Der Weg zum Welterbe ist weit, aber nicht so beschwerlich wie vor zweihundertfünfzig Jahren, als sich Pastor Johann Andres Moritz von Fahrland nach Sacrow bemühte. Seine Pfarrei war abgelegen, »auf einer Straße, die niemand bereiset als ich, was denn beim Schnee desto beschwerlicher fällt«, klagte er. »Es ist in allem Betracht eine verdrießlich Filial, und doch muss ich es alle vierzehn Tage bereisen.«
Die fünf Kilometer durch den dichten Forst sind heute asphaltiert und stark frequentiert. Wanderer und Jogger, Zweirad- und Vierradfahrer sind unterwegs, von Potsdam kann man auch den öffentlichen Nahverkehr nutzen: Der Bus hält direkt vorm Schlosspark. Wobei das Schloss ein ehemaliges Gutshaus ist, das 1840 der Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. erwarb. Er ließ es von Persius erweitern, an der Havel noch eine Kirche erbauen, und Lenné richtete die Natur zu, um Durchlaucht zu erbauen. Der König nahm jedoch hier niemals Quartier. Alles zusammen ist, wie so manch weiteres Kleinod im nahegelegenen Potsdam, heute UNESCO-Welterbe.
Wahrscheinlich gibt es im Dreh zu viele bemerkenswerte Hinterlassenschaften, weshalb man mit dem Restaurieren und Pflegen des Erbes nicht nachkommt. Zwar untersteht das Anwesen der Verwaltung der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, doch »wegen der ungünstigen infrastrukturellen Voraussetzungen« und dem Fehlen eines »tragfähigen Nutzungskonzeptes« überließ man vor über zwanzig Jahren dem Verein Ars Sacrow das Schloss »für eine zeitweise Zwischennutzung als Museum für einen Sommer«. Na klar, alle Welt strömt nach Sanssouci und Cecilienhof – wer verirrt sich schon nach Sacrow?
Zu dieser »zeitweisen Zwischennutzung« gehört auch die Jubiläumsausstellung des Malers Bernhard Heisig, der am 31. März 100 Jahre geworden wäre. Und irgendwie passt der morbide Charme des alten, baufälligen Gebäudes zum Thema der Ausstellung. Diese zeigt sechzig Gemälde, die sich mit dem Krieg und seinen Protagonisten beschäftigen: düstere Bildnisse, die schemenhaft das Töten, Ausharren, Verzweifeln, Verfolgen, die Angst von Kreaturen zeigen.
Im Obergeschoss sind Grafiken Heisigs zu sehen – Studien, Porträts, Kriegsszenen – sowie Werke seiner Frau Gudrun Brüne, die im Januar dieses Jahres verstorben ist. Doppelporträts darunter, die hier wohl im früheren Bad hängen, wie die schwarzweißen Fliesen und die Aussparung für die Badewanne im Fußboden verraten. Wuchtig und pastös sein Strich, fein der ihre.
Im Untergeschoss also sind die zumeist großformatigen, gerahmten Bilder des Grauens zu sehen. Vier Räume in einer Flucht. In der Mitte klobige Sessel, ausgerichtet wie Soldaten in einer Reihe. Im Kaminzimmer – die Wände feldgrau, von der die Farbe blättert, – sind auf einem Bild zwei Soldaten zu sehen, sie hocken im Schützengraben. Der eine hält ein Schild. »Moskau 100 km« ist darauf zu erkennen.
Der Blick geht nach draußen, in den maigrünen Park. Auf den Wegen flanieren Menschen, manche schieben Kinderwagen. Auf der Wiese halten einige Picknick. Man meint den Geruch des Flieders und den des üppig blühenden Blauregens zu riechen, durch die Fensterscheiben. Und den Gesang der Vögel zu vernehmen. Draußen die friedliche Idylle, drinnen deren Gegenteil.
Heisigs Generalthema, das ihn zeitlebens beschäftigte, ist der Krieg. Der mache, wie Helmut Schmidt im Nachruf in der Zeit schrieb, fortschrittsungläubig, geschichtspessimistisch und künstlerisch anklagend. Als siebzehnjähriger Malersohn aus Breslau hatte sich Bernhard Heisig freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet, drei Jahre an der West- und an der Ostfront geschossen und vielleicht auch getötet. Die traumatischen Erlebnisse ließen ihn zeitlebens als Künstler nicht mehr los. 1945 kam er in seiner Heimatstadt Breslau, die von den Nazis zur Festung erklärt worden war, in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die Russen schickten den schwerverwundeten jungen Mann noch im gleichen Jahr nach Hause zurück. Seine Heimatstadt wurde mit dem Potsdamer Abkommen polnisch, Heisig ging nach Zeitz, schloss sich der antifaschistischen, antimilitaristischen SED an, studierte, wurde Professor und 1961 Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Mit Unterbrechungen übte er dieses Amt bis 1987 aus. In jener Zeit porträtierte er Helmut Schmidt auf dessen Bitte fürs Bundeskanzleramt.
