritzes Fischer

Am 12. Okto­ber gab es eine Stich­wahl für das Amt eines Ober­bür­ger­mei­sters oder einer Ober­bür­ger­mei­ste­rin in Pots­dam. Eigent­lich war die Sache durch das Ergeb­nis des ersten Wahl­gan­ges zwei Wochen zuvor deut­lich genug ent­schie­den. Noo­sha Aubel, klug, weib­lich, über­par­tei­lich, hat­te 34 Pro­zent der Stim­men erhal­ten,  , der Kan­di­dat der SPD, 17 Pro­zent. Die seit 35 Jah­ren im Rat­haus mehr vor sich hin resi­gnie­ren­de als regie­ren­de SPD pro­fi­liert sich in Bran­den­burg offen­bar durch spek­ta­ku­lä­re Auf­hol­jag­den. Dies­mal ver­such­te sie, Wäh­ler­po­ten­ti­al im naiv-kon­ser­va­ti­ven Spek­trum der Gesell­schaft durch Plat­ti­tü­den über grü­ne Poli­tik abzufischen.

Deut­lich wur­de dies durch einen Brief an die Wäh­ler, in dem die bei­den Alt-Ober­bür­ger­mei­ster von vor­ge­stern und vor-vor­ge­stern Mat­thi­as Platz­eck (1998-2002) und Jann Jakobs (2002-2018) vor grü­ner Poli­tik warn­ten. Jawohl, der gewen­de­te frü­he­re Umwelt­hy­gie­ni­ker, Mit­be­grün­der von ARGUS, Grü­ner Liga und Bür­ger­Bünd­nis sowie Deich­graf Platz­eck gab sei­nen Namen dafür her! Die bei­den wegen Unfä­hig­keit (Horst Gram­lich, 1990-1998) und Kor­rup­ti­on (Mike Schu­bert, 2018-2025) abge­wähl­ten OBs wur­den wie bei einer Null­run­de vor­sichts­hal­ber in den Skat gedrückt. Dabei hat Gram­lich 1993 auch eine spek­ta­ku­lä­re Auf­hol­jagd hin­ge­legt, als es dar­um ging, den PDS-Kan­di­da­ten Rolf Kutz­mutz zu verhindern.

OB-Kan­di­dat Fischer ließ in den Tagen vor der Stich­wahl noch ein­mal gründ­lich in der Stadt nach­pla­ka­tie­ren. Sein grif­fi­ger Wer­be­spruch stamm­te aus der mie­sen Popu­li­sten­trick­ki­ste: »Ver­läss­lich­keit statt grü­ne Expe­ri­men­te«. Ein Slo­gan, der sich in jeder Hin­sicht als fata­ler poli­ti­scher Zun­gen­bre­cher erweist. Wer hat Seve­rin Fischer bloß dazu gera­ten? Die Par­tei­füh­rung der SPD? Was für merk­wür­di­ge Vor­stel­lun­gen hat man dort offen­bar nicht nur von Grü­ner Poli­tik, son­dern auch von Expe­ri­men­ten. Schließ­lich scheint es der SPD an eige­nen poli­ti­schen Zie­len und Ideen zu feh­len, die sich posi­tiv pla­ka­tiv ver­kün­den ließen.

Umwelt­po­li­tik ist die Reak­ti­on der Gesell­schaft auf die men­schen­ge­mach­te Kli­ma­ka­ta­stro­phe, die das gesam­te Bio­top unse­res Pla­ne­ten exi­sten­zi­ell bedroht. Sie ist über­par­tei­lich und lebens­not­wen­dig, kein ernst­zu­neh­men­der Poli­ti­ker darf sich die­sen Pro­ble­men mehr ver­schlie­ßen. Und was soll schlecht sein an gesell­schaft­li­chen Expe­ri­men­ten? Es gibt nichts, was in der Wis­sen­schaft gründ­li­cher und auf­merk­sa­mer vor­be­rei­tet, durch­ge­führt, doku­men­tiert und erforscht wird als ein Expe­ri­ment. Pro­gno­sen und Ergeb­nis­se wer­den mit­ein­an­der ver­glei­chen, und die Resul­ta­te füh­ren zu neu­en wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen. Auf Expe­ri­men­te zu ver­zich­ten bedeu­tet, den gesell­schaft­li­chen Inno­va­ti­ons­pro­zess zu behin­dern. Schon Ende des 19. Jahr­hun­derts erklär­te Fon­ta­ne: »Dass Staa­ten an einer küh­nen Umfor­mung, die die Zeit for­der­te, zu Grun­de gegan­gen wären, – die­ser Fall ist sehr sel­ten. Ich wüss­te kei­nen zu nen­nen. Aber das Umge­kehr­te zeigt sich hun­dert­fäl­tig.« Die Zei­chen der Zeit lesen heißt, vor der Not­wen­dig­keit grund­le­gen­der Ver­än­de­run­gen die Augen nicht mehr ver­schlie­ßen zu kön­nen. Nur eine grü­ne Poli­tik kann die Mensch­heit über­haupt noch ret­ten. Unrett­bar ver­lo­ren ist dage­gen eine Par­tei, die die Zei­chen der Zeit nicht erkennt, die Augen vor den Pro­ble­men der Gegen­wart ver­schließt und sich aus popu­li­sti­schen Grün­den gegen Fort­schritt und gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung stemmt. Der Stadt Pots­dam kann nichts Bes­se­res pas­sie­ren, als wenn sich die Poli­tik im Rat­haus auch von wis­sen­schaft­li­chen und öko­lo­gi­schen Grund­sät­zen lei­ten lässt. So sehen es jeden­falls die Wäh­ler, die in der Stich­wahl mit über­wäl­ti­gen­der Mehr­heit für Noo­sha Aubel votier­ten, und zwar aus­nahms­los in allen Wahlkreisen.

Auch gram­ma­ti­ka­lisch ist Fischers Slo­gan bedenk­lich. Die Prä­po­si­ti­on »statt« ver­langt den Geni­tiv. War die­se Pla­kat­kam­pa­gne zugleich eine Initia­ti­ve für ein­fa­che Spra­che in All­tag und Poli­tik im Vor­griff auf eine abseh­ba­re Ent­wick­lung, die noch nicht ein­mal der Duden beschrie­ben hat? Wie die Puri­sten des Ver­eins Deut­sche Spra­che schei­nen die Wahl­kampf­hel­fer Platz­eck und Jakobs auch wenig vom Gen­dern zu hal­ten. Vier Mal liest man in ihrem Schrei­ben die sug­ge­sti­ve Fest­stel­lung: »Pots­dam braucht einen Ober­bür­ger­mei­ster«. Dass es auch eine Ober­bür­ger­mei­ste­rin sein könn­te, dar­auf kom­men die­se Her­ren über­haupt nicht. An Brun­hil­de Han­ke, Ober­bür­ger­mei­ste­rin von 1961 bis 1984, erin­nern sie sich offen­bar nicht. Es ist Zeit für star­ke Frau­en, für eine nach­hal­ti­ge, zukunfts­fä­hi­ge Poli­tik, unab­hän­gig von Geschlecht und Parteibuch.