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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Pissarro, der »Vater« des Impressionismus

Nun schon seit mehr als 100 Jah­ren ist der Impres­sio­nis­mus die belieb­te­ste aller moder­nen Kunst­rich­tun­gen. Der Hun­ger auf impres­sio­ni­sti­sche Gemäl­de und Zeich­nun­gen scheint uner­sätt­lich, obwohl der Impres­sio­nis­mus doch eine prä­mo­der­ne, unter­ge­gan­ge­ne Welt ver­kör­pert. Ein Grund für des­sen Beliebt­heit ist wohl der lebens­be­ja­hen­de Opti­mis­mus die­ser Bil­der. Um 1870 hat­te eine enor­me Erwei­te­rung des The­men­be­rei­ches der abzu­bil­den­den Ver­gnü­gun­gen statt­ge­fun­den. Der Impres­sio­nis­mus fand sei­ne Sujets in Lebens­freu­den, die sich fast jeder lei­sten konn­te; und er nahm sei­ne Schil­de­run­gen direkt aus dem Leben der Maler selbst. Renoir und Monet, Sis­ley und Cail­le­bot­te, Degas und Piss­ar­ro waren sehr ver­schie­den­ar­ti­ge Künst­ler und sahen die Welt auf ganz unter­schied­li­che Wei­se, nicht nur sti­li­stisch, son­dern auch mora­lisch: So besteht ein gro­ßer Unter­schied zwi­schen Renoirs rosi­gen »Jeu­nes fil­les en fleur« und der küh­len, rea­li­sti­schen Sicht, mit der Degas die Welt der arbei­ten­den Frau­en, der Bal­lett­tän­ze­rin­nen eben­so wie der Büg­le­rin­nen, betrach­te­te. Wäh­rend Piss­ar­ro mit der Leucht­kraft der Far­ben und der Beto­nung des Lichts immer etwas Stim­mungs­haf­tes, ja Melan­cho­li­sches erzeug­te, ver­such­te Seu­rat in einer fast wis­sen­schaft­li­chen oder zumin­dest syste­ma­ti­schen Wei­se der Dar­stel­lung der Licht­wir­kung bei­zu­kom­men. Monet wie­der­um ver­setz­te die Lein­wand durch unzäh­li­ge win­zi­ge hin­ge­tüp­fel­te Pin­sel­stri­che in eine opti­sche Vibration.

Den­noch haben all die­se Maler etwas gemein­sam: das Gefühl, dass das städ­ti­sche und länd­li­che Leben das unge­trüb­te Bild einer hei­len Welt wider­spie­geln könn­te. Die­se Welt mag wohl iro­nisch zu betrach­ten sein, nie­mals aber ver­zwei­felt, und so reiz­voll sie auch erscheint, unkri­tisch ist sie nie ahr­ge­nom­men wor­den. Das bezeugt das Werk Camil­le Piss­ar­ros, der als Maler atmo­sphä­ri­scher Land­schaf­ten, des länd­li­chen Lebens auch den indu­stri­el­len Fort­schritt zur Kennt­nis nahm und in sei­nen spä­ten Jah­ren raum­grei­fen­de, beweg­te Stadt­an­sich­ten schuf. Das Muse­um Bar­be­ri­ni, das in den ver­gan­ge­nen Jah­ren mit Zäsur-set­zen­den Aus­stel­lun­gen das Bezie­hungs­ge­flecht zwi­schen ein­zel­nen Künst­lern (Cross, Monet, Vla­min­ck), Grup­pie­run­gen und Rich­tun­gen des Impres­sio­nis­mus trans­pa­rent wer­den ließ, wid­met sich nun Piss­ar­ro, dem »Vater« des Impres­sio­nis­mus, wie er auch genannt wird. In Zusam­men­ar­beit mit dem Den­ver-Art-Muse­um wur­den mehr als 100 Arbei­ten Piss­ar­ros aus 50 inter­na­tio­na­len Samm­lun­gen zusammengetragen.

