Die 80. Wiederkehr des 25. April, Tag der Liberazione, der Befreiung von Faschismus und deutscher Herrschaft in Italien, war von den Antifaschisten in ganz Italien mit großem Einsatz vorbereitet worden. Das konnte auch die angeordnete Staatstrauer für den Tod von Papst Franziskus, die von der postfaschistischen Regierung auf fünf Tage (22.-26. April) ausgedehnt wurde, nicht wesentlich beeinträchtigen, obwohl seit Jahren versucht wird, diesen eigentlichen Geburtstag Nachkriegsitaliens zu verwässern. Vielerorts sollte sogar das Anstimmen von »Bella ciao« durch lokale Verbote verhindert werden – wie auch das Zeigen kommunistischer oder gar palästinensischer Embleme in den Demonstrationszügen, die landesweit Hunderttausende in Bewegung setzten.
In Venedig, das erst am 28. April 1945 vom CLN (Comitato di Liberazione Nazionale), dem damaligen nationalen Befreiungskomitee, von deutscher Besetzung und den Salò-Faschisten befreit worden war, gab es ein zweiwöchiges Begleitprogramm mit Vorträgen, Lesungen, Filmen und Rundgängen durch die Altstadt, entlang vieler Erinnerungstafeln, an denen sich die Touristenmassen üblicherweise ahnungslos vorbeischieben.
Der »classe politica«, die Italien seit zweieinhalb Jahren regiert, gehören all jene an, die 1945 nicht eine »wirkliche Auflösung der Identifikation mit dem Regime und der Disziplin« (T.W. Adorno) vollzogen hatten. Erst solche Abkehr wurde dann für den entscheidenden Teil der Italiener, die aktiven Widerstand leisteten, zur Grundlage der demokratischen Republik und ihrer antifaschistischen Verfassung.
Die Maßnahmen der aktuellen Meloni-Regierung, tagtäglich von werbeähnlicher Propaganda über alte und neue Medien mit fakes beschönigt, folgen nach wie vor streng neoliberalen Vorgaben zu Lasten der unteren und mittleren Einkommen – die Löhne in Italien gehören seit Jahrzehnten zu den niedrigsten in Europa, und das staatliche Welfare-System steht inzwischen vor einem Abgrund. Auch die längst praktizierten Einschränkungen demokratischer Grundrechte werden fortgesetzt. Justiz- und Bildungssystem stehen im Fokus der Angriffe. Punktuellen Widerstand dagegen – sowie gegen immer wieder vorkommende Übergriffe durch militante Rechtsextreme – gibt es vielfach, aber eben bisher keine politisch einige Opposition, die diese Regierung zu Fall bringen könnte – ein schlechtes Zeugnis nicht nur für die Oppositionsparteien, sondern auch für das System, in dem sie agieren.
Erinnert sei nur an das aktuelle Frankreich, wo nicht einmal eine starke breite Linksfront der Rechtsentwicklung unter Macron und der extremen Le Pen Herr werden konnte. Die vor allem von den großen Gewerkschaften in langer Prozedur eingebrachten Volksabstimmungen, die am 8./9. Juni den Italienern ermöglichen sollen, über fünf Dekrete zur Arbeitsgesetzgebung und zur Einbürgerung mitzubestimmen, wurden bisher von den Medien weitgehend beschwiegen. Nun rief der stellvertretende Regierungschef Tajani sogar zur Stimm-Enthaltung auf – denn dann könnte das nötige Quorum von 50 Prozent verfehlt werden. Die Demokratie stirbt scheibchenweise, wie man aus der Weimarer Republik weiß.
Ähnliche Entwicklungen lassen sich überall im Westen verfolgen: In allen liberalen Nachkriegs-Demokratien überlebten Bodensätze faschistischer bzw. rechtsextremer Kräfte, die immer dann von nachhaltigen Krisensituationen alimentiert werden, wenn es keine linken Alternativen (mehr) gibt. Von den USA selbst bis nach West- und Südeuropa zieht sich da eine lange Linie bis hin in die ehemaligen Ostblockstaaten, wo sofort in den 1990er Jahren rechte Parteien Fuß fassten.
