Der Menschheit hat die Angst vor Bedrohungen das Überleben gesichert. Aber den Kindern in Gaza und Millionen Menschen in anderen Kriegsgebieten hilft die Angst vor dem Aushungern, vor Panzern, Killerdrohnen und all den effektiven Tötungsmaschinen nichts: Sie werden doch ermordet.
Herrscher haben Angst schon immer eingesetzt, um ihre Herrschaft zu sichern – Autokraten mit Gewalt, moderne Machteliten eher subtil. Die neuere Geschichte bietet unzählige Beispiele für die Verbreitung von Angst durch verlogene Narrative, von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung über die Chemiewaffen Saddam Husseins bis zu den Horden von Abzockern im deutschen Sozialsystem. Das Ziel bleibt immer, Gefolgschaft durch Angst zu sichern. Auch Corona wurde genutzt, Gehorsam einzuüben.
Heute ist Angst das beherrschende Lebensgefühl für die Mehrheit der Deutschen. Aber nicht nur verlogene Erzählungen wecken ihre Sorgen, sondern konkrete Erfahrungen. Es handelt sich also zum Teil auch um Realangst: Sie haben allen Grund, um ihre soziale Absicherung zu fürchten, um eine gute Zukunft ihrer Kinder und um ein Leben in Frieden. Sie haben das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Aufrichtigkeit der Politik verloren. Wer sich derzeit optimistisch über persönliche und globale Sicherheit äußert, ist ignorant, lebt in einer Fantasiewelt oder gehört der Machtelite an.
Es ist müßig, die täglichen Schreckensmeldungen über eskalierende Kriege, zusammenbrechende Sicherungssysteme, verlogene Politiker (und Politikerinnen), Klimakatastrophen, Verachtung für internationale Verträge und das systematische Abtrainieren jeder menschlichen Regung aufzulisten – alle kennen sie aus persönlicher Erfahrung. Wer kann das aushalten? 81 Prozent der Jugendlichen in Deutschland haben Angst vor einem Krieg in Europa (Shell-Studie). In Teilzeit Arbeitende wissen: Altersarmut betrifft 3,4 Millionen Menschen; ihre Zahl (besonders betroffen sind Frauen) ist in zwanzig Jahren um 76 Prozent gestiegen. Über die wachsende Gefahr, dass die Nato und die EU einen Weltkrieg provozieren, reden Politiker wie über die Nachteile der befestigten Deckel an Plastikflaschen. »Der Frieden ist das Meisterstück der Vernunft« (Kant)? Keine Chance, der Wahnsinn greift um sich. Laut einer Untersuchung schränken immer mehr Menschen in Deutschland bewusst ihren Nachrichtenkonsum ein – Folge der nicht mehr verkraftbaren Krisen und Kriege, der Verrohung und Verlogenheit.
Im Lebensgefühl der Mehrheit der Bevölkerung dominiert die Angst – und die Herrschenden haben Angst vor dem Volk und vor dem Verlust ihrer Macht. Denn die PolitikerInnen der EU haben kein Konzept, keine Vorschläge anzubieten, die Lebensbedingungen der Staatsbürger besser, sicherer und gerechter zu gestalten. Ganz im Gegenteil: Sie bekämpfen mit Vehemenz alle Friedensvorschläge für die Ukraine und für den Nahen Osten und alle Konzepte einer gerechteren Weltwirtschaft. Die Angst wächst – die Repression auch: von der Sprachregelung zu Kriegen über Bekämpfung von Armen und Flüchtlingen bis zur Verfolgung und Bestrafung von Dissidenten.
Also konzentrieren sich die deutsche Regierung und die EU nicht darauf, Ängste zu wecken – die bestehenden sind schon überwältigend genug. Sie wollen vielmehr die Ängste kanalisieren und ihre Ursachen umdeuten. Sie werden dabei von (schein)oppositionellen Parteien (Grüne und AfD) und von staatstragenden Medien unterstützt. Als Eintrittskarte in den Kreis der Mächtigen der Konzernpresse gilt nämlich die Begeisterung für neoliberale Auffassungen und für einen enthemmten Militarismus (das traditionelle transatlantische Vasallentum ist derzeit suspendiert). Besonders emsige Propagandisten des Militarismus genießen in den Öffentlich-Rechtlichen eine Vorzugsbehandlung als Influencer, so die einschlägigen Kiesewetter, Strack-Zimmermann, Masala und Co. Die Bundesregierung legitimiert den Völkermord in Gaza, sie unterstützt Israels Angriff auf Iran, und die Presse sekundiert mit der Forderung: »Beim Angriff auf Iran ist das Völkerrecht nachrangig.«
Die Tageszeitungen in Baden-Württemberg ließen eine Befragung zu Sorgen und Ängsten der Menschen im Südwesten durchführen. Die meisten Befragten nannten Inflation und die aktuelle Wirtschaftssituation beängstigend; Angst weckt auch, dass die Lage in Europa und in der Welt immer unberechenbarer wird und Deutschland in militärische Konflikte hineingezogen werden könnte. Gefragt wird aber nicht, ob Kinder eine Kriegsmentalität anerzogen bekommen sollen, ob die geplante Stationierung von US-Raketen in Deutschland die Sicherheit erhöht, ob Deutschland durch Waffenlieferungen an die Ukraine und nach Israel zur Sicherheit beiträgt. Abgefragt wird, ob man bereit wäre, Deutschland mit der Waffe zu verteidigen, ob man Wehrpflicht oder ein verpflichtendes Dienstjahr bevorzugen würde und mit welcher Wahrscheinlichkeit unser Land in den nächsten Jahren in einen Krieg verwickelt wird.
