Nun schon seit mehr als 100 Jahren ist der Impressionismus die beliebteste aller modernen Kunstrichtungen. Der Hunger auf impressionistische Gemälde und Zeichnungen scheint unersättlich, obwohl der Impressionismus doch eine prämoderne, untergegangene Welt verkörpert. Ein Grund für dessen Beliebtheit ist wohl der lebensbejahende Optimismus dieser Bilder. Um 1870 hatte eine enorme Erweiterung des Themenbereiches der abzubildenden Vergnügungen stattgefunden. Der Impressionismus fand seine Sujets in Lebensfreuden, die sich fast jeder leisten konnte; und er nahm seine Schilderungen direkt aus dem Leben der Maler selbst. Renoir und Monet, Sisley und Caillebotte, Degas und Pissarro waren sehr verschiedenartige Künstler und sahen die Welt auf ganz unterschiedliche Weise, nicht nur stilistisch, sondern auch moralisch: So besteht ein großer Unterschied zwischen Renoirs rosigen »Jeunes filles en fleur« und der kühlen, realistischen Sicht, mit der Degas die Welt der arbeitenden Frauen, der Balletttänzerinnen ebenso wie der Büglerinnen, betrachtete. Während Pissarro mit der Leuchtkraft der Farben und der Betonung des Lichts immer etwas Stimmungshaftes, ja Melancholisches erzeugte, versuchte Seurat in einer fast wissenschaftlichen oder zumindest systematischen Weise der Darstellung der Lichtwirkung beizukommen. Monet wiederum versetzte die Leinwand durch unzählige winzige hingetüpfelte Pinselstriche in eine optische Vibration.
Dennoch haben all diese Maler etwas gemeinsam: das Gefühl, dass das städtische und ländliche Leben das ungetrübte Bild einer heilen Welt widerspiegeln könnte. Diese Welt mag wohl ironisch zu betrachten sein, niemals aber verzweifelt, und so reizvoll sie auch erscheint, unkritisch ist sie nie ahrgenommen worden. Das bezeugt das Werk Camille Pissarros, der als Maler atmosphärischer Landschaften, des ländlichen Lebens auch den industriellen Fortschritt zur Kenntnis nahm und in seinen späten Jahren raumgreifende, bewegte Stadtansichten schuf. Das Museum Barberini, das in den vergangenen Jahren mit Zäsur-setzenden Ausstellungen das Beziehungsgeflecht zwischen einzelnen Künstlern (Cross, Monet, Vlaminck), Gruppierungen und Richtungen des Impressionismus transparent werden ließ, widmet sich nun Pissarro, dem »Vater« des Impressionismus, wie er auch genannt wird. In Zusammenarbeit mit dem Denver-Art-Museum wurden mehr als 100 Arbeiten Pissarros aus 50 internationalen Sammlungen zusammengetragen.
Camille Pissarro, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, auf der Antillen-Insel St. Thomas geboren, ließ sich 1855 in Frankreich nieder. Beeinflusst von Corot, dem sensiblen Landschaftsmaler von Barbizon, malte er zunächst stimmungsvolle Landschaften, oft von menschlichen Gestalten belebt, ohne allerdings Corots romantische Nymphenwelt zu übernehmen. Am liebsten arbeitete er vor der freien Natur. Ab 1859 – er hatte erstmalig im »Salon«, der traditionellen Pariser Kunstausstellung, ein Landschaftsbild in lyrischer Tonigkeit ausgestellt – freundete er sich mit Monet an und entwickelte sich im folgenden Jahrzehnt zu einem bedeutenden Vertreter, ja, auch »Lehrer« des Impressionismus. Courbet, unter dessen Einfluss er sich mehr und mehr von Corot entfernte, brachte ihn mit der Gruppe der »Realisten« in Verbindung. Leuchtende Farbigkeit, ein rosa farbiger Himmel, dräuende Wolken oder ein heiter strahlender Sommertag prägen jeweils die Landschaft. Die dick aufgetragene Materie und das körperliche Element charakterisieren seine Malerei.