Camil­le Piss­ar­ro, Sohn einer jüdi­schen Kauf­manns­fa­mi­lie, auf der Antil­len-Insel St. Tho­mas gebo­ren, ließ sich 1855 in Frank­reich nie­der. Beein­flusst von Corot, dem sen­si­blen Land­schafts­ma­ler von Bar­bi­zon, mal­te er zunächst stim­mungs­vol­le Land­schaf­ten, oft von mensch­li­chen Gestal­ten belebt, ohne aller­dings Corots roman­ti­sche Nym­phen­welt zu über­neh­men. Am lieb­sten arbei­te­te er vor der frei­en Natur. Ab 1859 – er hat­te erst­ma­lig im »Salon«, der tra­di­tio­nel­len Pari­ser Kunst­aus­stel­lung, ein Land­schafts­bild in lyri­scher Tonig­keit aus­ge­stellt – freun­de­te er sich mit Monet an und ent­wickel­te sich im fol­gen­den Jahr­zehnt zu einem bedeu­ten­den Ver­tre­ter, ja, auch »Leh­rer« des Impres­sio­nis­mus. Cour­bet, unter des­sen Ein­fluss er sich mehr und mehr von Corot ent­fern­te, brach­te ihn mit der Grup­pe der »Rea­li­sten« in Ver­bin­dung. Leuch­ten­de Far­big­keit, ein rosa far­bi­ger Him­mel, dräu­en­de Wol­ken oder ein hei­ter strah­len­der Som­mer­tag prä­gen jeweils die Land­schaft. Die dick auf­ge­tra­ge­ne Mate­rie und das kör­per­li­che Ele­ment cha­rak­te­ri­sie­ren sei­ne Malerei.

1863 betei­lig­te er sich am Salon des Refusés und schloss sich immer enger an die Künst­ler des Café Guer­bo­is an. Er war Cézan­ne und Guil­laumin freund­schaft­lich ver­bun­den, und gera­de Cézan­ne, der rasch einer der eigen­wil­lig­sten Künst­ler Frank­reichs wur­de, hat ihm dann für das von ihm Gelern­te gedankt und ihn als den »demü­ti­gen und rie­sen­gro­ßen Piss­ar­ro« bezeich­net, der von allen Künst­lern der Natur am näch­sten gekom­men wäre. In Piss­ar­ros rea­li­stisch-poe­ti­schen Land­schaf­ten, den Sze­nen länd­lich-bäu­er­li­chen Lebens und har­mo­ni­scher Ver­bun­den­heit von Mensch und Natur tritt neben dem per­spek­ti­vi­schen und kon­struk­ti­ven Bild­auf­bau, der trotz der Zufäl­lig­keit des gewähl­ten Motivs erkenn­bar ist, immer auch die Far­be als Kom­po­si­ti­ons­ele­ment auf (»Pon­toi­se«, um 1868). Alles ist in Bewe­gung, der sei­nen Acker pflü­gen­de Bau­er, das Pfer­de­fuhr­werk auf der Stra­ße, die Men­schen auf dem Weg zur Arbeit, der Spa­zier­gän­ger, der gera­de einen qual­men­den Schorn­stein ins Auge nimmt. Wohl unter dem Ein­fluss von Cézan­ne wur­de die Kom­po­si­ti­on sei­ner Bil­der immer prä­zi­ser (»Der Gar­ten von Les Mathurins in Pon­toi­se«, 1876), die Gebäu­de wur­den kubi­scher, die Bil­der gewan­nen an räum­li­cher Tie­fe (»Die Land­stra­ße«, 1880). Sie wur­den zu licht­durch­flu­te­ten Bild­ereig­nis­sen (»Blü­hen­de Pflau­men­bäu­me. Érag­ny«, 1894; »Früh­ling in Érag­ny«, 1900). Es gab nun einen logi­schen Zusam­men­hang von Bewöl­kung, Licht und Schat­ten, eine bild­ge­setz­li­che Über­ein­stim­mung von Him­mels- und Erdzone.

1870 war Piss­ar­ro vor den deut­schen Trup­pen nach Lon­don geflo­hen, hat­te hier die gro­ße eng­li­sche Land­schafts­kunst eines Consta­ble und Tur­ner stu­diert (in »Lord­ship Lane Sta­ti­on, Dul­wich«, 1871, fährt eine Loko­mo­ti­ve direkt auf den Betrach­ter zu) und war dann wie­der nach Frank­reich zurück­ge­kehrt. 1874 mach­ten sich die Impres­sio­ni­sten mit ihrer ersten gemein­sa­men Aus­stel­lung vom »Salon« unab­hän­gig, und Piss­ar­ro nahm – als ein­zi­ger – dann auch an sämt­li­chen acht Impres­sio­ni­sten-Aus­stel­lun­gen teil. Nicht nur er, der für eine zahl­rei­che Fami­lie zu sor­gen hat­te, son­dern auch fast alle Impres­sio­ni­sten hat­ten mit wirt­schaft­li­chen Schwie­rig­kei­ten zu kämpfen.

