Von Siegfried Unseld weiß ich wenig. Er war mehr als vier Jahrzehnte lang einer der bedeutendsten Verleger Westdeutschlands. »Der Suhrkamp-Patriarch«, las ich einmal, fuhr mit seinen Schriftstellerstars und für sie mit teuren Autos durch die Gegend, organisierte angeblich hin und wieder glamouröse Partys mit prominenten kunstaffinen Leuten, vor allem aber Schriftstellern und Schriftstellerinnen seines Verlages, und wurde medial manchmal abgefeiert. Kein Vergleich allerdings zu irgendwelchen Gelagen von Fernseh- und Schauspielstars, wenn ich mich richtig erinnere.
Im Jahr 2002 starb er, und seither wurde ihm von Diesen und Jenen Dieses und Jenes anerkennend nachgesagt. Jetzt aber, am 9. April 2025, wurde die Bombe gezündet. ZEIT-online, immer den größten Skandalen auf der Spur, deckte auf. Was? Hat dieser Unseld ein Verbrechen begangen? Frauen vergewaltigt? Minderjährige geschwängert? Einen Anschlag auf Helmut Kohl geplant? Und das alles ein Leben lang verschwiegen, die Opfer bestochen und auf diese Weise ein Doppelleben geführt, das nun endlich ans Licht kommt?
Fehlanzeige! Unselds Untat bestand darin, im Jahr 1942 mit 17 Jahren der NSDAP beigetreten zu sein und das der ZEIT nicht umgehend nach ihrer Gründung im Jahr 1946 mitgeteilt zu haben. Welche sonstigen Publikationsorgane wären dafür noch in Frage gekommen? Der Bayernkurier? Die Deutsche Soldatenzeitung? Die Münchner Illustrierte? Quick? – Über vierhundert Artikel zur nun entdeckten NSDAP-Mitgliedskarte zählte der Journalist Jürgen Roth, da mussten dann auch der Vater Unselds oder die Großväter sich dazu äußernder Journalisten mit ihren fast ein Jahrhundert alten Taten kommentiert werden, damit sich die Seiten füllen, beispielsweise in der ZEIT (online am 22.April) von zwei Journalistinnen, die das mit scheinheiligem Mitgefühl mit NS-Opfern oder Nachkommen von Beraubten, Enteigneten und Ermordeten verbanden.
Geheucheltes Mitgefühl mit Opfern pathetisch vor sich herzutragen ist heutzutage überhaupt besonders beliebt, vor allem in Verbindung mit Klagen über angebliche oder wirkliche Opportunisten unter der NS-Herrschaft. Je weiter weg diese ist, desto radikaler brechen solche Leute den moralischen Stab über viele damals Lebenden. Unausgesprochen steht dahinter: »Sie hätten Widerstand leisten müssen!«, wobei die Selbstgerechten viele tatsächliche Widerstandskämpferinnen und -kämpfer unter den Tisch fallen lassen.
Viktor Frankl, Neurologe und Psychotherapeut, Überlebender mehrerer Konzentrationslager, der seine Mutter, den Bruder und seine erste Frau in KZs verloren hat, wusste, wovon er sprach, als er 1988 anlässlich des 50. Jahrestages des »Anschlusses« Österreichs an Deutschland am 13.März 1938 auf dem Wiener Rathausplatz erklärte: »Und wer da sagt, man hätte sich lieber einsperren lassen sollen, als dass man sich mit den Nazis arrangiert, der dürfte das eigentlich nur dann sagen, wenn er für seine eigene Person unter Beweis gestellt hat, dass er es vorgezogen hatte, sich ins Konzentrationslager stecken zu lassen.« Und ergänzend fügte er noch an, »und siehe da: diejenigen, die in den Konzentrationslagern waren, urteilen im Allgemeinen viel milder als die Opportunisten.«
Das Attraktive an diesem heutigen medialen Moralismus besteht darin, dass sich dahinter die Ignoranz und Geschichtsvergessenheit gegenüber den tatsächlichen Verbrechern und Tätern gut verstecken lässt. Gab es vierhundert Artikel in den damaligen Leitmedien, bevor die westdeutsche Öffentlichkeit durch eine Ohrfeige von Beate Klarsfeld darauf gestoßen wurde, dass Kurt Georg Kiesinger nicht nur seit zwei Jahren als Bundeskanzler regierte, sondern ein Nazi von altem Schrot und Korn war? (Klarsfeld wurde dafür noch am selben Tag zu einem Jahr Haft verurteilt, die sie als französische Staatsbürgerin nicht antreten musste.)
Kiesinger trat am 1. Mai 1933 mit immerhin 29 Jahren der NSDAP bei um schließlich »als wandernder Vermittlungsausschuss zwischen dem Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und dem Minister für Volksaufklärung Joseph Goebbels die Rundfunkpropaganda für das Ausland« (Otto Köhler) des NS-Staates zu orchestrieren. Wie viele Artikel haben die Leitmedien über diesen Herrn danach gedruckt? Vierhundert? Wie oft ist darin zugleich entschuldigendes Gerede mitverpackt und die Bundesrepublik mit solchem Führungspersonal exkulpiert worden. Und wie oft wird zugleich, wie heute immer noch auf Wikipedia, Beate Klarsfeld in ein schiefes Licht gerückt, indem ihr »Nähe zur Staatssicherheit der DDR« nachgesagt wird, weil sie sich Unterlagen aus den Archiven der DDR besorgte.
Die Vergangenheit für heutige Zwecke instrumentalisieren – das ist heute der ständige Vorwurf an die Russen. Als ob das die westlich von Russland Herrschenden nicht seit langem besser verstünden. Erinnern sie an die ersten Opfer der Nazis, Sozialdemokraten und Kommunisten, antifaschistische Künstler? Erinnern sie an Ernst Friedrich, dessen Anti-Kriegs-Museum fast als erste Zerstörungstat der Nazis nach dem Reichstagsbrand vernichtet wurde und der mit Ach und Krach ins Ausland entkam? – Nein, reine Opfer ohne für heute gefährliche Ansichten sind das beliebte Objekt ihrer Erinnerung – um diese Erinnerung gegen heutige Gegner zu instrumentalisieren.
Kurt Georg Kiesinger begann seine Propagandatätigkeit im Auswärtigen Amt im Jahr 1940. Im Jahr 1945 trat er der CDU bei. Da wären heute runde Jubiläen zu feiern gewesen. Journalistisch war nichts vernehmbar. Aber Unseld! – Ob bei der Kriegerei oder der Vergangenheit – überall Scheinmoral und Heuchelei! Journaille, nannte Karl Kraus die Verbreiter.