1863 beteiligte er sich am Salon des Refusés und schloss sich immer enger an die Künstler des Café Guerbois an. Er war Cézanne und Guillaumin freundschaftlich verbunden, und gerade Cézanne, der rasch einer der eigenwilligsten Künstler Frankreichs wurde, hat ihm dann für das von ihm Gelernte gedankt und ihn als den »demütigen und riesengroßen Pissarro« bezeichnet, der von allen Künstlern der Natur am nächsten gekommen wäre. In Pissarros realistisch-poetischen Landschaften, den Szenen ländlich-bäuerlichen Lebens und harmonischer Verbundenheit von Mensch und Natur tritt neben dem perspektivischen und konstruktiven Bildaufbau, der trotz der Zufälligkeit des gewählten Motivs erkennbar ist, immer auch die Farbe als Kompositionselement auf (»Pontoise«, um 1868). Alles ist in Bewegung, der seinen Acker pflügende Bauer, das Pferdefuhrwerk auf der Straße, die Menschen auf dem Weg zur Arbeit, der Spaziergänger, der gerade einen qualmenden Schornstein ins Auge nimmt. Wohl unter dem Einfluss von Cézanne wurde die Komposition seiner Bilder immer präziser (»Der Garten von Les Mathurins in Pontoise«, 1876), die Gebäude wurden kubischer, die Bilder gewannen an räumlicher Tiefe (»Die Landstraße«, 1880). Sie wurden zu lichtdurchfluteten Bildereignissen (»Blühende Pflaumenbäume. Éragny«, 1894; »Frühling in Éragny«, 1900). Es gab nun einen logischen Zusammenhang von Bewölkung, Licht und Schatten, eine bildgesetzliche Übereinstimmung von Himmels- und Erdzone.
1870 war Pissarro vor den deutschen Truppen nach London geflohen, hatte hier die große englische Landschaftskunst eines Constable und Turner studiert (in »Lordship Lane Station, Dulwich«, 1871, fährt eine Lokomotive direkt auf den Betrachter zu) und war dann wieder nach Frankreich zurückgekehrt. 1874 machten sich die Impressionisten mit ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung vom »Salon« unabhängig, und Pissarro nahm – als einziger – dann auch an sämtlichen acht Impressionisten-Ausstellungen teil. Nicht nur er, der für eine zahlreiche Familie zu sorgen hatte, sondern auch fast alle Impressionisten hatten mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen.
1885 begegnete Pissarro Seurat und Signac und fühlte sich von ihrer pointillistischen Malweise und ihrer formalen Strenge angezogen. In »Blick aus meinem Fenster bei trübem Wetter« (1886-1888) oder »Wiese in Éragny mit Kühen, Nebel. Sonnenuntergang« (1891) erklärte er durch die pointillistische Technik und optische Farbenmischung seine Zugehörigkeit zu dieser umstrittenen jüngeren Generation der Neo-Impressionisten. Er hielt es jedoch nur kurze Zeit in dieser intellektuellen Atmosphäre aus, die sogar die Poesie systematisierte, und kehrte bald wieder zu seinem ursprünglichen impressionistischen Stil zurück.
In den 1890er Jahren suchte er Verbindung mit sozial gesinnten und anarchistischen Kreisen, doch sind seinen Bildern – wie denen der Impressionisten überhaupt – vordergründige politische Botschaften nicht zu entnehmen. Aber die harte Arbeit und das schwere Leben der Landbevölkerung hat er sehr wohl wahrgenommen und dabei die Farbveränderungen eines Sujets, auch in seinen Stillleben und Porträts, hervorgerufen durch das aufstrahlende Licht, viel mutiger demonstriert als seine Freunde. Trotz einer schweren Augenerkrankung malte er in seinen letzten Lebensjahren auch Großstadtszenen, unzählige Ansichten der Hafenstädte Rouen, Dieppe und Le Havre sowie Panoramen von Paris zu den verschiedensten Tages- und Jahreszeiten. Diese Blicke vom erhöhten Standpunkt – seinem Pariser Hotelfenster – in die von pulsierendem Leben erfüllten Straßenfluchten fanden die Bewunderung der Kritiker. »Boulevard Montmartre, Abenddämmerung« (1897) ist offensichtlich bei Regen gemalt worden. Tausendfache Reflexe des künstlichen Lichts überblenden die festen Formen bis zur Unkenntlichkeit. Der Boulevard wird zum Sinnbild für die Metropole als lebendigem Organismus.
Sein Credo – Kunst mit seinen »ureigenen Empfindungen gesehen« – hat Pissarro später noch ergänzt durch die Worte: »Ich kann immer erst auf die Dauer gefallen. Sofern derjenige, der mich betrachtet, nur ein Körnchen Nachsicht besitzt. Für ein schnell darüber hinweg gleitendes Auge ist alles zu jäh, es erfasst nur die Oberfläche, hat keine Zeit, geht vorüber,« Also nicht nur die Impression, der flüchtige Eindruck genügt, man muss sich auch die Zeit zum Betrachten und Reflektieren nehmen, wenn sich seine Bilder in ihrer ganzen Schönheit, voller Gefühl und Echtheit erschließen sollen.
Mit offenem Blick. Der Impressionist Pissarro. Museum Barberini, Alter Markt, Potsdam, tägl. (außer dienstags) 10 bis 19 Uhr, bis 28.9.2025, Katalog 39.90 €.