Fünfzig Druckseiten widmet Karl Marx in seinem Hauptwerk »Das Kapital« dem vorletzten Kapitel, das er mit dem Titel »Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation« versieht.* Dort verspottet er zunächst die »fade Kinderei«, die in dem Glauben besteht, der Kapitalismus wäre idyllisch und harmonisch auf die Welt gekommen wie die sanft im April aus dem Dreck heraus aufblühende Tulpe: »Die ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biss in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verflossenen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. (…) So kam es, dass die ersten Reichtum akkumulierten und die letzteren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut.«
Die Geschichte dieser sogenannten ursprünglichen Akkumulation ist eine Geschichte brutaler Gewalt. »Der Prozess, der das Kapitalverhältnis schafft, kann also nichts andres sein als der Scheidungsprozess des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen, ein Prozess, der einerseits die gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsmittel in Kapital verwandelt, andrerseits die unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter.« Im weiteren Verlauf dieses Kapitels entwickelt Marx historisch, wie dieser Scheidungsprozess vonstattenging, und resümiert schließlich: »Die verschiedenen Momente der ursprünglichen Akkumulation verteilen sich nun, mehr oder minder in zeitlicher Reihenfolge, namentlich auf Spanien, Portugal, Holland, Frankreich und England. In England werden sie Ende des 17. Jahrhunderts systematisch zusammengefasst im Kolonialsystem, Staatsschuldensystem, modernen Steuersystem und Protektionssystem. Diese Methoden beruhen zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzen die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozess der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern.« Die bereits hier gleich an zweiter Stelle erwähnte »Staatsschuld« spielt in diesem System eine zentrale Rolle. Sie kreiert einen Geldanspruch privater Reicher, die der Masse der Gesellschaft via Staat zwangsweise Geld leihen und dieses Geld dann verzinst via Staat – also nötigenfalls mit Gewalt – wieder eintreiben. Die wenigen Reichen selbst, einer so ausgeplünderten Volksmasse gegenüberstehend, wären überhaupt nicht in der Lage, sich diese geliehenen Gelder mit Zinsen von den Schuldnern wiederzuholen. Das besorgt für sie der Gewaltapparat, der sich Staat nennt.
»Die Staatsschuld«, so Marx weiter, »d. h. die Veräußerung des Staats – ob despotisch, konstitutionell oder republikanisch – drückt der kapitalistischen Ära ihren Stempel auf. Der einzige Teil des sogenannten Nationalreichtums, der wirklich in den Gesamtbesitz der modernen Völker eingeht, ist – ihre Staatsschuld. (…) Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. (…) Die Staatsgläubiger geben in Wirklichkeit nichts, denn die geliehene Summe wird in öffentliche, leicht übertragbare Schuldscheine verwandelt, die in ihren Händen fortfungieren, ganz als wären sie ebenso viel Bargeld.« Diese Staatsschuld habe erst die »Agiotage«, also das Spekulationsgeschäft »emporgebracht, in einem Wort: das Börsenspiel und die moderne Bankokratie«. Ohne die Staatsverschuldung gibt es nicht nur keine kapitalistische Geburt, sondern auch keine kapitalistische Existenz – sie wird die »kapitalistische Ära« so lange begleiten, wie sie existiert.
Mit den kurz vor Toresschluss vom abgewählten Bundestag im Schnellverfahren durchgepeitschten Verfassungsänderungen ist der neuen Bundestagsmehrheit das Recht eingeräumt worden, mithilfe der unausrottbaren alten deutschen Mär von der Bedrohung durch den russischen Despotismus per einfacher Mehrheit zugunsten der Aufrüstung Staatsschulden in praktisch unbegrenzter Höhe aufzunehmen. Die in den Koalitionsverhandlungen auf dem Tisch liegenden Pakete, die da für die nächsten Monate zusammengeschnürt werden, belaufen sich in der Summe auf rund eine Billion Euro. Aufgebracht werden sie letztlich von den Erwerbstätigen dieses 85-Millionen-Volkes. Wenn 85 Millionen sich 1 Milliarde Euro leihen, verschulden sie sich pro Kopf mit knapp 12 Euro. Da knapp die Hälfte dieses Volkes gegen Lohn arbeitet (und von diesem Lohn dann über die Rentensysteme einiges davon an die nicht mehr Erwerbstätigen abgibt), drückt ihnen der Staat mithin pro Kopf und geliehener Milliarde 24 Euro Schulden ungefragt in ihre Konten. Eine Billion sind 1000 Milliarden. Also hat nach den Beschlüssen des alten und darauf aufbauend des neuen Bundestages jeder Erwerbstätige dieses Volkes bald 24.000 Euro Schulden auf seinem Konto.
Die leiht sich der neue Kanzler bei guten alten Bekannten – den Finanzinvestoren, in deren Zentrum solche Institutionen wie »BlackRock« stehen. Dafür bekommen die mit dem Bundesadler versehene Schuldscheine, die, wie Marx erwähnt, für sie wie Bargeld sind. Sie haben aber einen Unterschied zum Bargeld, mit dem wir einkaufen gehen, einen Zinssatz. Der liegt im Moment noch bei knapp drei Prozent, Tendenz steigend. Denn die international gut vernetzte Bande der Geldverleiher erhebt beim Kauf dieser Staatsanleihen einen Risikozuschlag. Bei den gewaltigen Summen, sagen sie, und bei dem, was davon gekauft wird – Panzer, Drohnen, anderes Kriegsmaterial –, bestünde ein gewisses Risiko, dass der Schuldner das Geld nicht zurückzahlen kann. Keiner wisse wirklich, sagen sie, wie Kriege ausgehen, und bei den letzten beiden Malen sei es für den deutschen Staat nicht gut ausgegangen. Also werden der jetzige Kanzler und sein Finanzminister Lars Klingbeil sich wohl zu einem höheren Zinssatz das Geld leihen müssen, das sie dann an Rheinmetall und andere weiterreichen, damit die ihnen Granaten und Drohnen liefern.
