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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Siegfried Unseld und die Journaille

Von Sieg­fried Unseld weiß ich wenig. Er war mehr als vier Jahr­zehn­te lang einer der bedeu­tend­sten Ver­le­ger West­deutsch­lands. »Der Suhr­kamp-Patri­arch«, las ich ein­mal, fuhr mit sei­nen Schrift­stel­ler­stars und für sie mit teu­ren Autos durch die Gegend, orga­ni­sier­te angeb­lich hin und wie­der gla­mou­rö­se Par­tys mit pro­mi­nen­ten kunst­af­fi­nen Leu­ten, vor allem aber Schrift­stel­lern und Schrift­stel­le­rin­nen sei­nes Ver­la­ges, und wur­de medi­al manch­mal abge­fei­ert. Kein Ver­gleich aller­dings zu irgend­wel­chen Gela­gen von Fern­seh- und Schau­spiel­stars, wenn ich mich rich­tig erinnere.

Im Jahr 2002 starb er, und seit­her wur­de ihm von Die­sen und Jenen Die­ses und Jenes aner­ken­nend nach­ge­sagt. Jetzt aber, am 9. April 2025, wur­de die Bom­be gezün­det. ZEIT-online, immer den größ­ten Skan­da­len auf der Spur, deck­te auf. Was? Hat die­ser Unseld ein Ver­bre­chen began­gen? Frau­en ver­ge­wal­tigt? Min­der­jäh­ri­ge geschwän­gert? Einen Anschlag auf Hel­mut Kohl geplant? Und das alles ein Leben lang ver­schwie­gen, die Opfer besto­chen und auf die­se Wei­se ein Dop­pel­le­ben geführt, das nun end­lich ans Licht kommt?

Fehl­an­zei­ge! Unsel­ds Untat bestand dar­in, im Jahr 1942 mit 17 Jah­ren der NSDAP bei­getre­ten zu sein und das der ZEIT nicht umge­hend nach ihrer Grün­dung im Jahr 1946 mit­ge­teilt zu haben. Wel­che son­sti­gen Publi­ka­ti­ons­or­ga­ne wären dafür noch in Fra­ge gekom­men? Der Bay­ern­ku­rier? Die Deut­sche Sol­da­ten­zei­tung? Die Münch­ner Illu­strier­te? Quick? – Über vier­hun­dert Arti­kel zur nun ent­deck­ten NSDAP-Mit­glieds­kar­te zähl­te der Jour­na­list Jür­gen Roth, da muss­ten dann auch der Vater Unsel­ds oder die Groß­vä­ter sich dazu äußern­der Jour­na­li­sten mit ihren fast ein Jahr­hun­dert alten Taten kom­men­tiert wer­den, damit sich die Sei­ten fül­len, bei­spiels­wei­se in der ZEIT (online am 22.April) von zwei Jour­na­li­stin­nen, die das mit schein­hei­li­gem Mit­ge­fühl mit NS-Opfern oder Nach­kom­men von Beraub­ten, Ent­eig­ne­ten und Ermor­de­ten verbanden.

Geheu­chel­tes Mit­ge­fühl mit Opfern pathe­tisch vor sich her­zu­tra­gen ist heut­zu­ta­ge über­haupt beson­ders beliebt, vor allem in Ver­bin­dung mit Kla­gen über angeb­li­che oder wirk­li­che Oppor­tu­ni­sten unter der NS-Herr­schaft. Je wei­ter weg die­se ist, desto radi­ka­ler bre­chen sol­che Leu­te den mora­li­schen Stab über vie­le damals Leben­den. Unaus­ge­spro­chen steht dahin­ter: »Sie hät­ten Wider­stand lei­sten müs­sen!«, wobei die Selbst­ge­rech­ten vie­le tat­säch­li­che Wider­stands­kämp­fe­rin­nen und -kämp­fer unter den Tisch fal­len lassen.

