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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Marx, Merz und die Schulden

Fünf­zig Druck­sei­ten wid­met Karl Marx in sei­nem Haupt­werk »Das Kapi­tal« dem vor­letz­ten Kapi­tel, das er mit dem Titel »Die soge­nann­te ursprüng­li­che Akku­mu­la­ti­on« ver­sieht.* Dort ver­spot­tet er zunächst die »fade Kin­de­rei«, die in dem Glau­ben besteht, der Kapi­ta­lis­mus wäre idyl­lisch und har­mo­nisch auf die Welt gekom­men wie die sanft im April aus dem Dreck her­aus auf­blü­hen­de Tul­pe: »Die ursprüng­li­che Akku­mu­la­ti­on spielt in der poli­ti­schen Öko­no­mie unge­fähr die­sel­be Rol­le wie der Sün­den­fall in der Theo­lo­gie. Adam biss in den Apfel, und damit kam über das Men­schen­ge­schlecht die Sün­de. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anek­do­te der Ver­gan­gen­heit erzählt wird. In einer längst ver­flos­se­nen Zeit gab es auf der einen Sei­te eine flei­ßi­ge, intel­li­gen­te und vor allem spar­sa­me Eli­te und auf der and­ren fau­len­zen­de, ihr alles und mehr ver­ju­beln­de Lum­pen. (…) So kam es, dass die ersten Reich­tum akku­mu­lier­ten und die letz­te­ren schließ­lich nichts zu ver­kau­fen hat­ten als ihre eig­ne Haut.«

Die Geschich­te die­ser soge­nann­ten ursprüng­li­chen Akku­mu­la­ti­on ist eine Geschich­te bru­ta­ler Gewalt. »Der Pro­zess, der das Kapi­tal­ver­hält­nis schafft, kann also nichts and­res sein als der Schei­dungs­pro­zess des Arbei­ters vom Eigen­tum an sei­nen Arbeits­be­din­gun­gen, ein Pro­zess, der einer­seits die gesell­schaft­li­chen Lebens- und Pro­duk­ti­ons­mit­tel in Kapi­tal ver­wan­delt, and­rer­seits die unmit­tel­ba­ren Pro­du­zen­ten in Lohn­ar­bei­ter.« Im wei­te­ren Ver­lauf die­ses Kapi­tels ent­wickelt Marx histo­risch, wie die­ser Schei­dungs­pro­zess von­stat­ten­ging, und resü­miert schließ­lich: »Die ver­schie­de­nen Momen­te der ursprüng­li­chen Akku­mu­la­ti­on ver­tei­len sich nun, mehr oder min­der in zeit­li­cher Rei­hen­fol­ge, nament­lich auf Spa­ni­en, Por­tu­gal, Hol­land, Frank­reich und Eng­land. In Eng­land wer­den sie Ende des 17. Jahr­hun­derts syste­ma­tisch zusam­men­ge­fasst im Kolo­ni­al­sy­stem, Staats­schul­den­sy­stem, moder­nen Steu­er­sy­stem und Pro­tek­ti­ons­sy­stem. Die­se Metho­den beru­hen zum Teil auf bru­tal­ster Gewalt, z. B. das Kolo­ni­al­sy­stem. Alle aber benut­zen die Staats­macht, die kon­zen­trier­te und orga­ni­sier­te Gewalt der Gesell­schaft, um den Ver­wand­lungs­pro­zess der feu­da­len in die kapi­ta­li­sti­sche Pro­duk­ti­ons­wei­se treib­haus­mä­ßig zu för­dern.« Die bereits hier gleich an zwei­ter Stel­le erwähn­te »Staats­schuld« spielt in die­sem System eine zen­tra­le Rol­le. Sie kre­iert einen Geld­an­spruch pri­va­ter Rei­cher, die der Mas­se der Gesell­schaft via Staat zwangs­wei­se Geld lei­hen und die­ses Geld dann ver­zinst via Staat – also nöti­gen­falls mit Gewalt – wie­der ein­trei­ben. Die weni­gen Rei­chen selbst, einer so aus­ge­plün­der­ten Volks­mas­se gegen­über­ste­hend, wären über­haupt nicht in der Lage, sich die­se gelie­he­nen Gel­der mit Zin­sen von den Schuld­nern wie­der­zu­ho­len. Das besorgt für sie der Gewalt­ap­pa­rat, der sich Staat nennt.

