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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Leben in der Unfreiheit

Vom Vater lern­te Hein­rich Lux, gebo­ren am 31. August 1863 in Tar­no­witz, sehr früh Lesen und Schrei­ben. Dem Sohn Bil­dung zu ver­mit­teln, das war Hein­rich Fried­rich August Lux ein zen­tra­les Anlie­gen. Aber es blieb wenig Zeit dafür: Als der Jun­ge gera­de sie­ben Jah­re alt war, starb der Vater an einer Blind­darm­ent­zün­dung. Die Mut­ter Jose­phi­ne blieb mit fünf klei­nen Kin­dern zurück, Unter­stüt­zung durch den Staat gab es so gut wie kei­ne, und Jose­phi­ne näh­te, um die Fami­lie durch­zu­brin­gen, täg­lich bis in die Nacht hin­ein Klei­dung für ande­re. Die Bil­dung ihrer Kin­der lag ihr weni­ger am Her­zen als die Ver­mitt­lung des katho­li­schen Glau­bens, den sie streng auslebte.

Hein­rich Lux ent­wickel­te früh in der Schu­le Wiss­be­gier­de in jeder Hin­sicht, ver­bun­den mit Eigen­wil­lig­keit und Reni­tenz. Dazu trug bei, dass der Unter­richt streng auto­ri­tär ver­mit­telt wur­de. Schlä­ge gehör­ten dazu. Hein­rich Lux wider­setz­te sich mit Krea­ti­vi­tät: »›Hinz‹ vie­le Hob­bies, die nichts mit dem Lehr­plan zu tun hat­ten, lie­ßen ihm kei­ne Zeit für Schul­ar­bei­ten. Ein­mal berei­te­te er sich auf einen Latein­test dadurch vor, dass er alle Voka­beln, die zu ler­nen gewe­sen wären, in ein klei­nes Notiz­buch schrieb, das er in der Hand­flä­che ver­ber­gen konn­te. Dann kon­stru­ier­te er eine Art Gerät, mit dem er das Buch per ela­sti­schem Band an sei­nen Hosen­trä­gern befe­stig­te. Wenn ihn jemand frag­te, was er in der Hand hiel­te, brauch­te er nur auf­zu­ste­hen, sei­nen Arm aus­zu­strecken und sei­ne lee­re Hand vor­zu­zei­gen. Sein betrü­ge­ri­sches Hilfs­mit­tel ver­schwand durch die Bewe­gung auto­ma­tisch im Ärmel. Die Her­stel­lung des Gan­zen dau­er­te zwar mehr als dop­pelt so lan­ge, wie das Ler­nen der Voka­beln gebraucht hät­te – aber es mach­te ihm viel mehr Spaß.« So beschreibt sei­ne Toch­ter Ger­da vie­le Jah­re nach dem Tod des Vaters sei­ne Art, mit der Schu­le umzugehen.

Hein­rich Lux sah Armut um sich her, glaub­te nicht an die Ant­wor­ten der Kir­che – denn sie ver­trö­ste­te die Armen – und such­te nach einer bes­se­ren Gesell­schafts­form. Sei­ne frü­hen Freun­de und er stu­dier­ten klas­si­sche sozia­li­sti­sche Lite­ra­tur: »Über Kaut­sky kamen wir zu Marx. Aber der lang­sa­me Gang der Ent­wick­lung, wie er aus den Marx­schen Theo­rien folg­te, woll­te uns jun­gen Brause­köp­fen so ganz und gar nicht gefal­len. Wir konn­ten das Ziel des Sozia­lis­mus nicht erwar­ten. (…) Wir woll­ten eine neue Gesell­schaft auf der Basis des wis­sen­schaft­li­chen Sozia­lis­mus auf frei­er Erde begründen.«

Die Grup­pe sand­te sogar ein Mit­glied in die USA, um das dor­ti­ge sozia­li­sti­sche Expe­ri­ment »Ika­ri­en« des Fran­zo­sen Éti­en­ne Cabet  zu erle­ben. Aber alle die­se Ver­su­che wur­den kri­mi­na­li­siert: Das noch immer gel­ten­de »Sozia­li­sten­ge­setz«, gerich­tet gegen Kom­mu­ni­sten, Sozia­li­sten, Sozi­al­de­mo­kra­ten und Anar­chi­sten, führ­te zum Bres­lau­er Sozia­li­sten­pro­zess Ende 1887. Lux war Haupt­an­ge­klag­ter und wur­de zu einer zwei­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fe ver­ur­teilt – Ger­hart Haupt­mann, sein Jugend­freund, war als Zeu­ge vor Gericht und wur­de wie ein Ange­klag­ter behandelt.

