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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Liberazione/​Befreiung

Die 80. Wie­der­kehr des 25. April, Tag der Libe­ra­zio­ne, der Befrei­ung von Faschis­mus und deut­scher Herr­schaft in Ita­li­en, war von den Anti­fa­schi­sten in ganz Ita­li­en mit gro­ßem Ein­satz vor­be­rei­tet wor­den. Das konn­te auch die ange­ord­ne­te Staats­trau­er für den Tod von Papst Fran­zis­kus, die von der post­fa­schi­sti­schen Regie­rung auf fünf Tage (22.-26. April) aus­ge­dehnt wur­de, nicht wesent­lich beein­träch­ti­gen, obwohl seit Jah­ren ver­sucht wird, die­sen eigent­li­chen Geburts­tag Nach­kriegs­ita­li­ens zu ver­wäs­sern. Vie­ler­orts soll­te sogar das Anstim­men von »Bel­la ciao« durch loka­le Ver­bo­te ver­hin­dert wer­den – wie auch das Zei­gen kom­mu­ni­sti­scher oder gar palä­sti­nen­si­scher Emble­me in den Demon­stra­ti­ons­zü­gen, die lan­des­weit Hun­dert­tau­sen­de in Bewe­gung setzten.

In Vene­dig, das erst am 28. April 1945 vom CLN (Comi­ta­to di Libe­ra­zio­ne Nazio­na­le), dem dama­li­gen natio­na­len Befrei­ungs­ko­mi­tee, von deut­scher Beset­zung und den Salò-Faschi­sten befreit wor­den war, gab es ein zwei­wö­chi­ges Begleit­pro­gramm mit Vor­trä­gen, Lesun­gen, Fil­men und Rund­gän­gen durch die Alt­stadt, ent­lang vie­ler Erin­ne­rungs­ta­feln, an denen sich die Tou­ri­sten­mas­sen übli­cher­wei­se ahnungs­los vorbeischieben.

Der »clas­se poli­ti­ca«, die Ita­li­en seit zwei­ein­halb Jah­ren regiert, gehö­ren all jene an, die 1945 nicht eine »wirk­li­che Auf­lö­sung der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem Regime und der Dis­zi­plin« (T.W. Ador­no) voll­zo­gen hat­ten. Erst sol­che Abkehr wur­de dann für den ent­schei­den­den Teil der Ita­lie­ner, die akti­ven Wider­stand lei­ste­ten, zur Grund­la­ge der demo­kra­ti­schen Repu­blik und ihrer anti­fa­schi­sti­schen Verfassung.

Die Maß­nah­men der aktu­el­len Melo­ni-Regie­rung, tag­täg­lich von wer­be­ähn­li­cher Pro­pa­gan­da über alte und neue Medi­en mit fakes beschö­nigt, fol­gen nach wie vor streng neo­li­be­ra­len Vor­ga­ben zu Lasten der unte­ren und mitt­le­ren Ein­kom­men – die Löh­ne in Ita­li­en gehö­ren seit Jahr­zehn­ten zu den nied­rig­sten in Euro­pa, und das staat­li­che Wel­fa­re-System steht inzwi­schen vor einem Abgrund. Auch die längst prak­ti­zier­ten Ein­schrän­kun­gen demo­kra­ti­scher Grund­rech­te wer­den fort­ge­setzt. Justiz- und Bil­dungs­sy­stem ste­hen im Fokus der Angrif­fe. Punk­tu­el­len Wider­stand dage­gen – sowie gegen immer wie­der vor­kom­men­de Über­grif­fe durch mili­tan­te Rechts­extre­me – gibt es viel­fach, aber eben bis­her kei­ne poli­tisch eini­ge Oppo­si­ti­on, die die­se Regie­rung zu Fall brin­gen könn­te – ein schlech­tes Zeug­nis nicht nur für die Oppo­si­ti­ons­par­tei­en, son­dern auch für das System, in dem sie agieren.

Erin­nert sei nur an das aktu­el­le Frank­reich, wo nicht ein­mal eine star­ke brei­te Links­front der Rechts­ent­wick­lung unter Macron und der extre­men Le Pen Herr wer­den konn­te. Die vor allem von den gro­ßen Gewerk­schaf­ten in lan­ger Pro­ze­dur ein­ge­brach­ten Volks­ab­stim­mun­gen, die am 8./9. Juni den Ita­lie­nern ermög­li­chen sol­len, über fünf Dekre­te zur Arbeits­ge­setz­ge­bung und zur Ein­bür­ge­rung mit­zu­be­stim­men, wur­den bis­her von den Medi­en weit­ge­hend beschwie­gen. Nun rief der stell­ver­tre­ten­de Regie­rungs­chef Taja­ni sogar zur Stimm-Ent­hal­tung auf – denn dann könn­te das nöti­ge Quo­rum von 50 Pro­zent ver­fehlt wer­den. Die Demo­kra­tie stirbt scheib­chen­wei­se, wie man aus der Wei­ma­rer Repu­blik weiß.

Ähn­li­che Ent­wick­lun­gen las­sen sich über­all im Westen ver­fol­gen: In allen libe­ra­len Nach­kriegs-Demo­kra­tien über­leb­ten Boden­sät­ze faschi­sti­scher bzw. rechts­extre­mer Kräf­te, die immer dann von nach­hal­ti­gen Kri­sen­si­tua­tio­nen ali­men­tiert wer­den, wenn es kei­ne lin­ken Alter­na­ti­ven (mehr) gibt. Von den USA selbst bis nach West- und Süd­eu­ro­pa zieht sich da eine lan­ge Linie bis hin in die ehe­ma­li­gen Ost­block­staa­ten, wo sofort in den 1990er Jah­ren rech­te Par­tei­en Fuß fassten.

