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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Politik der Angst

Der Mensch­heit hat die Angst vor Bedro­hun­gen das Über­le­ben gesi­chert. Aber den Kin­dern in Gaza und Mil­lio­nen Men­schen in ande­ren Kriegs­ge­bie­ten hilft die Angst vor dem Aus­hun­gern, vor Pan­zern, Kil­ler­droh­nen und all den effek­ti­ven Tötungs­ma­schi­nen nichts: Sie wer­den doch ermordet.

Herr­scher haben Angst schon immer ein­ge­setzt, um ihre Herr­schaft zu sichern – Auto­kra­ten mit Gewalt, moder­ne Macht­eli­ten eher sub­til. Die neue­re Geschich­te bie­tet unzäh­li­ge Bei­spie­le für die Ver­brei­tung von Angst durch ver­lo­ge­ne Nar­ra­ti­ve, von der jüdisch-bol­sche­wi­sti­schen Welt­ver­schwö­rung über die Che­mie­waf­fen Sad­dam Hus­s­eins bis zu den Hor­den von Abzockern im deut­schen Sozi­al­sy­stem. Das Ziel bleibt immer, Gefolg­schaft durch Angst zu sichern. Auch Coro­na wur­de genutzt, Gehor­sam einzuüben.

Heu­te ist Angst das beherr­schen­de Lebens­ge­fühl für die Mehr­heit der Deut­schen. Aber nicht nur ver­lo­ge­ne Erzäh­lun­gen wecken ihre Sor­gen, son­dern kon­kre­te Erfah­run­gen. Es han­delt sich also zum Teil auch um Realangst: Sie haben allen Grund, um ihre sozia­le Absi­che­rung zu fürch­ten, um eine gute Zukunft ihrer Kin­der und um ein Leben in Frie­den. Sie haben das Ver­trau­en in die Ver­läss­lich­keit und Auf­rich­tig­keit der Poli­tik ver­lo­ren. Wer sich der­zeit opti­mi­stisch über per­sön­li­che und glo­ba­le Sicher­heit äußert, ist igno­rant, lebt in einer Fan­ta­sie­welt oder gehört der Macht­eli­te an.

Es ist müßig, die täg­li­chen Schreckens­mel­dun­gen über eska­lie­ren­de Krie­ge, zusam­men­bre­chen­de Siche­rungs­sy­ste­me, ver­lo­ge­ne Poli­ti­ker (und Poli­ti­ke­rin­nen), Kli­ma­ka­ta­stro­phen, Ver­ach­tung für inter­na­tio­na­le Ver­trä­ge und das syste­ma­ti­sche Abtrai­nie­ren jeder mensch­li­chen Regung auf­zu­li­sten – alle ken­nen sie aus per­sön­li­cher Erfah­rung. Wer kann das aus­hal­ten? 81 Pro­zent der Jugend­li­chen in Deutsch­land haben Angst vor einem Krieg in Euro­pa (Shell-Stu­die). In Teil­zeit Arbei­ten­de wis­sen: Alters­ar­mut betrifft 3,4 Mil­lio­nen Men­schen; ihre Zahl (beson­ders betrof­fen sind Frau­en) ist in zwan­zig Jah­ren um 76 Pro­zent gestie­gen. Über die wach­sen­de Gefahr, dass die Nato und die EU einen Welt­krieg pro­vo­zie­ren, reden Poli­ti­ker wie über die Nach­tei­le der befe­stig­ten Deckel an Pla­stik­fla­schen. »Der Frie­den ist das Mei­ster­stück der Ver­nunft« (Kant)? Kei­ne Chan­ce, der Wahn­sinn greift um sich. Laut einer Unter­su­chung schrän­ken immer mehr Men­schen in Deutsch­land bewusst ihren Nach­rich­ten­kon­sum ein – Fol­ge der nicht mehr ver­kraft­ba­ren Kri­sen und Krie­ge, der Ver­ro­hung und Verlogenheit.

Im Lebens­ge­fühl der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung domi­niert die Angst – und die Herr­schen­den haben Angst vor dem Volk und vor dem Ver­lust ihrer Macht. Denn die Poli­ti­ke­rIn­nen der EU haben kein Kon­zept, kei­ne Vor­schlä­ge anzu­bie­ten, die Lebens­be­din­gun­gen der Staats­bür­ger bes­ser, siche­rer und gerech­ter zu gestal­ten. Ganz im Gegen­teil: Sie bekämp­fen mit Vehe­menz alle Frie­dens­vor­schlä­ge für die Ukrai­ne und für den Nahen Osten und alle Kon­zep­te einer gerech­te­ren Welt­wirt­schaft. Die Angst wächst – die Repres­si­on auch: von der Sprach­re­ge­lung zu Krie­gen über Bekämp­fung von Armen und Flücht­lin­gen bis zur Ver­fol­gung und Bestra­fung von Dissidenten.