»Die Staats­schuld«, so Marx wei­ter, »d. h. die Ver­äu­ße­rung des Staats – ob des­po­tisch, kon­sti­tu­tio­nell oder repu­bli­ka­nisch – drückt der kapi­ta­li­sti­schen Ära ihren Stem­pel auf. Der ein­zi­ge Teil des soge­nann­ten Natio­nal­reich­tums, der wirk­lich in den Gesamt­be­sitz der moder­nen Völ­ker ein­geht, ist – ihre Staats­schuld. (…) Der öffent­li­che Kre­dit wird zum Cre­do des Kapi­tals. (…) Die Staats­gläu­bi­ger geben in Wirk­lich­keit nichts, denn die gelie­he­ne Sum­me wird in öffent­li­che, leicht über­trag­ba­re Schuld­schei­ne ver­wan­delt, die in ihren Hän­den fort­fun­gie­ren, ganz als wären sie eben­so viel Bar­geld.« Die­se Staats­schuld habe erst die »Agio­ta­ge«, also das Spe­ku­la­ti­ons­ge­schäft »empor­ge­bracht, in einem Wort: das Bör­sen­spiel und die moder­ne Ban­ko­kra­tie«. Ohne die Staats­ver­schul­dung gibt es nicht nur kei­ne kapi­ta­li­sti­sche Geburt, son­dern auch kei­ne kapi­ta­li­sti­sche Exi­stenz – sie wird die »kapi­ta­li­sti­sche Ära« so lan­ge beglei­ten, wie sie existiert.

Mit den kurz vor Tores­schluss vom abge­wähl­ten Bun­des­tag im Schnell­ver­fah­ren durch­ge­peitsch­ten Ver­fas­sungs­än­de­run­gen ist der neu­en Bun­des­tags­mehr­heit das Recht ein­ge­räumt wor­den, mit­hil­fe der unaus­rott­ba­ren alten deut­schen Mär von der Bedro­hung durch den rus­si­schen Des­po­tis­mus per ein­fa­cher Mehr­heit zugun­sten der Auf­rü­stung Staats­schul­den in prak­tisch unbe­grenz­ter Höhe auf­zu­neh­men. Die in den Koali­ti­ons­ver­hand­lun­gen auf dem Tisch lie­gen­den Pake­te, die da für die näch­sten Mona­te zusam­men­ge­schnürt wer­den, belau­fen sich in der Sum­me auf rund eine Bil­li­on Euro. Auf­ge­bracht wer­den sie letzt­lich von den Erwerbs­tä­ti­gen die­ses 85-Mil­lio­nen-Vol­kes. Wenn 85 Mil­lio­nen sich 1 Mil­li­ar­de Euro lei­hen, ver­schul­den sie sich pro Kopf mit knapp 12 Euro. Da knapp die Hälf­te die­ses Vol­kes gegen Lohn arbei­tet (und von die­sem Lohn dann über die Ren­ten­sy­ste­me eini­ges davon an die nicht mehr Erwerbs­tä­ti­gen abgibt), drückt ihnen der Staat mit­hin pro Kopf und gelie­he­ner Mil­li­ar­de 24 Euro Schul­den unge­fragt in ihre Kon­ten. Eine Bil­li­on sind 1000 Mil­li­ar­den. Also hat nach den Beschlüs­sen des alten und dar­auf auf­bau­end des neu­en Bun­des­ta­ges jeder Erwerbs­tä­ti­ge die­ses Vol­kes bald 24.000 Euro Schul­den auf sei­nem Konto.

