Wie angenehm schreibt sich’s klein; dem immer landesüblicher werdenden Trend zur Großschreibung zum Trotz schreibt man in der Lyrik meist klein. Und es scheint fast so zu sein, dass all das Experimentelle, Hochgestochene, Verrückte und Weise, Schöne und Hässliche, das Lyrik nun einmal zu transportieren hat, sich so leichter schriebe. Das Lachhafte auch. Von allem hat Lara Rütters Gedichtband »amoretten in netzen« vieles zu bieten. Zum Köstlichsten gehört das »amorettenglossar« am Ende des Buches, in dem ein Sprachulk mit einem Tiefgang veranstaltet wird, der wohl manchem Dadaisten das Neidgrün ins Gesicht gejagt hätte. Die Amoretten, nackte, geflügelte Knäblein, auch Putten genannt, Begleiter des Amor, müssen es sich gefallen lassen, »motten« gleichgesetzt zu werden: »ihr job: verlieben machen«. Amor (bei Rüter natürlich amor), der »vögelvater, chaoslieber, liebt das testosteron«. An weiblichen Hormonen scheint es indessen auch nicht zu mangeln: »warme gänsehaut meine schenkel hinabwanderte«, kein Wunder, da Motten (die Gleichsetzung mit den Amoretten nicht vergessen!) ihr Nest im Schamhaar bauen. Oder ein Satz Pingpong wird unversehens zum Entkleidungsspiel.
Aber es wird nicht nur gespielt, sondern auch fleißig gechattet. Chat-Partner Ovidius Naso kommt im Glossar nicht vor, aber er tippt dem »lovey dovey dummchen« die Botschaft: »alle hände voll to do.« Wenn man sich vorstellt, er hätte das aus seinem Verbannungsort Tomis geschrieben, wo er gerade dabei ist, die »Tristia« zu schreiben, nicht zu tippen, klar! Und dies einem »dummchen«. Und lovey dovey? Vermutlich hätte es Ovid gefallen, auch ein bisschen »trara«, zumal sich, wie im Gedicht »hybrid«, »lara« darauf reimt, eine Nymphe hier, die ihre Zunge sucht. Vielleicht würde ihn das die Grämlichkeit vergessen lassen, die ihn auf seinem Sockel in Constanţa (Tomis) zeichnet, weil er sich sorgt, dass seine Gebeine nicht weich ruhen werden. Aber darauf kommt es, was er nicht wissen konnte, gar nicht an, wenn man sozusagen auf Computer- oder Handybildschirmen wieder auferstehen kann.
So locker manches daherkommt in diesem Buch, das auch Großsprecherisches und provozierend Lässiges kennt, so ist es, und das macht es so sympathisch, an der tradierten Lyrik orientiert – »gleiter« etwa, als klassisches Sonett, es ist eines der besten Gedichte des ganzen Bandes. Mit einem überaus einprägsamen Bild hebt es an: »ich muss noch ewig an dieser festplatte hängen, um woanders / erinnerung zu kreieren.« Das lyrische Ich erkennt, dass es Fototapete für Hoffnung hielt, die es nun aufzurollen gilt. Treffender lässt sich Desillusionierung kaum beschreiben. Aber virtuos beherrscht die Autorin die Waage der Ironie, die alles lindert: »man glaubt mir nie / in mir keimt ein genitiv.« Das wäre schön, wenn dem verachteten Genitiv ein paar Keime wüchsen.
So klassisch manches daherkommt, so speist sich die Lyrik Lara Rütters auch aus dem Wissenschaftsdeutsch (und man lese sehr genau und scheue das Lexikon nicht, wenn man darauf trifft) und den alltäglichen Sprachmustern, die uns umwabern, also den Computerausdrücken, den Idiomen der Chatrooms, dem Halbenglisch der Alltagswelt. Was einen sonst zornig machen kann, also die Vermischung deutscher und englischer Sprache, ist hier oft ein bereicherndes, durchaus poetisches Ingrediens der Gedichte. Es ist erstaunlich, welche Klangwirkungen Lara Rüter damit zu erzeugen weiß: »mein verschwinden in all-ocean-feelings. In so viele sterne.« Das ist kein »trara«, das zwar auch vom Leser vorgefunden wird, aber die geschickte Lyrikerin lässt uns, da sie klein schreibt (siehe oben!), im Ungewissen dahinschweben. Meint sie die Interjektion, also den fröhliche Horn- oder Trompetensignale nachahmenden Ausruf? Oder das Trara, das ein allerlei Lärm und Umstände verursachendes Aufsehen meint? Vielleicht haben lovey dovey dummchen und Ovid beides gefunden – was zu wünschen wäre, denn damit wären sie beide mitten im Leben. Ich entscheide mich für den Trompetenstoß, weil er meiner Freude darüber Ausdruck verleiht, dass die deutsche Lyrik so frisch und anregend daherkommen kann wie in diesem Buch. Und da »tippen«, »tippt«, »tipp« häufig gebrauchte Verbformen in den Gedichten sind, so darf man vielleicht hier einmal den Imperativ vorschlagen: WEITRERTIPPEN! Die Großschreibung ist betonende Absicht, damit sich nicht nur Amoretten, sondern viele Lyrik lesende Menschen in den Netzen verfangen.
Lara Rüter: amoretten in netzen. Gedichte. Verlag Das Wunderhorn 2024, 85 S., 22 €.