1885 begeg­ne­te Piss­ar­ro Seu­rat und Signac und fühl­te sich von ihrer poin­til­li­sti­schen Mal­wei­se und ihrer for­ma­len Stren­ge ange­zo­gen. In »Blick aus mei­nem Fen­ster bei trü­bem Wet­ter« (1886-1888) oder »Wie­se in Érag­ny mit Kühen, Nebel. Son­nen­un­ter­gang« (1891) erklär­te er durch die poin­til­li­sti­sche Tech­nik und opti­sche Far­ben­mi­schung sei­ne Zuge­hö­rig­keit zu die­ser umstrit­te­nen jün­ge­ren Gene­ra­ti­on der Neo-Impres­sio­ni­sten. Er hielt es jedoch nur kur­ze Zeit in die­ser intel­lek­tu­el­len Atmo­sphä­re aus, die sogar die Poe­sie syste­ma­ti­sier­te, und kehr­te bald wie­der zu sei­nem ursprüng­li­chen impres­sio­ni­sti­schen Stil zurück.

In den 1890er Jah­ren such­te er Ver­bin­dung mit sozi­al gesinn­ten und anar­chi­sti­schen Krei­sen, doch sind sei­nen Bil­dern – wie denen der Impres­sio­ni­sten über­haupt – vor­der­grün­di­ge poli­ti­sche Bot­schaf­ten nicht zu ent­neh­men. Aber die har­te Arbeit und das schwe­re Leben der Land­be­völ­ke­rung hat er sehr wohl wahr­ge­nom­men und dabei die Farb­ver­än­de­run­gen eines Sujets, auch in sei­nen Still­le­ben und Por­träts, her­vor­ge­ru­fen durch das auf­strah­len­de Licht, viel muti­ger demon­striert als sei­ne Freun­de. Trotz einer schwe­ren Augen­er­kran­kung mal­te er in sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren auch Groß­stadt­sze­nen, unzäh­li­ge Ansich­ten der Hafen­städ­te Rouen, Diep­pe und Le Hav­re sowie Pan­ora­men von Paris zu den ver­schie­den­sten Tages- und Jah­res­zei­ten. Die­se Blicke vom erhöh­ten Stand­punkt – sei­nem Pari­ser Hotel­fen­ster – in die von pul­sie­ren­dem Leben erfüll­ten Stra­ßen­fluch­ten fan­den die Bewun­de­rung der Kri­ti­ker. »Bou­le­vard Mont­mart­re, Abend­däm­me­rung« (1897) ist offen­sicht­lich bei Regen gemalt wor­den. Tau­send­fa­che Refle­xe des künst­li­chen Lichts über­blen­den die festen For­men bis zur Unkennt­lich­keit. Der Bou­le­vard wird zum Sinn­bild für die Metro­po­le als leben­di­gem Organismus.

Sein Cre­do – Kunst mit sei­nen »urei­ge­nen Emp­fin­dun­gen gese­hen« – hat Piss­ar­ro spä­ter noch ergänzt durch die Wor­te: »Ich kann immer erst auf die Dau­er gefal­len. Sofern der­je­ni­ge, der mich betrach­tet, nur ein Körn­chen Nach­sicht besitzt. Für ein schnell dar­über hin­weg glei­ten­des Auge ist alles zu jäh, es erfasst nur die Ober­flä­che, hat kei­ne Zeit, geht vor­über,« Also nicht nur die Impres­si­on, der flüch­ti­ge Ein­druck genügt, man muss sich auch die Zeit zum Betrach­ten und Reflek­tie­ren neh­men, wenn sich sei­ne Bil­der in ihrer gan­zen Schön­heit, vol­ler Gefühl und Echt­heit erschlie­ßen sollen.

 Mit offe­nem Blick. Der Impres­sio­nist Piss­ar­ro. Muse­um Bar­be­ri­ni, Alter Markt, Pots­dam, tägl. (außer diens­tags) 10 bis 19 Uhr, bis 28.9.2025, Kata­log 39.90 €.