In der BRD konn­ten sich rechts­extre­me Kräf­te über Jahr­zehn­te in ver­schie­de­nen poli­ti­schen For­ma­tio­nen erhal­ten (von SRP, DVU zu NPD und Repu­bli­ka­nern.) Nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung fand die­se Rech­te im Osten frucht­ba­res Ter­rain. Als 2013 die euro­pa­kri­ti­sche AfD aus ordo­li­be­ra­len Kräf­ten der poli­ti­schen Mit­te (CDU) ent­stand, konn­te die­se bald den sozia­len und poli­ti­schen Unmut der sich zuneh­mend nicht nur im Osten abge­hängt füh­len­den Bür­ger auf­neh­men und popu­li­stisch bedie­nen. Dem begeg­ne­ten die Regie­run­gen nicht poli­tisch-sozi­al vor Ort, son­dern lie­ßen die AfD anwach­sen, indem sie sich deren The­ma­tik eher anpass­ten. Das wur­de beson­ders deut­lich im jüng­sten Bun­des­tags­wahl­kampf: Als Sün­den­böcke für allen sozia­len Abstieg waren wie­der ein­mal Aus­län­der aus­ge­macht, heu­te die soge­nann­ten ille­ga­len Migran­ten, die inzwi­schen auch aus der gan­zen EU-Festung aus­ge­schlos­sen wer­den sol­len. Auch Asyl­su­chen­de sol­len nun ab sofort an den deut­schen Gren­zen auf­ge­hal­ten wer­den, so for­dert es der neue Kanz­ler Merz.

Es gibt immer mehr Poli­ti­ker, die die erdach­te Brand­mau­er gegen die erstark­te AfD-Frak­ti­on im Par­la­ment über­win­den wol­len – zwecks künf­ti­ger Koha­bi­ta­ti­on und admi­ni­stra­ti­ver Pra­xis auf loka­ler Ebe­ne. Aber nun hat der Ver­fas­sungs­schutz – nach mehr als einem Jahr­zehnt – den rechts­extre­men Cha­rak­ter der gan­zen Par­tei fest­ge­stellt. Die­ser Befund wird die Dis­kus­si­on um ein even­tu­el­les Par­tei­ver­bot neu bele­ben und der AfD wei­te­ren Zulauf ver­schaf­fen, zumal wenn die neue Bun­des­re­gie­rung die Kriegs­wirt­schaft mit Kano­nen statt But­ter vor­an­treibt. Auto­ri­tä­re Ten­den­zen ver­stär­ken sich in allen Demo­kra­tien, wenn die sozio­po­li­ti­schen Ver­hält­nis­se nicht geän­dert wer­den und man auf rech­te Argu­men­te mit Ver­bo­ten ant­wor­tet. Nach Ansicht des mit deut­schen Ver­hält­nis­sen ver­trau­ten Phi­lo­so­phen und lang­jäh­ri­gen Bür­ger­mei­sters von Vene­dig, Mas­si­mo Cac­cia­ri, käme die Regie­rungs-Ent­schei­dung für ein Ver­bot der zweit­stärk­sten Par­tei einem poli­ti­schen Selbst­mord gleich.

In Ita­li­en hat Regierungschef(in) Melo­ni es schwe­rer, die Men­schen und Par­tei­en von einer ver­meint­li­chen Bedro­hung aus dem Osten zu über­zeu­gen und auf not­wen­di­ge Rüstungs­mil­li­ar­den ein­zu­stim­men, zumal das Land in den letz­ten zehn Jah­ren sei­nen Mili­täre­tat bereits ver­dop­pelt hat; zwar auf nied­ri­ge­rem Niveau als Deutsch­land, aber Ita­li­en ist bekannt­lich in ein enges finan­zi­el­les Staats­schul­den-Kor­sett gezwängt und über­lebt seit lan­gem unter dem Damo­kles­schwert der Finanz­märk­te. Auch des­halb ver­sucht Melo­ni, sich außen­po­li­tisch zwi­schen USA und Euro­pa durch­zu­la­vie­ren. Zwar soll sogar der EU-Auf­bau­fonds PNRR, den Ita­li­en für den Wie­der­auf­bau nach Coro­na erhielt, nun auch für mili­tä­ri­sche Zwecke ein­ge­setzt wer­den kön­nen, aber dass der ewig unaus­führ­ba­re Bau der Brücke nach Sizi­li­en nun zur mili­tä­ri­schen Not­wen­dig­keit gemacht wer­den soll, wirkt gro­tesk – wie vie­les ande­re heute.

Ein 80. Geden­ken zu die­sen Mai­ta­gen 1945 an die mili­tä­ri­sche Kapi­tu­la­ti­on vor den Alli­ier­ten und die durch sie erfolg­te Befrei­ung Deutsch­lands vom Natio­nal­so­zia­lis­mus unter Aus­schluss von Vete­ra­nen aus den Nach­fol­ge­staa­ten der Sowjet­uni­on zeugt noch von all den Abwehr­me­cha­nis­men, die Alex­an­der und Mar­ga­re­te Mit­scher­lich einst im Begriff der »Unfä­hig­keit zum Trau­ern« zusam­men­fass­ten und kom­men­tiert sich daher von selbst: Schon wie­der oder noch immer gilt Russ­land, der opfer­reich­ste alli­ier­te Befrei­er, als gro­ßer Feind im Osten, gegen den wir uns zum drit­ten Mal zu Tode rüsten sollen.