In der BRD konnten sich rechtsextreme Kräfte über Jahrzehnte in verschiedenen politischen Formationen erhalten (von SRP, DVU zu NPD und Republikanern.) Nach der Wiedervereinigung fand diese Rechte im Osten fruchtbares Terrain. Als 2013 die europakritische AfD aus ordoliberalen Kräften der politischen Mitte (CDU) entstand, konnte diese bald den sozialen und politischen Unmut der sich zunehmend nicht nur im Osten abgehängt fühlenden Bürger aufnehmen und populistisch bedienen. Dem begegneten die Regierungen nicht politisch-sozial vor Ort, sondern ließen die AfD anwachsen, indem sie sich deren Thematik eher anpassten. Das wurde besonders deutlich im jüngsten Bundestagswahlkampf: Als Sündenböcke für allen sozialen Abstieg waren wieder einmal Ausländer ausgemacht, heute die sogenannten illegalen Migranten, die inzwischen auch aus der ganzen EU-Festung ausgeschlossen werden sollen. Auch Asylsuchende sollen nun ab sofort an den deutschen Grenzen aufgehalten werden, so fordert es der neue Kanzler Merz.
Es gibt immer mehr Politiker, die die erdachte Brandmauer gegen die erstarkte AfD-Fraktion im Parlament überwinden wollen – zwecks künftiger Kohabitation und administrativer Praxis auf lokaler Ebene. Aber nun hat der Verfassungsschutz – nach mehr als einem Jahrzehnt – den rechtsextremen Charakter der ganzen Partei festgestellt. Dieser Befund wird die Diskussion um ein eventuelles Parteiverbot neu beleben und der AfD weiteren Zulauf verschaffen, zumal wenn die neue Bundesregierung die Kriegswirtschaft mit Kanonen statt Butter vorantreibt. Autoritäre Tendenzen verstärken sich in allen Demokratien, wenn die soziopolitischen Verhältnisse nicht geändert werden und man auf rechte Argumente mit Verboten antwortet. Nach Ansicht des mit deutschen Verhältnissen vertrauten Philosophen und langjährigen Bürgermeisters von Venedig, Massimo Cacciari, käme die Regierungs-Entscheidung für ein Verbot der zweitstärksten Partei einem politischen Selbstmord gleich.
In Italien hat Regierungschef(in) Meloni es schwerer, die Menschen und Parteien von einer vermeintlichen Bedrohung aus dem Osten zu überzeugen und auf notwendige Rüstungsmilliarden einzustimmen, zumal das Land in den letzten zehn Jahren seinen Militäretat bereits verdoppelt hat; zwar auf niedrigerem Niveau als Deutschland, aber Italien ist bekanntlich in ein enges finanzielles Staatsschulden-Korsett gezwängt und überlebt seit langem unter dem Damoklesschwert der Finanzmärkte. Auch deshalb versucht Meloni, sich außenpolitisch zwischen USA und Europa durchzulavieren. Zwar soll sogar der EU-Aufbaufonds PNRR, den Italien für den Wiederaufbau nach Corona erhielt, nun auch für militärische Zwecke eingesetzt werden können, aber dass der ewig unausführbare Bau der Brücke nach Sizilien nun zur militärischen Notwendigkeit gemacht werden soll, wirkt grotesk – wie vieles andere heute.
Ein 80. Gedenken zu diesen Maitagen 1945 an die militärische Kapitulation vor den Alliierten und die durch sie erfolgte Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus unter Ausschluss von Veteranen aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zeugt noch von all den Abwehrmechanismen, die Alexander und Margarete Mitscherlich einst im Begriff der »Unfähigkeit zum Trauern« zusammenfassten und kommentiert sich daher von selbst: Schon wieder oder noch immer gilt Russland, der opferreichste alliierte Befreier, als großer Feind im Osten, gegen den wir uns zum dritten Mal zu Tode rüsten sollen.