Jeder Häuslebauer weiß und jeder Banklehrling im ersten Lehrjahr auch: Bei Zinssätzen ab fünf Prozent und langen Laufzeiten fließt am Ende dieselbe Summe, die sich der Bauherr am Anfang dieses Geschäfts leiht und in ein Haus verwandeln kann, an die Bank als Zins zurück. Das ist nicht anders, wenn der einzelne deutsche Erwerbstätige sich das Geld nicht selbst leiht, sondern Herr Merz das in seinem Namen und auf seine Rechnung tut. Am Schluss dieser Billionensause steht er – wenn’s gut läuft und alles Geld fließt zurück – mit dem Doppelten der auf seine Rechnung gezogenen finanziellen Verpflichtungen da. Er hat dann 50.000 Euro gegeben – die eine Hälfte den alten Freunden von Merz bei BlackRock und Co., die andere Hälfte Herrn Papperger von Rheinmetall und den anderen neuen Rüstungsindustrie-Freunden von Herrn Merz. Anders als der Kredit, den der deutsche Michel für sein neues Auto oder sein Eigenheim aufgenommen hat, steht sein Name unter keinem Vertrag. Er wurde über seinen Kopf hinweg beschlossen. Er ist Schuldner geworden ohne seine Zustimmung.
Für diese Verschuldungsorgie ist Herr Friedrich Merz die Idealbesetzung. Als er von Angela Merz vorübergehend aus seiner hoffnungsvollen Karrierebahn bei der christlichen Union geworfen wurde, heuerte er von 2016 bis 2021 unter anderem bei BlackRock an und verkündete 2018 gegenüber der BILD-Zeitung, er ginge in keinem Jahr »unter einer Million« nach Hause – brutto, wie er betonte, um den Abstand zum Kanzlergehalt nicht zu groß werden zu lassen.
In seinem Buch »Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts« beschreibt Werner Rügemer ausführlich die Arbeitsweise der Finanzinvestoren: »BlackRock & Co. setzen ständig Teile ihrer Aktien von Lufthansa, Daimler, Siemens, Coca-Cola, Goldmann Sachs usw. zur Spekulation ein. (…) BlackRock hat dabei vielfach die Meldepflichten nach §§ 21, 22 und 25 Wertpapierhandelsgesetz verletzt. Die BaFin verhängte nach Stichproben im Jahr 2013 deshalb im März 2015 für BlackRock eine Geldbuße von 3,25 Millionen Euro. (…) ›BlackRocks Mitteilungen über gehaltene Stimmrechtsanteile und Finanzinstrumente waren inhaltlich unrichtig und/oder kamen zu spät‹, so die Bafin. (…) BlackRock zahlte kommentarlos die 3,25 Millionen aus der Portokasse der deutschen Niederlassung.«
Die Aufsicht über die von Rügemer erwähnten »Portokasse der deutschen Niederlassung« übernahm ein Jahr nach dieser Zahlung der designierte Kanzler der Bundesrepublik Deutschland – er wurde Chef des Aufsichtsrats von BlackRock Deutschland. In der Funktion, in die er jetzt gewechselt ist, wird er sich im Namen jedes Deutschen und jeder Deutschen von seinen alten Freunden Geld leihen, das dann in zehn oder noch mehr Jahren verzinst an die Geldgeber zurückfließt. Das sind, wie Marx dargelegt hat, Zwangsgelder. Denn nichts anderes sind Steuern.
Beziehe ich ein Gehalt, kann ich mit dem einen Teil selbst entscheiden, ob ich mir dafür eine Pizza oder meinen Kindern Legos kaufe. Der Teil, der von meinem Gehalt vom Staat einbehalten wird (einschließlich der Umsatzsteuer für meine Pizza und die Legos meiner Söhne) wird meiner Verfügungsgewalt entzogen. Er geht in die Verfügungsgewalt des Staats über, dem ich diese Steuern zu überweisen habe. Das gilt ebenso für die Rückzahlungen der Schulden. Die von Marx so genannte »Bankokratie« blüht auf. Für die Pflege dieser Sumpfblüte gibt es hierzulande keinen Besseren als Herrn Merz. Seine Kanzlerschaft hat eine innere Logik. Er ist als Kanzler der Aufrüstung und der Staatsschulden eine Idealbesetzung, denn dieses diabolische Doppel ist der Kern des Gewaltverhältnisses, das Kapitalismus heißt.
* Das darauffolgende letzte Kapitel dieses Werkes trägt übrigens den Titel »Die moderne Kolonisationstheorie«. Diese beiden Kapitel zusammen braucht jeder Mensch, der den Charakter der gegenwärtigen Epoche verstehen will, der in seinem Wesen der Kampf um die Vollendung der vom Kapitalismus ausgehenden De-Kolonialisierung der Welt ist – aber dazu ein anderes Mal an dieser Stelle.