Der ganzseitige Bericht über die Umfrage ist in den Badischen Neuesten Nachrichten mit »So denken die Bürger über Sicherheitspolitik« überschrieben; darunter stürmen schwer bewaffnete Soldaten in Kampfmontur im Wüstensand vorwärts. So funktioniert Manipulation: Die Aufmerksamkeit wird bereits durch das große Foto suggestiv gelenkt (Sicherheit gleich Militär und Aufrüstung) und als Lösung für die realen Ängste wird ausschließlich der herrschende Militarismus angeboten.
Die Kunst der Manipulation besteht darin, berechtigte Ängste über reale Probleme umzudeuten und ihnen zugleich ein Ziel für Aggressionen anzubieten – nach der alten psychologischen Regel, dass Angst Aggression erzeugt. Also: Der Russe wird uns in seiner imperialistischen Gier in vier Jahren überfallen; da hilft nur grenzenlose Aufrüstung. Armut und krasse soziale Ungleichheit, Wohnungsnot, Bildungsnotstand, marode Infrastruktur: Schuld ist nicht ein neoliberal radikalisiertes kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, in dem eine Machtelite die eigenen Interessen zu Lasten aller anderen durchsetzt, sondern die Flut der Migranten. Übt jemand grundsätzliche Kritik an der wahnhaften Aufrüstung der Nato oder an manipulativen Nachrichten? Alles Desinformation im hybriden Krieg Putins, wie Verfassungsschutz und die Leitmedien behaupten. Die Staatsgewalt hat alle im Visier, die die Grundpfeiler der Politik und die Staatsräson im Namen von Demokratie und UN-Charta zu kritisieren wagen. Wer echte Demokratie fordert und sich dabei auch noch auf Grundrechte beruft, zeigt nur, dass er ein Staatsfeind ist.
Die bereits erwähnte generalisierte Angst als Lebensgefühl ist ein neues Phänomen. »Angst essen Seele auf« trifft die Stimmung. Jeden Morgen fürchtet man die Nachrichten: Neuer Krieg? Greifen die USA ein? Wie halte ich die Hetze und die politische Heuchelei aus? Wo wird wieder gekürzt, was wird teurer? Eine kriegstüchtige Gesellschaft mit Kriegsmentalität kann nur unmenschlich und pervers funktionieren. Da heißt es Angst schüren, dämonisieren, den Feind hassen, Söhne und Töchter in den Tod schicken. Was verrät der ungeheuerliche Satz von Kanzler Merz zum israelischen Überfall auf Iran über seine Gedankenwelt: »Das ist die Drecksarbeit, die Israel macht für uns alle«? Der Verleger Helmut Donat weist darauf hin, dass Merz seine Äußerung der Sprache des Dritten Reiches und jenem SS-Jargon entlehnt, dem das Morden und Töten als »Drecksarbeit« galt. Und der bewundernswert kritische Dieter Hallervorden (90) stellt klar, dass die angestrebte »Kriegstüchtigkeit« ein Lieblingswort von Joseph Goebbels war – dazu sei die heutzutage wachsame Sprachpolizei ziemlich stumm geblieben.
Viele fühlen sich ohnmächtig einer gigantischen Maschinerie von Beeinflussung und Manipulation ausgesetzt. Nicht nur eine unbeherrschbare technische Entwicklung, sondern besonders der Verlust aller stabilisierenden seelischen Anker in der Realität bildet die Grundlage. Wahrhaftigkeit, Verlässlichkeit? Man schaue die Wahlkämpfe, die Talkshows an, höre Trump, Merz, Netanyahu, Röttgen zu. Mitleid, Empathie, Solidarität? Auslaufmodelle im Neoliberalismus. Vernunft wird durch KI ersetzt, Zukunftshoffnung durch Schutzbunker. Gigantische Summen für Wahnsinnsprojekte des Militärs auf Kosten der Steuerzahler? Die Kinder sollen es besser haben? Sie sollen gefälligst bereit sein, sich für Deutschland durch Killerdrohnen zerfetzen zu lassen. Politiker, die Leute haben Angst vor eurer menschenverachtenden Politik!
Imperien, die die Welt mit Terror und Angst überziehen, brechen zusammen – leider erst, nachdem sie Hass, Gewalt und millionenfachen Tod verbreitet haben. Gesellschaften, von Angst beherrscht, ohne Sicherheit und Zukunftshoffnung, gehen zugrunde. Eine Demokratie, die auf Angst baut und Kriegstüchtigkeit anstrebt, ist keine. Realangst kann man nur dadurch überwinden, dass man die Realität verändert, die Angst verursacht. Es wäre unsinnig, sich auf die Versprechungen der Machtelite zu verlassen, sie und nur sie würden für unser Wohl und unsere Sicherheit sorgen. Genau sie schaffen ja die bedrohliche Welt, die Angst auslöst.