Vik­tor Frankl, Neu­ro­lo­ge und Psy­cho­the­ra­peut, Über­le­ben­der meh­re­rer Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger, der sei­ne Mut­ter, den Bru­der und sei­ne erste Frau in KZs ver­lo­ren hat, wuss­te, wovon er sprach, als er 1988 anläss­lich des 50. Jah­res­ta­ges des »Anschlus­ses« Öster­reichs an Deutsch­land am 13.März 1938 auf dem Wie­ner Rat­haus­platz erklär­te: »Und wer da sagt, man hät­te sich lie­ber ein­sper­ren las­sen sol­len, als dass man sich mit den Nazis arran­giert, der dürf­te das eigent­lich nur dann sagen, wenn er für sei­ne eige­ne Per­son unter Beweis gestellt hat, dass er es vor­ge­zo­gen hat­te, sich ins Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger stecken zu las­sen.« Und ergän­zend füg­te er noch an, »und sie­he da: die­je­ni­gen, die in den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern waren, urtei­len im All­ge­mei­nen viel mil­der als die Opportunisten.«

Das Attrak­ti­ve an die­sem heu­ti­gen media­len Mora­lis­mus besteht dar­in, dass sich dahin­ter die Igno­ranz und Geschichts­ver­ges­sen­heit gegen­über den tat­säch­li­chen Ver­bre­chern und Tätern gut ver­stecken lässt. Gab es vier­hun­dert Arti­kel in den dama­li­gen Leit­me­di­en, bevor die west­deut­sche Öffent­lich­keit durch eine Ohr­fei­ge von Bea­te Klars­feld dar­auf gesto­ßen wur­de, dass Kurt Georg Kie­sin­ger nicht nur seit zwei Jah­ren als Bun­des­kanz­ler regier­te, son­dern ein Nazi von altem Schrot und Korn war? (Klars­feld wur­de dafür noch am sel­ben Tag zu einem Jahr Haft ver­ur­teilt, die sie als fran­zö­si­sche Staats­bür­ge­rin nicht antre­ten musste.)

Kie­sin­ger trat am 1. Mai 1933 mit immer­hin 29 Jah­ren der NSDAP bei um schließ­lich »als wan­dern­der Ver­mitt­lungs­aus­schuss zwi­schen dem Reichs­au­ßen­mi­ni­ster Joa­chim von Rib­ben­trop und dem Mini­ster für Volks­auf­klä­rung Joseph Goeb­bels die Rund­funk­pro­pa­gan­da für das Aus­land« (Otto Köh­ler) des NS-Staa­tes zu orche­strie­ren. Wie vie­le Arti­kel haben die Leit­me­di­en über die­sen Herrn danach gedruckt? Vier­hun­dert? Wie oft ist dar­in zugleich ent­schul­di­gen­des Gere­de mit­ver­packt und die Bun­des­re­pu­blik mit sol­chem Füh­rungs­per­so­nal exkul­piert wor­den. Und wie oft wird zugleich, wie heu­te immer noch auf Wiki­pe­dia, Bea­te Klars­feld in ein schie­fes Licht gerückt, indem ihr »Nähe zur Staats­si­cher­heit der DDR« nach­ge­sagt wird, weil sie sich Unter­la­gen aus den Archi­ven der DDR besorgte.

Die Ver­gan­gen­heit für heu­ti­ge Zwecke instru­men­ta­li­sie­ren – das ist heu­te der stän­di­ge Vor­wurf an die Rus­sen. Als ob das die west­lich von Russ­land Herr­schen­den nicht seit lan­gem bes­ser ver­stün­den. Erin­nern sie an die ersten Opfer der Nazis, Sozi­al­de­mo­kra­ten und Kom­mu­ni­sten, anti­fa­schi­sti­sche Künst­ler? Erin­nern sie an Ernst Fried­rich, des­sen Anti-Kriegs-Muse­um fast als erste Zer­stö­rungs­tat der Nazis nach dem Reichs­tags­brand ver­nich­tet wur­de und der mit Ach und Krach ins Aus­land ent­kam? – Nein, rei­ne Opfer ohne für heu­te gefähr­li­che Ansich­ten sind das belieb­te Objekt ihrer Erin­ne­rung – um die­se Erin­ne­rung gegen heu­ti­ge Geg­ner zu instrumentalisieren.

Kurt Georg Kie­sin­ger begann sei­ne Pro­pa­gan­da­tä­tig­keit im Aus­wär­ti­gen Amt im Jahr 1940. Im Jahr 1945 trat er der CDU bei. Da wären heu­te run­de Jubi­lä­en zu fei­ern gewe­sen. Jour­na­li­stisch war nichts ver­nehm­bar. Aber Unseld! – Ob bei der Krie­ge­rei oder der Ver­gan­gen­heit – über­all Schein­mo­ral und Heu­che­lei! Jour­nail­le, nann­te Karl Kraus die Verbreiter.