Klar, Karl Marx war auch nur ein Mensch. Also jemand, der wie andere Menschen Fehler machte, der Schwächen hatte und nicht perfekt war. Der vieles nicht zu Ende brachte, was er sich vorgenommen hatte. Der in seinem Handeln stark von Gefühlen beeinflusst und mit den Jahren derart zu einem Solitär wurde, dass er keine anderen Götter neben sich dulden konnte. Er war halt »ein prototypisches Alphatier, getrieben von einem brennenden intellektuellen Ehrgeiz und unfähig, andere als gleichrangig zu akzeptieren«.
Klar, Karl Marx war ein Genie. Das hatte Vater Heinrich schon früh erkannt. Selbst als er in einem Brief dem 19-jährigen studierenden Sohn »Ordnungslosigkeit, dumpfes Herumschweben in allen Teilen des Wissens, (…) Verwilderung im gelehrten Schlafrock« vorwarf, zeigte er gleichzeitig Hochachtung für die Talente seines Ältesten und bescheinigte ihm »Genie«.
Diese ambivalenten Wesenszüge des Menschen Karl Marx, der als Philosoph, Ökonom und Soziologe auch heute noch für die einen »der Ideologe des repressiven Realsozialismus, für die anderen ein scharfsinniger Analytiker und Vorkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit ist« (Philosophie-Magazin, Sonderausgabe »Marx«, Frühjahr 2025), hat der Schriftsteller und Journalist Uwe Wittstock in seinem Ende März erschienenen Buch »Karl Marx in Algier« präzise herausgearbeitet. Das Buch ist ein Upgrade, eine erweitere Fassung der schon 2018 zum 200. Geburtstag vorgelegten Biografie »Karl Marx beim Barbier in Algier«.
Am 18. Februar 1882 hatte Karl Marx in Marseille das Dampfschiff Said mit dem Ziel Algier bestiegen, wo er nach 34 Stunden am 20. Februar »um halb Vier in der Früh« ankam. Eine ungemütliche Überfahrt lag hinter ihm: »Es war kalt in der Kabine, der Lärm aus dem Kesselraum war diabolisch gewesen, dazu der Wind, der Seegang.« Es war das erste Mal, dass Marx Europa verließ, und es wird das einzige Mal bleiben. Elf Monate später, am 14. März 1883, wird Marx in London kurz vor seinem 65. Geburtstag sterben.
Marx war krank. Der Arzt hatte eine Pleuritis diagnostiziert, eine Rippenfellentzündung, sowie eine hartnäckige Bronchitis und hatte einen Aufenthalt außerhalb Englands fernab des feuchten Winterwetters in mildem Klima angeregt. Doch das war schneller gesagt als getan. Marx war Staatenloser, hatte seit Jahrzehnten keinen Pass mehr und musste in vielen europäischen Ländern mit Schwierigkeiten, gar mit einer Verhaftung rechnen. Frankreich jedoch stand ihm offen, die neue Regierung hatte eine Amnestie für politische Flüchtlinge erlassen.
Das kolonialisierte Algerien war zu der Zeit integraler Bestandteil des französischen Mutterlandes und galt als idealer Ort für Lungenkranke. So kam es zur Reise nach Algier. Doch als Marx dort ankam, war von der erhofften, belebenden Wärme Afrikas nichts zu spüren, und er fror, trotz der warmen Kleidung, die er schon in England getragen hatte.
Für die Neuausgabe seines Buches konnte Wittstock auf bisher nicht publizierte Quellen zurückgreifen. Das Russische Staatsarchiv für sozio-politische Geschichte, Moskau, hat ihm zwölf bislang unveröffentlichte Briefe der Töchter von Karl Marx an ihren Vater oder an Friedrich Engels aus dem Jahr 1882 zur Verfügung gestellt. Reiseberichte aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts halfen dem Autor, sich im Algier zur Zeit von Marx‘ Aufenthalt zurechtzufinden. Zusammen mit zeitgenössischen botanischen Aufsätzen über den Frühling in der nordafrikanischen Region lieferten sie den Hintergrund für ein historisch stimmiges Lokalkolorit.
Mit Europa hat Marx, so Wittstock, »die ideologischen Schlachtfelder hinter sich gelassen«, auch weil ihm der Arzt jegliche geistige Anstrengung verboten hatte. Was blieb ihm da in dem zehn Wochen dauernden Algier-Aufenthalt anderes übrig, als sich Erinnerungen hinzugeben: an seine Ehefrau Jenny, geborene von Westphalen, Schwester des preußischen Innenministers, die schon seine Jugendfreundin und mit der er sieben Jahre verlobt und fast 38 Jahre verheiratet gewesen war; Jenny war drei Monate zuvor in London im Alter von 67 Jahren gestorben, und ihr Tod hat ihn spürbar mitgenommen; Erinnerungen an die wilden Studentenjahre in Bonn, wo er Rechtswissenschaft studiert, und Berlin, wo er Philosophie und Geschichte studiert hatte, und an seine ersten poetischen Ambitionen; an das Revolutionsjahr 1848, an die Tage der Pariser Kommune (1871), vor allem aber an die Zumutungen der andauernden Armut, in der die Familie Marx gelebt hatte, denn: »In ökonomischer Hinsicht war Marx‘ Leben ein Desaster.«
Wittstock schildert Wegmarken, getreu der historischen Fakten: Marx‘ Zeit als Redakteur bei der Rheinischen Zeitung in Köln; die Übersiedlung nach Paris (1843), wo er gemeinsam mit Friedrich Engels, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verbinden sollte, die Grundgedanken des Theoriegebäudes entwickelte, das später »materialistische Geschichtsauffassung und wissenschaftlicher Sozialismus« genannt werden sollte. Wittstock beschreibt Marx’ Eintritt in den »Bund der Kommunisten« in Brüssel (1847), in dessen Auftrag er das »Kommunistische Manifest« verfasste, in dem der Kerngedanke formuliert ist, die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften sei die Geschichte von Klassenkämpfen gewesen (Erstveröffentlichung Februar 1848). Die Jahre der Familie Marx im Exil in London (ab 1849) schließen sich an.
