Es ist unstrittig, dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, für den es keine Rechtfertigung gibt. Und es ist ebenso unstrittig, dass von Russland eine Bedrohung für die bis zum Beginn jenes Krieges noch halbwegs bestandene europäische Sicherheitsarchitektur ausgeht. Was aber die Chefs des Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz und des Militärischen Abschirmdienstes jüngst in einer öffentlichen Befragung durch das Parlamentarische Kontrollgremium dazu preisgegeben haben, ist schlicht und ergreifend Alarmismus in Reinkultur. Bei der Bedrohung durch Russland gehe es um »Sabotageversuche, Spionagedrohnen, Brandstiftung, generell Angriffe auf die kritische Infrastruktur vonseiten Russlands«, sagt Martina Rosenberg (Militärischer Abschirmdienst. Und Martin Jäger (Bundesnachrichtendienst) zeigt sich sicher, dass Russland »wenn nötig, auch eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato nicht scheuen würde«. Russlands Handeln sei darauf angelegt, »die Nato zu unterminieren, europäische Demokratien zu destabilisieren, unsere Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern. Wir dürfen uns nicht zurücklehnen und denken, ein russischer Angriff kommt frühestens 2029. Wir stehen schon jetzt im Feuer«, so Jäger. Sinan Selen (Verfassungsschutz) ergänzt, dass in der deutschen Bevölkerung noch nicht angekommen sei, wie massiv die russische Bedrohung mittlerweile sei, in ost- und nordeuropäischen Ländern sehe das ganz anders aus, weshalb sie fordert: »Es passiert, wir können es sehen, und wir dürfen es nicht zulassen.«
Sicherheitsexperten um Michael Brzoska, Götz Neuneck und Johannes Varwick warnen indes schon lange vor übertriebenen Bedrohungsszenarien in unserer Sicherheitspolitik. Deutschland brauche Verteidigungsfähigkeit, aber keine Hysterie, und rationale Sicherheitspolitik statt Alarmismus.
All das wirft vielfältige Fragen auf: Basieren die sicherheitspolitischen Einschätzungen, Warnungen und Forderungen unserer Geheimdienste tatsächlich auf einer seriösen Bedrohungsanalyse? Lässt ein nüchterner Blick auf die ökonomischen und militärischen Kapazitäten Russlands wirklich nur den Schluss zu, dass schon in absehbarer Zeit ein Angriff auf die Nato möglich sein bzw. erfolgen wird? Was hätte Russland davon, den Beginn eines Dritten Weltkrieges zu provozieren? Und wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass die europäischen Sicherheitsprobleme durch die derzeitige Panikstimmung und eine damit einhergehende Verschuldung in gigantischem Ausmaß wirklich gelöst werden können? Welche langfristigen Folgen für die europäische Sicherheitsarchitektur werden daraus entstehen? Wann und wie kann perspektivisch mit Russland wieder ein Prozess der Annäherung denkbar werden, und wie sollen gemeinsam mit Russland die dringend notwendigen klimapolitischen Ziele in Europa umgesetzt werden, wenn Russland allein für das Elend unserer Tage verantwortlich gemacht wird? Und schließlich: Wer profitiert eigentlich von der aktuellen Lage in Europa?
Von dem derzeit beliebtesten Politiker Deutschlands, Boris Pistorius, werden dringend Antworten auch auf solche Fragen erwartet. Schließlich hatten wir all das schon einmal: Der Kalte Krieg dauerte vier Jahrzehnte, und am Ende kam heraus, dass »der Russe« militärisch weitaus schwächer war, als vom Westen immer wieder allzu gerne behauptet worden ist. Zeitgleich standen beide Seiten mehrfach knapp vor einer Eskalation, die auf einen Dritten Weltkrieg hätte hinauslaufen können. Am Ende wurde ein solches atomares Armageddon durch eine Vielzahl diplomatischer Bemühungen verhindert, bei denen es entscheidend darum ging, die Hoffnung auf ein gutes Ende zu bewahren, um die zwangsläufig immer wieder diplomatisch hoffnungslos anmutenden Zeiträume zu überstehen. Nicht alles, aber manches davon kann auf den heutigen (Kriegs-)Konflikt zwischen Russland und der westlichen Staatengemeinschaft übertragen werden. Deshalb sind ehrliche und auch selbstkritische diplomatische Bemühungen des die Ukraine unterstützenden Militärbündnisses dringend nötig, um uns aus der Alarmismusfalle heraus zu manövrieren, anstatt uns im freien Fall immer weiter auf eine Dritte-Weltkriegsspirale hinein zu alarmieren.