Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Und am Ende weißes Rauschen

Wenn mei­ne Erin­ne­rung nicht trügt, dann gab es in den 1950er oder 1960er Jah­ren den Ver­lags­slo­gan »Wer einen liest, liest alle«. Ob sich der Spruch auf eine beson­de­re Buch­rei­he bezog, auf Kri­mi­nal­ro­ma­ne zum Bei­spiel, die man alle gele­sen haben soll­te, oder auf das Ver­lags­pro­gramm im All­ge­mei­nen, weiß ich nicht mehr. Ich grei­fe den Slo­gan auf, wand­le ihn ab und ver­kün­de mit der glei­chen Inten­ti­on: Wer die zehn Bän­de der erfolg­rei­chen Kri­mi­se­rie des Schrift­stel­lers Vol­ker Kut­scher um Kom­mis­sar Gere­on Rath gele­sen hat, für den ist die­ses klei­ne schma­le Bänd­chen mit dem Titel West­end ein Muss.

Die in den Drei­ßi­ger­jah­ren in Ber­lin spie­len­den Bücher Kut­schers wur­den in vie­le Spra­chen über­setzt, und der Regis­seur Tom Tykwer ver­film­te die ersten Bän­de für die ARD als Serie unter dem Titel Baby­lon Ber­lin. Es gibt auch Hör­spiel­fas­sun­gen. Ich selbst stell­te in Ossietzky regel­mä­ßig die Neu­erschei­nun­gen vor, zuletzt in Aus­ga­be 23 vom 16. Novem­ber 2024 den Roman Rath, bei sei­nem Erschei­nen als Abschluss­band mit gewohnt hoher Span­nung und mit histo­ri­scher Tie­fen­schär­fe all­ge­mein gewürdigt.

Doch Kut­scher hat wohl erkannt, dass der dama­li­ge Abschluss kein end­gül­ti­ger sein konn­te. Raths erster Fall »Der nas­se Fisch« erschien schon 2008, und über vie­le Jah­re und Bücher hin­weg waren den Lese­rin­nen und Lesern Char­lot­te und Gere­on Rath sowie ihr Pfle­ge­sohn Frit­ze Thor­mann ans Herz gewach­sen. Und nun soll­te 1938/​39 alles ein unge­wis­ses Ende neh­men, als nach den Novem­ber-Pogro­men die drei aus­ein­an­der gewir­belt wur­den und ihr wei­te­res Schick­sal im Unkla­ren blieb? Rath hat­te Deutsch­land per Schiff ver­las­sen, war in die USA geflo­hen. Frit­ze hat­te die schwar­ze Uni­form der SS ange­zo­gen, um Rache neh­men zu kön­nen an dem Mör­der sei­ner jüdi­schen Freun­din. Dass die­se ihm kurz vor ihrem Tod einen Sohn gebo­ren hat­te, wuss­te er nicht. Doch Char­lot­te Rath hat­te davon Kennt­nis und war des­halb in Deutsch­land zurück­ge­blie­ben. Sie war nicht mit ihrem Mann in die USA emi­griert, weil es in Ber­lin, »jemand gibt, um den ich mich küm­mern muss«. Und da war auch noch Ober­sturm­bann­füh­rer Seba­sti­an Tor­now, der Raths Bru­der töten ließ. Auch das Schick­sal von Detek­tiv Böhm, in des­sen Detek­tei Char­lot­te zeit­wei­se gear­bei­tet hat­te, war unge­klärt geblie­ben. Wie ist es ihnen in der Nazi-Zeit ergan­gen? Haben sie den Zwei­ten Welt­krieg über­lebt? Wie ver­lief ihr Lebens­weg in der Nachkriegszeit?

Das alles waren zu vie­le offe­ne Enden. Der Roman Rath war kein rich­ti­ger Schluss­punkt. Den hat Kut­scher jetzt gesetzt, mit sei­nem – wie der Ver­lag schreibt – »letz­ten Gruß aus dem span­nen­den erzäh­le­ri­schen Uni­ver­sum« rund um die drei Haupt­per­so­nen. Dazu hat sich Kut­scher erneut mit der Illu­stra­to­rin und Zeich­ne­rin Kat Men­schik zusam­men­ge­tan. In ihrer im Galia­ni-Ver­lag Ber­lin erschei­nen­den Lieb­lings­buch-Rei­he wur­de West­end als Band 20 ver­öf­fent­licht. Schon 2017 waren hier, von Kat Men­schik illu­striert, als Spin-off, als Able­ger aus dem zehn­bän­di­gen Zyklus, der Band Moa­bit mit der Geschich­te von Char­ly und 2021 Mit­te, das Buch über Frit­ze, erschienen.

