Vom Vater lernte Heinrich Lux, geboren am 31. August 1863 in Tarnowitz, sehr früh Lesen und Schreiben. Dem Sohn Bildung zu vermitteln, das war Heinrich Friedrich August Lux ein zentrales Anliegen. Aber es blieb wenig Zeit dafür: Als der Junge gerade sieben Jahre alt war, starb der Vater an einer Blinddarmentzündung. Die Mutter Josephine blieb mit fünf kleinen Kindern zurück, Unterstützung durch den Staat gab es so gut wie keine, und Josephine nähte, um die Familie durchzubringen, täglich bis in die Nacht hinein Kleidung für andere. Die Bildung ihrer Kinder lag ihr weniger am Herzen als die Vermittlung des katholischen Glaubens, den sie streng auslebte.
Heinrich Lux entwickelte früh in der Schule Wissbegierde in jeder Hinsicht, verbunden mit Eigenwilligkeit und Renitenz. Dazu trug bei, dass der Unterricht streng autoritär vermittelt wurde. Schläge gehörten dazu. Heinrich Lux widersetzte sich mit Kreativität: »›Hinz‹ viele Hobbies, die nichts mit dem Lehrplan zu tun hatten, ließen ihm keine Zeit für Schularbeiten. Einmal bereitete er sich auf einen Lateintest dadurch vor, dass er alle Vokabeln, die zu lernen gewesen wären, in ein kleines Notizbuch schrieb, das er in der Handfläche verbergen konnte. Dann konstruierte er eine Art Gerät, mit dem er das Buch per elastischem Band an seinen Hosenträgern befestigte. Wenn ihn jemand fragte, was er in der Hand hielte, brauchte er nur aufzustehen, seinen Arm auszustrecken und seine leere Hand vorzuzeigen. Sein betrügerisches Hilfsmittel verschwand durch die Bewegung automatisch im Ärmel. Die Herstellung des Ganzen dauerte zwar mehr als doppelt so lange, wie das Lernen der Vokabeln gebraucht hätte – aber es machte ihm viel mehr Spaß.« So beschreibt seine Tochter Gerda viele Jahre nach dem Tod des Vaters seine Art, mit der Schule umzugehen.
Heinrich Lux sah Armut um sich her, glaubte nicht an die Antworten der Kirche – denn sie vertröstete die Armen – und suchte nach einer besseren Gesellschaftsform. Seine frühen Freunde und er studierten klassische sozialistische Literatur: »Über Kautsky kamen wir zu Marx. Aber der langsame Gang der Entwicklung, wie er aus den Marxschen Theorien folgte, wollte uns jungen Brauseköpfen so ganz und gar nicht gefallen. Wir konnten das Ziel des Sozialismus nicht erwarten. (…) Wir wollten eine neue Gesellschaft auf der Basis des wissenschaftlichen Sozialismus auf freier Erde begründen.«
Die Gruppe sandte sogar ein Mitglied in die USA, um das dortige sozialistische Experiment »Ikarien« des Franzosen Étienne Cabet zu erleben. Aber alle diese Versuche wurden kriminalisiert: Das noch immer geltende »Sozialistengesetz«, gerichtet gegen Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten und Anarchisten, führte zum Breslauer Sozialistenprozess Ende 1887. Lux war Hauptangeklagter und wurde zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe verurteilt – Gerhart Hauptmann, sein Jugendfreund, war als Zeuge vor Gericht und wurde wie ein Angeklagter behandelt.
Für Lux hatte die Vorstrafe vielfache Konsequenzen: Er durfte in Deutschland nicht weiterstudieren (es hieß: »Ein Sozialdemokrat ist ein Mensch mit einem moralischen Defizit, der nicht an die Universität gehört«) und emigrierte in die Schweiz. Dort setzte er sein Studium fort, promovierte und wurde als Autor sozialkritischer Schriften relativ bekannt. Er schrieb ein Buch über Ikarien, ein »sozialpolitisches Handbuch«, verfasste Texte über Klassenjustiz, Judentum und Prostitution und gab ein Büchlein über Folter und Mord unter dem Zaren in Russland heraus.
In der Weimarer Republik wurde Heinrich Lux als Vorbestrafter von »seiner« SPD als nicht für Ämter tauglich abgelehnt, obwohl er als politischer Gefangener für diese Partei eingesperrt worden war. Diese Kränkung vergaß er bis an sein Lebensende nicht. Aber es kam noch viel schlimmer: Es kam die faschistische Diktatur, die in der Familie Lux viele Opfer forderte.
Dora Lux, die dritte Ehefrau Heinrichs, erhielt Berufsverbot, wurde als Jüdin eingestuft und entkam der Deportation nur mit Mut und Glück. Heinrich Lux erhielt – zum Geburtstag! – die Kündigung der Deutschen Gesellschaft für Licht-Technologie, die sich den Nazis vollständig anbiederte. Übrigens wurde von dieser Gesellschaft nach Lux’ Tod, obwohl seine antifaschistische Haltung bekannt war, eine Hakenkreuzfahne auf sein Grab gelegt – eine geschmacklose Geste, die nur durch die Reaktion einer Verwandten, die mit Blumen das verhasste Symbol überdeckte, gemildert wurde.
Heinrich Lux blieb bis zu seinem Tod als Regime-Gegner bekannt. Die Gestapo durchsuchte mehrfach seine Bücherregale, und bei jeder Familienfeier brachte Lux in lateinischer Sprache einen Toast aus, der auf Deutsch hieß: »Mögen sie untergehen!«
Bei der letzten Wahl vor der »Machtergreifung« betrat er das Lokal mit dem Gruß der Sozialdemokraten. »Wir hatten Angst, dass die anwesenden SA-Leute ihn verprügeln würden«, sagte später seine Tochter Eva. Und als im November 1933 nach dem Verbot aller anderen Parteien nur noch mit »Ja« oder »Nein« zu Hitler und der NSDAP abgestimmt werden konnte, klang die Stimme des Heinrich Lux laut und vernehmlich durchs Lokal: » Wo steht ›Nein‹?«
Seine Tochter Gerda, einzige Chronistin innerhalb der Familie, dokumentierte die Schicksale von Verhaftung, Misshandlung, Flucht und auch Ermordung von Familienmitgliedern. Wer überlebte, war zum Schweigen gezwungen. Viele Angehörige wurden in die Vernichtungslager deportiert. Manchen ersparte Lux durch die Übergabe von Zyankali größere Qualen. Seine im Weltkrieg geschriebenen Memoiren nennen, bei vielfacher Vorsicht, einige Namen der von den Nazis ermordeten Bekannten, z. B. den des Erich Mühsam.
Die Befreiung Deutschlands vom Faschismus erlebte Lux nicht mehr. Und seine ihn überlebende Ehefrau bekam nur eine winzige Wiedergutmachung. Die Angst der gemeinsamen Tochter Eva vor einem Wieder-Erstarken der Nazis blieb – lange vor dem Aufkommen der AfD.
Wo bleibt die Jugendliche erreichende Aufarbeitung all dieser Gräuel?