Darüber berichtet übrigens der Kettenraucher selbst in einem Video, das im vierten Raum in Endlosschleife zu sehen ist. In der von ihm gewohnten Weise erzählt der Altkanzler und Wehrmachtleutnant a. D. – lange, gedankenschwere Pausen zwischen banalen, aber bedeutungsvollen Sätzen und Zügen aus der Mentholzigarette –, weshalb er ausgerechnet Heisig für diese Übung ausgewählt habe. Entgegen dem Rat wohlmeinender Freunde. Aber, und das macht die Stärke solcher Charakterköpfe eben aus, weshalb ihre Abwesenheit in der heutigen Politik so schmerzt und leider auch fatal ist: Er, Schmidt, habe sich seine Überzeugung nicht verbieten lassen, dass sei keine Sottise eines westlichen Politikers gewesen. Heisig war ein bedeutender deutscher Maler, völlig egal, dass er bei den Kommunisten war und zweimal den Nationalpreis der DDR bekommen hatte. Und dass Heisig auch 1. Stellvertreter des Präsidenten des Verbandes Bildender Künstler der DDR war, als er ihn ums Porträt bat, schien Schmidt der Beachtung nicht wert.
VBK-Präsident Willi Sitte reagierte verärgert, als Heisig seinen Nationalpreis Anfang Dezember 1989 retournierte. Dieser hatte in der Redaktion des Neuen Deutschland angerufen und seine an Ministerpräsident Modrow gerichtete Botschaft mitgeteilt: »Das bisher bekannt gewordene Ausmaß an Machtmissbrauch und Korruption in der ehemaligen Führungsspitze der DDR lässt mich die durch die damalige Staatsführung für meine künstlerische Arbeit mir erwiesenen Ehrungen nicht mehr als solche empfinden.« Auch andere Erklärungen Heisigs erregten Sittes Missmut, weshalb er seinem langjährigen Stellvertreter im VBK Mäßigung und Besinnung empfahl. Offenkundig habe seine Sicht auf die jüngste Vergangenheit etwas mit seiner unterschiedlichen Vergangenheit zu tun: Während er, Sitte, bei den italienischen Partisanen gegen die deutschen Faschisten gekämpft habe, hätte Heisig bei der Waffen-SS das Nazireich verteidigt. Dieser Hinweis war böse, aber zutreffend.
Heisigs kurzsichtige, vielleicht ein wenig auch opportunistischen Reflexe änderten nichts an seiner Ablehnung im Westen. Künstler aus der DDR wie Bernhard Heisig oder Wolfgang Mattheuer seien überhaupt keine Künstler, erklärte im Juni 1990 Georg Baselitz apodiktisch im Interview. »Keiner von denen hat je ein Bild gemalt. Die haben an Wiederherstellungen gearbeitet, an Rekonstruktionen, aber nichts erfunden.« Sein Verdikt nahm Baselitz später zurück. Heisig aber wurde unverändert als angeblicher Staatskünstler geschmäht. 1998 beispielsweise regte sich heftiger Widerstand, als er in die künstlerische Ausgestaltung des Parlamentsgebäudes im Berliner Reichstag einbezogen wurde. Bundestagspräsidentin Süssmuth ging am 5. Juni 1998 auf die Auseinandersetzung ein. Der Kunstbeirat habe sich einstimmig zur Nominierung des Malers Bernhard Heisig bekannt und werde in dieser Frage keinesfalls zurückweichen.
Schmidt sagt in dem Videoclip über Heisig, der sei »ein sehr deutscher Maler« gewesen, besessen auch noch im Rollstuhl. Was meinte er damit? »Schrecken erlebt zu haben und diese zu verarbeiten – nicht zu verdrängen und zu überlagern, wie es viele andere Deutsche im 20. Jahrhundert taten.«
Das kann man unterschreiben. Aber die Verdrängung ist nicht zunftgebunden. Sie findet überall auch im 21. Jahrhundert statt. Um das zu erkennen, muss man nicht bis Sacrow fahren. Aber man sollte auch dorthin reisen, um zu sehen, wie einer, der in der DDR zum Künstler geworden war, Krieg und Faschismus verarbeitet hat. Und wo er letztlich auch politisch stand. Denn auf die Frage des Spiegel im Mai 2009, warum er in der DDR geblieben sei, antwortete er: »Man konnte sich als Künstler in der DDR verwirklichen.« Er habe »die Kunst des Westens gesehen. Sie interessierte mich nicht so sehr, dass ich das Bedürfnis gehabt hätte, dorthin zu gehen.« Und um wohl die politische Konnotation dieser Aussage zu unterstreichen, fügte er an: »Mein Thema war der Krieg. Man wollte mir die ständige Beschäftigung damit sehr wohl ausreden, aber ich setzte mich durch. Und die Westdeutschen meiner Generation haben sich damit doch nicht wirklich auseinandergesetzt.«
Damit ist eigentlich alles zu dieser Jahrhundertausstellung gesagt. Geh und sieh!
Krieg und Frieden? 100 Jahre Bernhard Heisig 1925-2025. Jubiläumsausstellung im Schloss Sacrow vom 25. April bis 22. Juni, geöffnet von Freitag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Eintritt 8 €.