Die leiht sich der neue Kanz­ler bei guten alten Bekann­ten – den Finanz­in­ve­sto­ren, in deren Zen­trum sol­che Insti­tu­tio­nen wie »Black­Rock« ste­hen. Dafür bekom­men die mit dem Bun­des­ad­ler ver­se­he­ne Schuld­schei­ne, die, wie Marx erwähnt, für sie wie Bar­geld sind. Sie haben aber einen Unter­schied zum Bar­geld, mit dem wir ein­kau­fen gehen, einen Zins­satz. Der liegt im Moment noch bei knapp drei Pro­zent, Ten­denz stei­gend. Denn die inter­na­tio­nal gut ver­netz­te Ban­de der Geld­ver­lei­her erhebt beim Kauf die­ser Staats­an­lei­hen einen Risi­ko­zu­schlag. Bei den gewal­ti­gen Sum­men, sagen sie, und bei dem, was davon gekauft wird – Pan­zer, Droh­nen, ande­res Kriegs­ma­te­ri­al –, bestün­de ein gewis­ses Risi­ko, dass der Schuld­ner das Geld nicht zurück­zah­len kann. Kei­ner wis­se wirk­lich, sagen sie, wie Krie­ge aus­ge­hen, und bei den letz­ten bei­den Malen sei es für den deut­schen Staat nicht gut aus­ge­gan­gen. Also wer­den der jet­zi­ge Kanz­ler und sein Finanz­mi­ni­ster Lars Kling­beil sich wohl zu einem höhe­ren Zins­satz das Geld lei­hen müs­sen, das sie dann an Rhein­me­tall und ande­re wei­ter­rei­chen, damit die ihnen Gra­na­ten und Droh­nen liefern.

Jeder Häus­le­bau­er weiß und jeder Bank­lehr­ling im ersten Lehr­jahr auch: Bei Zins­sät­zen ab fünf Pro­zent und lan­gen Lauf­zei­ten fließt am Ende die­sel­be Sum­me, die sich der Bau­herr am Anfang die­ses Geschäfts leiht und in ein Haus ver­wan­deln kann, an die Bank als Zins zurück. Das ist nicht anders, wenn der ein­zel­ne deut­sche Erwerbs­tä­ti­ge sich das Geld nicht selbst leiht, son­dern Herr Merz das in sei­nem Namen und auf sei­ne Rech­nung tut. Am Schluss die­ser Bil­lio­nen­sau­se steht er – wenn’s gut läuft und alles Geld fließt zurück – mit dem Dop­pel­ten der auf sei­ne Rech­nung gezo­ge­nen finan­zi­el­len Ver­pflich­tun­gen da. Er hat dann 50.000 Euro gege­ben – die eine Hälf­te den alten Freun­den von Merz bei Black­Rock und Co., die ande­re Hälf­te Herrn Pap­per­ger von Rhein­me­tall und den ande­ren neu­en Rüstungs­in­du­strie-Freun­den von Herrn Merz. Anders als der Kre­dit, den der deut­sche Michel für sein neu­es Auto oder sein Eigen­heim auf­ge­nom­men hat, steht sein Name unter kei­nem Ver­trag. Er wur­de über sei­nen Kopf hin­weg beschlos­sen. Er ist Schuld­ner gewor­den ohne sei­ne Zustimmung.

Für die­se Ver­schul­dungs­or­gie ist Herr Fried­rich Merz die Ide­al­be­set­zung. Als er von Ange­la Merz vor­über­ge­hend aus sei­ner hoff­nungs­vol­len Kar­rie­re­bahn bei der christ­li­chen Uni­on gewor­fen wur­de, heu­er­te er von 2016 bis 2021 unter ande­rem bei Black­Rock an und ver­kün­de­te 2018 gegen­über der BILD-Zei­tung, er gin­ge in kei­nem Jahr »unter einer Mil­li­on« nach Hau­se – brut­to, wie er beton­te, um den Abstand zum Kanz­ler­ge­halt nicht zu groß wer­den zu lassen.