Also kon­zen­trie­ren sich die deut­sche Regie­rung und die EU nicht dar­auf, Äng­ste zu wecken – die bestehen­den sind schon über­wäl­ti­gend genug. Sie wol­len viel­mehr die Äng­ste kana­li­sie­ren und ihre Ursa­chen umdeu­ten. Sie wer­den dabei von (schein)oppositionellen Par­tei­en (Grü­ne und AfD) und von staats­tra­gen­den Medi­en unter­stützt. Als Ein­tritts­kar­te in den Kreis der Mäch­ti­gen der Kon­zern­pres­se gilt näm­lich die Begei­ste­rung für neo­li­be­ra­le Auf­fas­sun­gen und für einen ent­hemm­ten Mili­ta­ris­mus (das tra­di­tio­nel­le trans­at­lan­ti­sche Vasal­len­tum ist der­zeit sus­pen­diert). Beson­ders emsi­ge Pro­pa­gan­di­sten des Mili­ta­ris­mus genie­ßen in den Öffent­lich-Recht­li­chen eine Vor­zugs­be­hand­lung als Influen­cer, so die ein­schlä­gi­gen Kie­se­wet­ter, Strack-Zim­mer­mann, Masa­la und Co. Die Bun­des­re­gie­rung legi­ti­miert den Völ­ker­mord in Gaza, sie unter­stützt Isra­els Angriff auf Iran, und die Pres­se sekun­diert mit der For­de­rung: »Beim Angriff auf Iran ist das Völ­ker­recht nachrangig.«

Die Tages­zei­tun­gen in Baden-Würt­tem­berg lie­ßen eine Befra­gung zu Sor­gen und Äng­sten der Men­schen im Süd­we­sten durch­füh­ren. Die mei­sten Befrag­ten nann­ten Infla­ti­on und die aktu­el­le Wirt­schafts­si­tua­ti­on beäng­sti­gend; Angst weckt auch, dass die Lage in Euro­pa und in der Welt immer unbe­re­chen­ba­rer wird und Deutsch­land in mili­tä­ri­sche Kon­flik­te hin­ein­ge­zo­gen wer­den könn­te. Gefragt wird aber nicht, ob Kin­der eine Kriegs­men­ta­li­tät aner­zo­gen bekom­men sol­len, ob die geplan­te Sta­tio­nie­rung von US-Rake­ten in Deutsch­land die Sicher­heit erhöht, ob Deutsch­land durch Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne und nach Isra­el zur Sicher­heit bei­trägt. Abge­fragt wird, ob man bereit wäre, Deutsch­land mit der Waf­fe zu ver­tei­di­gen, ob man Wehr­pflicht oder ein ver­pflich­ten­des Dienst­jahr bevor­zu­gen wür­de und mit wel­cher Wahr­schein­lich­keit unser Land in den näch­sten Jah­ren in einen Krieg ver­wickelt wird.

Der ganz­sei­ti­ge Bericht über die Umfra­ge ist in den Badi­schen Neue­sten Nach­rich­ten mit »So den­ken die Bür­ger über Sicher­heits­po­li­tik« über­schrie­ben; dar­un­ter stür­men schwer bewaff­ne­te Sol­da­ten in Kampf­mon­tur im Wüsten­sand vor­wärts. So funk­tio­niert Mani­pu­la­ti­on: Die Auf­merk­sam­keit wird bereits durch das gro­ße Foto sug­ge­stiv gelenkt (Sicher­heit gleich Mili­tär und Auf­rü­stung) und als Lösung für die rea­len Äng­ste wird aus­schließ­lich der herr­schen­de Mili­ta­ris­mus angeboten.

Die Kunst der Mani­pu­la­ti­on besteht dar­in, berech­tig­te Äng­ste über rea­le Pro­ble­me umzu­deu­ten und ihnen zugleich ein Ziel für Aggres­sio­nen anzu­bie­ten – nach der alten psy­cho­lo­gi­schen Regel, dass Angst Aggres­si­on erzeugt. Also: Der Rus­se wird uns in sei­ner impe­ria­li­sti­schen Gier in vier Jah­ren über­fal­len; da hilft nur gren­zen­lo­se Auf­rü­stung. Armut und kras­se sozia­le Ungleich­heit, Woh­nungs­not, Bil­dungs­not­stand, maro­de Infra­struk­tur: Schuld ist nicht ein neo­li­be­ral radi­ka­li­sier­tes kapi­ta­li­sti­sches Wirt­schafts- und Gesell­schafts­sy­stem, in dem eine Macht­eli­te die eige­nen Inter­es­sen zu Lasten aller ande­ren durch­setzt, son­dern die Flut der Migran­ten. Übt jemand grund­sätz­li­che Kri­tik an der wahn­haf­ten Auf­rü­stung der Nato oder an mani­pu­la­ti­ven Nach­rich­ten? Alles Des­in­for­ma­ti­on im hybri­den Krieg Putins, wie Ver­fas­sungs­schutz und die Leit­me­di­en behaup­ten. Die Staats­ge­walt hat alle im Visier, die die Grund­pfei­ler der Poli­tik und die Staats­rä­son im Namen von Demo­kra­tie und UN-Char­ta zu kri­ti­sie­ren wagen. Wer ech­te Demo­kra­tie for­dert und sich dabei auch noch auf Grund­rech­te beruft, zeigt nur, dass er ein Staats­feind ist.

