Wenn meine Erinnerung nicht trügt, dann gab es in den 1950er oder 1960er Jahren den Verlagsslogan »Wer einen liest, liest alle«. Ob sich der Spruch auf eine besondere Buchreihe bezog, auf Kriminalromane zum Beispiel, die man alle gelesen haben sollte, oder auf das Verlagsprogramm im Allgemeinen, weiß ich nicht mehr. Ich greife den Slogan auf, wandle ihn ab und verkünde mit der gleichen Intention: Wer die zehn Bände der erfolgreichen Krimiserie des Schriftstellers Volker Kutscher um Kommissar Gereon Rath gelesen hat, für den ist dieses kleine schmale Bändchen mit dem Titel Westend ein Muss.
Die in den Dreißigerjahren in Berlin spielenden Bücher Kutschers wurden in viele Sprachen übersetzt, und der Regisseur Tom Tykwer verfilmte die ersten Bände für die ARD als Serie unter dem Titel Babylon Berlin. Es gibt auch Hörspielfassungen. Ich selbst stellte in Ossietzky regelmäßig die Neuerscheinungen vor, zuletzt in Ausgabe 23 vom 16. November 2024 den Roman Rath, bei seinem Erscheinen als Abschlussband mit gewohnt hoher Spannung und mit historischer Tiefenschärfe allgemein gewürdigt.
Doch Kutscher hat wohl erkannt, dass der damalige Abschluss kein endgültiger sein konnte. Raths erster Fall »Der nasse Fisch« erschien schon 2008, und über viele Jahre und Bücher hinweg waren den Leserinnen und Lesern Charlotte und Gereon Rath sowie ihr Pflegesohn Fritze Thormann ans Herz gewachsen. Und nun sollte 1938/39 alles ein ungewisses Ende nehmen, als nach den November-Pogromen die drei auseinander gewirbelt wurden und ihr weiteres Schicksal im Unklaren blieb? Rath hatte Deutschland per Schiff verlassen, war in die USA geflohen. Fritze hatte die schwarze Uniform der SS angezogen, um Rache nehmen zu können an dem Mörder seiner jüdischen Freundin. Dass diese ihm kurz vor ihrem Tod einen Sohn geboren hatte, wusste er nicht. Doch Charlotte Rath hatte davon Kenntnis und war deshalb in Deutschland zurückgeblieben. Sie war nicht mit ihrem Mann in die USA emigriert, weil es in Berlin, »jemand gibt, um den ich mich kümmern muss«. Und da war auch noch Obersturmbannführer Sebastian Tornow, der Raths Bruder töten ließ. Auch das Schicksal von Detektiv Böhm, in dessen Detektei Charlotte zeitweise gearbeitet hatte, war ungeklärt geblieben. Wie ist es ihnen in der Nazi-Zeit ergangen? Haben sie den Zweiten Weltkrieg überlebt? Wie verlief ihr Lebensweg in der Nachkriegszeit?
Das alles waren zu viele offene Enden. Der Roman Rath war kein richtiger Schlusspunkt. Den hat Kutscher jetzt gesetzt, mit seinem – wie der Verlag schreibt – »letzten Gruß aus dem spannenden erzählerischen Universum« rund um die drei Hauptpersonen. Dazu hat sich Kutscher erneut mit der Illustratorin und Zeichnerin Kat Menschik zusammengetan. In ihrer im Galiani-Verlag Berlin erscheinenden Lieblingsbuch-Reihe wurde Westend als Band 20 veröffentlicht. Schon 2017 waren hier, von Kat Menschik illustriert, als Spin-off, als Ableger aus dem zehnbändigen Zyklus, der Band Moabit mit der Geschichte von Charly und 2021 Mitte, das Buch über Fritze, erschienen.
Westend nun spielt im Berlin der 1970er Jahre, genauer: in West-Berlin. Kutschers Kniff: Er meldet sich nicht als auktorialer Erzähler zu Wort, sondern präsentiert den Text durchgehend in Dialogform, als eine von einer wissenschaftlichen Hilfskraft des Historischen Instituts der Universität verfasste Transkription zweier Tonbandkassetten aus dem Nachlass des am 3. Januar 2025 verstorbenen Professors Dr. Singer. Ebendieser Singer, und so beginnt die Niederschrift, trifft sich im April 1973 und dann vier weitere Wochen lang mit Kriminalhauptkommissar a. D. Rath, jetzt 74 Jahre alt, in dessen Altersruhesitz, einem privaten Seniorenheim in Berlin-Westend.
Vorgeblicher Anlass für das Interview: Der Historiker gibt gegenüber Rath an, es gehe ihm um Informationen für seine Habilitationsschrift über die Arbeit der Berliner Polizei in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und in den Jahren nach dem Krieg. Dabei interessiere ihn auch Raths Wissen über die Polizistenmorde am Berliner Bülowplatz im Jahr 1931, für die im Übrigen der spätere Minister für Staatssicherheit der DDR, Erich Mielke, im Jahr 1993 durch das Landgericht Berlin zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde, von denen er zwei Jahre absitzen musste, bis zu seiner Entlassung auf Bewährung.
Dass die Einlassung Singer nur als Vorwand dient, merken die Leserinnen und Leser schon bald, als das Gespräch eine überraschende Wende nimmt. Immer deutlicher wird, dass der Fragesteller über die Vergangenheit Raths bestens informiert und einer Sache auf der Spur ist, über die Gereon Rath unter keinen Umständen reden will. Es geht um Ereignisse, die sich nach dem Krieg in Ostberlin zugetragen haben.
Wie schon erwähnt: Die losen Enden müssen zusammengeknüpft werden, und ich verrate nur so viel: Auch das schafft Kutscher in gewohnt vortrefflicher Manier. Am Ende des zweiten Bandes bricht das Gespräch ab, und nichts ist mehr zu vernehmen als ein weißes Rauschen.
Noch eine Anmerkung für Bibliophile, ich lasse die Illustratorin Kat Menschik zu Wort kommen: »Gestalterisch nehmen alle drei Bände aus der Lieblingsbuch-Reihe Bezug aufeinander. Sie sind in Leinen gebunden, die Titel sind jeweils ähnlich gezeichnet und tiefgeprägt. Das wichtigste gemeinsame Element aber sind die drei Echtfarben, in denen jeder Band gestaltet wurde. Alle drei Bände fühlen sich herrlich geschmeidig an und zieren jede Bibliothek.«
Es ist, ich erweise der Gestalterin meine Reverenz, ein Buch voller Anmut geworden.
Volker Kutscher und Kat Menschik absolvieren im Oktober/November eine Lesereise. Nächster Termin ist der 31. Oktober mit einer großen Lesung in der Volksbühne, Berlin, live auf Radio eins.
Volker Kutscher: Westend, illustriert von Kat Menschik, Verlag Galiani Berlin 2025, 112 S., 23 €.