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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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In der Alarmismusfalle

Es ist unstrit­tig, dass Russ­land einen völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne begon­nen hat, für den es kei­ne Recht­fer­ti­gung gibt. Und es ist eben­so unstrit­tig, dass von Russ­land eine Bedro­hung für die bis zum Beginn jenes Krie­ges noch halb­wegs bestan­de­ne euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur aus­geht. Was aber die Chefs des Bun­des­nach­rich­ten­dien­stes, des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz und des Mili­tä­ri­schen Abschirm­dien­stes jüngst in einer öffent­li­chen Befra­gung durch das Par­la­men­ta­ri­sche Kon­troll­gre­mi­um dazu preis­ge­ge­ben haben, ist schlicht und ergrei­fend Alar­mis­mus in Rein­kul­tur. Bei der Bedro­hung durch Russ­land gehe es um »Sabo­ta­ge­ver­su­che, Spio­na­ge­droh­nen, Brand­stif­tung, gene­rell Angrif­fe auf die kri­ti­sche Infra­struk­tur von­sei­ten Russ­lands«, sagt Mar­ti­na Rosen­berg (Mili­tä­ri­scher Abschirm­dienst. Und Mar­tin Jäger (Bun­des­nach­rich­ten­dienst) zeigt sich sicher, dass Russ­land »wenn nötig, auch eine direk­te mili­tä­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Nato nicht scheu­en wür­de«. Russ­lands Han­deln sei dar­auf ange­legt, »die Nato zu unter­mi­nie­ren, euro­päi­sche Demo­kra­tien zu desta­bi­li­sie­ren, unse­re Gesell­schaf­ten zu spal­ten und ein­zu­schüch­tern. Wir dür­fen uns nicht zurück­leh­nen und den­ken, ein rus­si­scher Angriff kommt frü­he­stens 2029. Wir ste­hen schon jetzt im Feu­er«, so Jäger. Sinan Selen (Ver­fas­sungs­schutz) ergänzt, dass in der deut­schen Bevöl­ke­rung noch nicht ange­kom­men sei, wie mas­siv die rus­si­sche Bedro­hung mitt­ler­wei­le sei, in ost- und nord­eu­ro­päi­schen Län­dern sehe das ganz anders aus, wes­halb sie for­dert: »Es pas­siert, wir kön­nen es sehen, und wir dür­fen es nicht zulassen.«

Sicher­heits­exper­ten um Micha­el Brzo­s­ka, Götz Neuneck und Johan­nes Var­wick war­nen indes schon lan­ge vor über­trie­be­nen Bedro­hungs­sze­na­ri­en in unse­rer Sicher­heits­po­li­tik. Deutsch­land brau­che Ver­tei­di­gungs­fä­hig­keit, aber kei­ne Hyste­rie, und ratio­na­le Sicher­heits­po­li­tik statt Alarmismus.

All das wirft viel­fäl­ti­ge Fra­gen auf: Basie­ren die sicher­heits­po­li­ti­schen Ein­schät­zun­gen, War­nun­gen und For­de­run­gen unse­rer Geheim­dien­ste tat­säch­lich auf einer seriö­sen Bedro­hungs­ana­ly­se? Lässt ein nüch­ter­ner Blick auf die öko­no­mi­schen und mili­tä­ri­schen Kapa­zi­tä­ten Russ­lands wirk­lich nur den Schluss zu, dass schon in abseh­ba­rer Zeit ein Angriff auf die Nato mög­lich sein bzw. erfol­gen wird? Was hät­te Russ­land davon, den Beginn eines Drit­ten Welt­krie­ges zu pro­vo­zie­ren? Und wie wahr­schein­lich ist es eigent­lich, dass die euro­päi­schen Sicher­heits­pro­ble­me durch die der­zei­ti­ge Panik­stim­mung und eine damit ein­her­ge­hen­de Ver­schul­dung in gigan­ti­schem Aus­maß wirk­lich gelöst wer­den kön­nen? Wel­che lang­fri­sti­gen Fol­gen für die euro­päi­sche Sicher­heits­ar­chi­tek­tur wer­den dar­aus ent­ste­hen? Wann und wie kann per­spek­ti­visch mit Russ­land wie­der ein Pro­zess der Annä­he­rung denk­bar wer­den, und wie sol­len gemein­sam mit Russ­land die drin­gend not­wen­di­gen kli­ma­po­li­ti­schen Zie­le in Euro­pa umge­setzt wer­den, wenn Russ­land allein für das Elend unse­rer Tage ver­ant­wort­lich gemacht wird? Und schließ­lich: Wer pro­fi­tiert eigent­lich von der aktu­el­len Lage in Europa?

Von dem der­zeit belieb­te­sten Poli­ti­ker Deutsch­lands, Boris Pisto­ri­us, wer­den drin­gend Ant­wor­ten auch auf sol­che Fra­gen erwar­tet. Schließ­lich hat­ten wir all das schon ein­mal: Der Kal­te Krieg dau­er­te vier Jahr­zehn­te, und am Ende kam her­aus, dass »der Rus­se« mili­tä­risch weit­aus schwä­cher war, als vom Westen immer wie­der all­zu ger­ne behaup­tet wor­den ist. Zeit­gleich stan­den bei­de Sei­ten mehr­fach knapp vor einer Eska­la­ti­on, die auf einen Drit­ten Welt­krieg hät­te hin­aus­lau­fen kön­nen. Am Ende wur­de ein sol­ches ato­ma­res Arma­ged­don durch eine Viel­zahl diplo­ma­ti­scher Bemü­hun­gen ver­hin­dert, bei denen es ent­schei­dend dar­um ging, die Hoff­nung auf ein gutes Ende zu bewah­ren, um die zwangs­läu­fig immer wie­der diplo­ma­tisch hoff­nungs­los anmu­ten­den Zeit­räu­me zu über­ste­hen. Nicht alles, aber man­ches davon kann auf den heu­ti­gen (Kriegs-)Konflikt zwi­schen Russ­land und der west­li­chen Staa­ten­ge­mein­schaft über­tra­gen wer­den. Des­halb sind ehr­li­che und auch selbst­kri­ti­sche diplo­ma­ti­sche Bemü­hun­gen des die Ukrai­ne unter­stüt­zen­den Mili­tär­bünd­nis­ses drin­gend nötig, um uns aus der Alar­mis­mus­fal­le her­aus zu manö­vrie­ren, anstatt uns im frei­en Fall immer wei­ter auf eine Drit­te-Welt­kriegs­spi­ra­le hin­ein zu alarmieren.