Für Lux hat­te die Vor­stra­fe viel­fa­che Kon­se­quen­zen: Er durf­te in Deutsch­land nicht wei­ter­stu­die­ren (es hieß: »Ein Sozi­al­de­mo­krat ist ein Mensch mit einem mora­li­schen Defi­zit, der nicht an die Uni­ver­si­tät gehört«) und emi­grier­te in die Schweiz. Dort setz­te er sein Stu­di­um fort, pro­mo­vier­te und wur­de als Autor sozi­al­kri­ti­scher Schrif­ten rela­tiv bekannt. Er schrieb ein Buch über Ika­ri­en, ein »sozi­al­po­li­ti­sches Hand­buch«, ver­fass­te Tex­te über Klas­sen­ju­stiz, Juden­tum und Pro­sti­tu­ti­on und gab ein Büch­lein über Fol­ter und Mord unter dem Zaren in Russ­land heraus.

In der Wei­ma­rer Repu­blik wur­de Hein­rich Lux als Vor­be­straf­ter von »sei­ner« SPD als nicht für Ämter taug­lich abge­lehnt, obwohl er als poli­ti­scher Gefan­ge­ner für die­se Par­tei ein­ge­sperrt wor­den war. Die­se Krän­kung ver­gaß er bis an sein Lebens­en­de nicht. Aber es kam noch viel schlim­mer: Es kam die faschi­sti­sche Dik­ta­tur, die in der Fami­lie Lux vie­le Opfer forderte.

Dora Lux, die drit­te Ehe­frau Hein­richs, erhielt Berufs­ver­bot, wur­de als Jüdin ein­ge­stuft und ent­kam der Depor­ta­ti­on nur mit Mut und Glück. Hein­rich Lux erhielt – zum Geburts­tag! – die Kün­di­gung der Deut­schen Gesell­schaft für Licht-Tech­no­lo­gie, die sich den Nazis voll­stän­dig anbie­der­te. Übri­gens wur­de von die­ser Gesell­schaft nach Lux’ Tod, obwohl sei­ne anti­fa­schi­sti­sche Hal­tung bekannt war, eine Haken­kreuz­fah­ne auf sein Grab gelegt – eine geschmack­lo­se Geste, die nur durch die Reak­ti­on einer Ver­wand­ten, die mit Blu­men das ver­hass­te Sym­bol über­deck­te, gemil­dert wurde.

Hein­rich Lux blieb bis zu sei­nem Tod als Regime-Geg­ner bekannt. Die Gesta­po durch­such­te mehr­fach sei­ne Bücher­re­ga­le, und bei jeder Fami­li­en­fei­er brach­te Lux in latei­ni­scher Spra­che einen Toast aus, der auf Deutsch hieß: »Mögen sie untergehen!«

Bei der letz­ten Wahl vor der »Macht­er­grei­fung« betrat er das Lokal mit dem Gruß der Sozi­al­de­mo­kra­ten. »Wir hat­ten Angst, dass die anwe­sen­den SA-Leu­te ihn ver­prü­geln wür­den«, sag­te spä­ter sei­ne Toch­ter Eva. Und als im Novem­ber 1933 nach dem Ver­bot aller ande­ren Par­tei­en nur noch mit »Ja« oder »Nein« zu Hit­ler und der NSDAP abge­stimmt wer­den konn­te, klang die Stim­me des Hein­rich Lux laut und ver­nehm­lich durchs Lokal: » Wo steht ›Nein‹?«

Sei­ne Toch­ter Ger­da, ein­zi­ge Chro­ni­stin inner­halb der Fami­lie, doku­men­tier­te die Schick­sa­le von Ver­haf­tung, Miss­hand­lung, Flucht und auch Ermor­dung von Fami­li­en­mit­glie­dern. Wer über­leb­te, war zum Schwei­gen gezwun­gen. Vie­le Ange­hö­ri­ge wur­den in die Ver­nich­tungs­la­ger depor­tiert. Man­chen erspar­te Lux durch die Über­ga­be von Zyan­ka­li grö­ße­re Qua­len. Sei­ne im Welt­krieg geschrie­be­nen Memoi­ren nen­nen, bei viel­fa­cher Vor­sicht, eini­ge Namen der von den Nazis ermor­de­ten Bekann­ten, z. B. den des Erich Mühsam.

Die Befrei­ung Deutsch­lands vom Faschis­mus erleb­te Lux nicht mehr. Und sei­ne ihn über­le­ben­de Ehe­frau bekam nur eine win­zi­ge Wie­der­gut­ma­chung. Die Angst der gemein­sa­men Toch­ter Eva vor einem Wie­der-Erstar­ken der Nazis blieb – lan­ge vor dem Auf­kom­men der AfD.

Wo bleibt die Jugend­li­che errei­chen­de Auf­ar­bei­tung all die­ser Gräuel?