In sei­nem Buch »Die Kapi­ta­li­sten des 21. Jahr­hun­derts« beschreibt Wer­ner Rüge­mer aus­führ­lich die Arbeits­wei­se der Finanz­in­ve­sto­ren: »Black­Rock & Co. set­zen stän­dig Tei­le ihrer Akti­en von Luft­han­sa, Daim­ler, Sie­mens, Coca-Cola, Gold­mann Sachs usw. zur Spe­ku­la­ti­on ein. (…) Black­Rock hat dabei viel­fach die Mel­de­pflich­ten nach §§ 21, 22 und 25 Wert­pa­pier­han­dels­ge­setz ver­letzt. Die BaFin ver­häng­te nach Stich­pro­ben im Jahr 2013 des­halb im März 2015 für Black­Rock eine Geld­bu­ße von 3,25 Mil­lio­nen Euro. (…) ›Black­Rocks Mit­tei­lun­gen über gehal­te­ne Stimm­rechts­an­tei­le und Finanz­in­stru­men­te waren inhalt­lich unrich­tig und/​oder kamen zu spät‹, so die Bafin. (…) Black­Rock zahl­te kom­men­tar­los die 3,25 Mil­lio­nen aus der Por­to­kas­se der deut­schen Niederlassung.«

Die Auf­sicht über die von Rüge­mer erwähn­ten »Por­to­kas­se der deut­schen Nie­der­las­sung« über­nahm ein Jahr nach die­ser Zah­lung der desi­gnier­te Kanz­ler der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land – er wur­de Chef des Auf­sichts­rats von Black­Rock Deutsch­land. In der Funk­ti­on, in die er jetzt gewech­selt ist, wird er sich im Namen jedes Deut­schen und jeder Deut­schen von sei­nen alten Freun­den Geld lei­hen, das dann in zehn oder noch mehr Jah­ren ver­zinst an die Geld­ge­ber zurück­fließt. Das sind, wie Marx dar­ge­legt hat, Zwangs­gel­der. Denn nichts ande­res sind Steuern.

Bezie­he ich ein Gehalt, kann ich mit dem einen Teil selbst ent­schei­den, ob ich mir dafür eine Piz­za oder mei­nen Kin­dern Legos kau­fe. Der Teil, der von mei­nem Gehalt vom Staat ein­be­hal­ten wird (ein­schließ­lich der Umsatz­steu­er für mei­ne Piz­za und die Legos mei­ner Söh­ne) wird mei­ner Ver­fü­gungs­ge­walt ent­zo­gen. Er geht in die Ver­fü­gungs­ge­walt des Staats über, dem ich die­se Steu­ern zu über­wei­sen habe. Das gilt eben­so für die Rück­zah­lun­gen der Schul­den. Die von Marx so genann­te »Ban­ko­kra­tie« blüht auf. Für die Pfle­ge die­ser Sumpf­blü­te gibt es hier­zu­lan­de kei­nen Bes­se­ren als Herrn Merz. Sei­ne Kanz­ler­schaft hat eine inne­re Logik. Er ist als Kanz­ler der Auf­rü­stung und der Staats­schul­den eine Ide­al­be­set­zung, denn die­ses dia­bo­li­sche Dop­pel ist der Kern des Gewalt­ver­hält­nis­ses, das Kapi­ta­lis­mus heißt.

* Das dar­auf­fol­gen­de letz­te Kapi­tel die­ses Wer­kes trägt übri­gens den Titel »Die moder­ne Kolo­ni­sa­ti­ons­theo­rie«. Die­se bei­den Kapi­tel zusam­men braucht jeder Mensch, der den Cha­rak­ter der gegen­wär­ti­gen Epo­che ver­ste­hen will, der in sei­nem Wesen der Kampf um die Voll­endung der vom Kapi­ta­lis­mus aus­ge­hen­den De-Kolo­nia­li­sie­rung der Welt ist – aber dazu ein ande­res Mal an die­ser Stelle.