Die bereits erwähn­te gene­ra­li­sier­te Angst als Lebens­ge­fühl ist ein neu­es Phä­no­men. »Angst essen See­le auf« trifft die Stim­mung. Jeden Mor­gen fürch­tet man die Nach­rich­ten: Neu­er Krieg? Grei­fen die USA ein? Wie hal­te ich die Het­ze und die poli­ti­sche Heu­che­lei aus? Wo wird wie­der gekürzt, was wird teu­rer? Eine kriegs­tüch­ti­ge Gesell­schaft mit Kriegs­men­ta­li­tät kann nur unmensch­lich und per­vers funk­tio­nie­ren. Da heißt es Angst schü­ren, dämo­ni­sie­ren, den Feind has­sen, Söh­ne und Töch­ter in den Tod schicken. Was ver­rät der unge­heu­er­li­che Satz von Kanz­ler Merz zum israe­li­schen Über­fall auf Iran über sei­ne Gedan­ken­welt: »Das ist die Drecks­ar­beit, die Isra­el macht für uns alle«? Der Ver­le­ger Hel­mut Donat weist dar­auf hin, dass Merz sei­ne Äuße­rung der Spra­che des Drit­ten Rei­ches und jenem SS-Jar­gon ent­lehnt, dem das Mor­den und Töten als »Drecks­ar­beit« galt. Und der bewun­derns­wert kri­ti­sche Die­ter Hal­ler­vor­den (90) stellt klar, dass die ange­streb­te »Kriegs­tüch­tig­keit« ein Lieb­lings­wort von Joseph Goeb­bels war – dazu sei die heut­zu­ta­ge wach­sa­me Sprach­po­li­zei ziem­lich stumm geblieben.

Vie­le füh­len sich ohn­mäch­tig einer gigan­ti­schen Maschi­ne­rie von Beein­flus­sung und Mani­pu­la­ti­on aus­ge­setzt. Nicht nur eine unbe­herrsch­ba­re tech­ni­sche Ent­wick­lung, son­dern beson­ders der Ver­lust aller sta­bi­li­sie­ren­den see­li­schen Anker in der Rea­li­tät bil­det die Grund­la­ge. Wahr­haf­tig­keit, Ver­läss­lich­keit? Man schaue die Wahl­kämp­fe, die Talk­shows an, höre Trump, Merz, Net­an­y­a­hu, Rött­gen zu. Mit­leid, Empa­thie, Soli­da­ri­tät? Aus­lauf­mo­del­le im Neo­li­be­ra­lis­mus. Ver­nunft wird durch KI ersetzt, Zukunfts­hoff­nung durch Schutz­bun­ker. Gigan­ti­sche Sum­men für Wahn­sinns­pro­jek­te des Mili­tärs auf Kosten der Steu­er­zah­ler? Die Kin­der sol­len es bes­ser haben? Sie sol­len gefäl­ligst bereit sein, sich für Deutsch­land durch Kil­ler­droh­nen zer­fet­zen zu las­sen. Poli­ti­ker, die Leu­te haben Angst vor eurer men­schen­ver­ach­ten­den Politik!

Impe­ri­en, die die Welt mit Ter­ror und Angst über­zie­hen, bre­chen zusam­men – lei­der erst, nach­dem sie Hass, Gewalt und mil­lio­nen­fa­chen Tod ver­brei­tet haben. Gesell­schaf­ten, von Angst beherrscht, ohne Sicher­heit und Zukunfts­hoff­nung, gehen zugrun­de. Eine Demo­kra­tie, die auf Angst baut und Kriegs­tüch­tig­keit anstrebt, ist kei­ne. Realangst kann man nur dadurch über­win­den, dass man die Rea­li­tät ver­än­dert, die Angst ver­ur­sacht. Es wäre unsin­nig, sich auf die Ver­spre­chun­gen der Macht­eli­te zu ver­las­sen, sie und nur sie wür­den für unser Wohl und unse­re Sicher­heit sor­gen. Genau sie schaf­fen ja die bedroh­li­che Welt, die Angst auslöst.