Diese Etappen verknüpft Wittstock mit der Entstehung, Darstellung und Erklärung der scharfsinnigen Analysen und Schriften, der philosophischen Ideen, des intellektuellen Vermächtnisses des Denkers Karl Marx, und dieser Mix aus Reisebericht und Biografie macht das Buch besonders reizvoll.
Der Aufsatz »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« des 25-Jährigen aus den Jahren 1843/44 ist für Wittstock »der Auftakt zu Marx’ Genie-Phase«. Über die Frage, warum Marx sein Hauptwerk, das »Kapital«, unvollendet liegen ließ, kann auch Wittstock nur spekulieren. 1867 erschien der erste Band, der zweite und der dritte Band wurden posthum und unvollendet von Friedrich Engels herausgegeben.
Ebenso kann nur spekuliert werden, woher der vehemente Antisemitismus kommt, wie er besonders in der Schrift »Zur Judenfrage« (1844) hervortritt. Wittstock: »Marx ließ sich zu Sätzen hinreißen, die schon auf Zeitgenossen einen wenig differenzierten Eindruck gemacht haben dürften und die heute schlicht katastrophal klingen. (…) Das alles liest sich, als habe Marx einen ganzen Katalog klassischer linker antisemitischer Ressentiments möglichst lückenlos abarbeiten wollen. «
Trotz alledem, Wittstock positioniert sich, wenn er schreibt, Marx’ »präzise Darstellung des Kapitalismus als eines tendenziell ebenso grenzen- wie gnadenlosen Verwertungssystems sei noch heute überzeugend«. Vor allem aber habe er »der Moderne einen Gedanken hinzugefügt, der heute so selbstverständlich geworden ist, dass er kaum noch wahrgenommen wird: Die Analyse jedes beliebigen Phänomens der menschlichen Existenz bleibt unvollständig, solange die materiellen Grundlagen im Wirtschaftsgefüge der Gesellschaft nicht berücksichtigt werden.« Damit habe Marx »für alle nachfolgenden Generationen ein Instrument des Denkens (geschaffen), das ihren intellektuellen Horizont entscheidend erweitert hat«.
Zurück nach Algier. Der zehnwöchige Kuraufenthalt geht zu Ende, ohne durchschlagenden Erfolg. Das Dampfschiff Peluse ist schon aus Marseille eingetroffen. In diesen letzten Tagen des April 1882 fasst der berühmte Revolutionär den Entschluss, sich rasieren und die Frisur stutzen zu lassen, sich von Bart und Mähne zu trennen, die »längst zum Abbild eines mächtigen Hauptes verschmolzen waren« und ohne die ihn niemand kannte, auch nicht die eigene Familie. Daher geht Marz zunächst zu einem Fotografen. Das dort entstandene Foto, schreibt Wittstock, »zeigt Marx mit lächelndem, leicht ironischem Blick. (…) Marx wirkt darauf wie ein selbstbewusster, aber gütiger Großvater, nicht wie ein Denker, der mit grundstürzenden Ideen die Welt verändern will.« Nach dem Fotografen ist der Barbier an der Reihe.
Warum ließ Marx sich seine Mähne scheren und den Rauschebart abnehmen? Als Eingeständnis, »sich nicht mehr als Propheten betrachten (zu wollen), da die eigenen Zweifel an seinen politischen Prognosen zu groß« geworden waren, wie Wittstock spekuliert? Oder hat er es mit dem lateinischen Schriftsteller Aulus Gellius gehalten, für den »ein Bart noch lange keinen Philosophen« machte? Vielleicht ist die Antwort aber doch viel banaler, vielleicht war dem alten, kranken Marx die Pflege der doppelten Haarpracht zu umständlich, zu lästig, zu mühselig geworden.
Wie es auch sei, die »Raben von London« werden ihren »Mohr« nicht wiedererkannt haben.
Uwe Wittstock: Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs, C.H.Beck, München 2025, 249 S., 26 €. – Siehe auch Ossietzky 11/2024, Wittstock: Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur. – »Mohr und die Raben von London« war ein erstmals 1962 in der DDR erschienener Jugendroman des Schriftsteller-Ehepaares Ilse und Vilmos Korn. Mit den »Raben« waren Kinder gemeint, die Marx wegen dessen dunklem Bart und der üppigen Mähne den Spitznamen »Mohr« gegeben hatten.