West­end nun spielt im Ber­lin der 1970er Jah­re, genau­er: in West-Ber­lin. Kut­schers Kniff: Er mel­det sich nicht als aukt­oria­ler Erzäh­ler zu Wort, son­dern prä­sen­tiert den Text durch­ge­hend in Dia­log­form, als eine von einer wis­sen­schaft­li­chen Hilfs­kraft des Histo­ri­schen Insti­tuts der Uni­ver­si­tät ver­fass­te Tran­skrip­ti­on zwei­er Ton­band­kas­set­ten aus dem Nach­lass des am 3. Janu­ar 2025 ver­stor­be­nen Pro­fes­sors Dr. Sin­ger. Eben­die­ser Sin­ger, und so beginnt die Nie­der­schrift, trifft sich im April 1973 und dann vier wei­te­re Wochen lang mit Kri­mi­nal­haupt­kom­mis­sar a. D. Rath, jetzt 74 Jah­re alt, in des­sen Alters­ru­he­sitz, einem pri­va­ten Senio­ren­heim in Berlin-Westend.

Vor­geb­li­cher Anlass für das Inter­view: Der Histo­ri­ker gibt gegen­über Rath an, es gehe ihm um Infor­ma­tio­nen für sei­ne Habi­li­ta­ti­ons­schrift über die Arbeit der Ber­li­ner Poli­zei in der Wei­ma­rer Repu­blik, im Drit­ten Reich und in den Jah­ren nach dem Krieg. Dabei inter­es­sie­re ihn auch Raths Wis­sen über die Poli­zi­sten­mor­de am Ber­li­ner Bülow­platz im Jahr 1931, für die im Übri­gen der spä­te­re Mini­ster für Staats­si­cher­heit der DDR, Erich Miel­ke, im Jahr 1993 durch das Land­ge­richt Ber­lin zu einer Frei­heits­stra­fe von sechs Jah­ren ver­ur­teilt wur­de, von denen er zwei Jah­re absit­zen muss­te, bis zu sei­ner Ent­las­sung auf Bewährung.

Dass die Ein­las­sung Sin­ger nur als Vor­wand dient, mer­ken die Lese­rin­nen und Leser schon bald, als das Gespräch eine über­ra­schen­de Wen­de nimmt. Immer deut­li­cher wird, dass der Fra­ge­stel­ler über die Ver­gan­gen­heit Raths bestens infor­miert und einer Sache auf der Spur ist, über die Gere­on Rath unter kei­nen Umstän­den reden will. Es geht um Ereig­nis­se, die sich nach dem Krieg in Ost­ber­lin zuge­tra­gen haben.

Wie schon erwähnt: Die losen Enden müs­sen zusam­men­ge­knüpft wer­den, und ich ver­ra­te nur so viel: Auch das schafft Kut­scher in gewohnt vor­treff­li­cher Manier. Am Ende des zwei­ten Ban­des bricht das Gespräch ab, und nichts ist mehr zu ver­neh­men als ein wei­ßes Rauschen.

Noch eine Anmer­kung für Biblio­phi­le, ich las­se die Illu­stra­to­rin Kat Men­schik zu Wort kom­men: »Gestal­te­risch neh­men alle drei Bän­de aus der Lieb­lings­buch-Rei­he Bezug auf­ein­an­der. Sie sind in Lei­nen gebun­den, die Titel sind jeweils ähn­lich gezeich­net und tief­ge­prägt. Das wich­tig­ste gemein­sa­me Ele­ment aber sind die drei Echt­far­ben, in denen jeder Band gestal­tet wur­de. Alle drei Bän­de füh­len sich herr­lich geschmei­dig an und zie­ren jede Bibliothek.«

Es ist, ich erwei­se der Gestal­te­rin mei­ne Reve­renz, ein Buch vol­ler Anmut geworden.

Vol­ker Kut­scher und Kat Men­schik absol­vie­ren im Oktober/​November eine Lese­rei­se. Näch­ster Ter­min ist der 31. Okto­ber mit einer gro­ßen Lesung in der Volks­büh­ne, Ber­lin, live auf Radio eins.

 Vol­ker Kut­scher: West­end, illu­striert von Kat Men­schik, Ver­lag Galia­ni Ber­lin 2025, 112 S., 23 €.