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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mohr ohne Bart

Klar, Karl Marx war auch nur ein Mensch. Also jemand, der wie ande­re Men­schen Feh­ler mach­te, der Schwä­chen hat­te und nicht per­fekt war. Der vie­les nicht zu Ende brach­te, was er sich vor­ge­nom­men hat­te. Der in sei­nem Han­deln stark von Gefüh­len beein­flusst und mit den Jah­ren der­art zu einem Soli­tär wur­de, dass er kei­ne ande­ren Göt­ter neben sich dul­den konn­te. Er war halt »ein pro­to­ty­pi­sches Alpha­tier, getrie­ben von einem bren­nen­den intel­lek­tu­el­len Ehr­geiz und unfä­hig, ande­re als gleich­ran­gig zu akzeptieren«.

Klar, Karl Marx war ein Genie. Das hat­te Vater Hein­rich schon früh erkannt. Selbst als er in einem Brief dem 19-jäh­ri­gen stu­die­ren­den Sohn »Ord­nungs­lo­sig­keit, dump­fes Her­um­schwe­ben in allen Tei­len des Wis­sens, (…) Ver­wil­de­rung im gelehr­ten Schlaf­rock« vor­warf, zeig­te er gleich­zei­tig Hoch­ach­tung für die Talen­te sei­nes Älte­sten und beschei­nig­te ihm »Genie«.

Die­se ambi­va­len­ten Wesens­zü­ge des Men­schen Karl Marx, der als Phi­lo­soph, Öko­nom und Sozio­lo­ge auch heu­te noch für die einen »der Ideo­lo­ge des repres­si­ven Real­so­zia­lis­mus, für die ande­ren ein scharf­sin­ni­ger Ana­ly­ti­ker und Vor­kämp­fer für Frei­heit und Gerech­tig­keit ist« (Phi­lo­so­phie-Maga­zin, Son­der­aus­ga­be »Marx«, Früh­jahr 2025), hat der Schrift­stel­ler und Jour­na­list Uwe Witt­stock in sei­nem Ende März erschie­ne­nen Buch »Karl Marx in Algier« prä­zi­se her­aus­ge­ar­bei­tet. Das Buch ist ein Upgrade, eine erwei­te­re Fas­sung der schon 2018 zum 200. Geburts­tag vor­ge­leg­ten Bio­gra­fie »Karl Marx beim Bar­bier in Algier«.

Am 18. Febru­ar 1882 hat­te Karl Marx in Mar­seil­le das Dampf­schiff Said mit dem Ziel Algier bestie­gen, wo er nach 34 Stun­den am 20. Febru­ar »um halb Vier in der Früh« ankam. Eine unge­müt­li­che Über­fahrt lag hin­ter ihm: »Es war kalt in der Kabi­ne, der Lärm aus dem Kes­sel­raum war dia­bo­lisch gewe­sen, dazu der Wind, der See­gang.« Es war das erste Mal, dass Marx Euro­pa ver­ließ, und es wird das ein­zi­ge Mal blei­ben. Elf Mona­te spä­ter, am 14. März 1883, wird Marx in Lon­don kurz vor sei­nem 65. Geburts­tag sterben.

Marx war krank. Der Arzt hat­te eine Pleu­ri­tis dia­gno­sti­ziert, eine Rip­pen­fell­ent­zün­dung, sowie eine hart­näcki­ge Bron­chi­tis und hat­te einen Auf­ent­halt außer­halb Eng­lands fern­ab des feuch­ten Win­ter­wet­ters in mil­dem Kli­ma ange­regt. Doch das war schnel­ler gesagt als getan. Marx war Staa­ten­lo­ser, hat­te seit Jahr­zehn­ten kei­nen Pass mehr und muss­te in vie­len euro­päi­schen Län­dern mit Schwie­rig­kei­ten, gar mit einer Ver­haf­tung rech­nen. Frank­reich jedoch stand ihm offen, die neue Regie­rung hat­te eine Amne­stie für poli­ti­sche Flücht­lin­ge erlassen.

Das kolo­nia­li­sier­te Alge­ri­en war zu der Zeit inte­gra­ler Bestand­teil des fran­zö­si­schen Mut­ter­lan­des und galt als idea­ler Ort für Lun­gen­kran­ke. So kam es zur Rei­se nach Algier. Doch als Marx dort ankam, war von der erhoff­ten, bele­ben­den Wär­me Afri­kas nichts zu spü­ren, und er fror, trotz der war­men Klei­dung, die er schon in Eng­land getra­gen hatte.

Für die Neu­aus­ga­be sei­nes Buches konn­te Witt­stock auf bis­her nicht publi­zier­te Quel­len zurück­grei­fen. Das Rus­si­sche Staats­ar­chiv für sozio-poli­ti­sche Geschich­te, Mos­kau, hat ihm zwölf bis­lang unver­öf­fent­lich­te Brie­fe der Töch­ter von Karl Marx an ihren Vater oder an Fried­rich Engels aus dem Jahr 1882 zur Ver­fü­gung gestellt. Rei­se­be­rich­te aus der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts hal­fen dem Autor, sich im Algier zur Zeit von Marx‘ Auf­ent­halt zurecht­zu­fin­den. Zusam­men mit zeit­ge­nös­si­schen bota­ni­schen Auf­sät­zen über den Früh­ling in der nord­afri­ka­ni­schen Regi­on lie­fer­ten sie den Hin­ter­grund für ein histo­risch stim­mi­ges Lokalkolorit.

Mit Euro­pa hat Marx, so Witt­stock, »die ideo­lo­gi­schen Schlacht­fel­der hin­ter sich gelas­sen«, auch weil ihm der Arzt jeg­li­che gei­sti­ge Anstren­gung ver­bo­ten hat­te. Was blieb ihm da in dem zehn Wochen dau­ern­den Algier-Auf­ent­halt ande­res übrig, als sich Erin­ne­run­gen hin­zu­ge­ben: an sei­ne Ehe­frau Jen­ny, gebo­re­ne von West­pha­len, Schwe­ster des preu­ßi­schen Innen­mi­ni­sters, die schon sei­ne Jugend­freun­din und mit der er sie­ben Jah­re ver­lobt und fast 38 Jah­re ver­hei­ra­tet gewe­sen war; Jen­ny war drei Mona­te zuvor in Lon­don im Alter von 67 Jah­ren gestor­ben, und ihr Tod hat ihn spür­bar mit­ge­nom­men; Erin­ne­run­gen an die wil­den Stu­den­ten­jah­re in Bonn, wo er Rechts­wis­sen­schaft stu­diert, und Ber­lin, wo er Phi­lo­so­phie und Geschich­te stu­diert hat­te, und an sei­ne ersten poe­ti­schen Ambi­tio­nen; an das Revo­lu­ti­ons­jahr 1848, an die Tage der Pari­ser Kom­mu­ne (1871), vor allem aber an die Zumu­tun­gen der andau­ern­den Armut, in der die Fami­lie Marx gelebt hat­te, denn: »In öko­no­mi­scher Hin­sicht war Marx‘ Leben ein Desaster.«

Witt­stock schil­dert Weg­mar­ken, getreu der histo­ri­schen Fak­ten: Marx‘ Zeit als Redak­teur bei der Rhei­ni­schen Zei­tung in Köln; die Über­sied­lung nach Paris (1843), wo er gemein­sam mit Fried­rich Engels, mit dem ihn eine lebens­lan­ge Freund­schaft ver­bin­den soll­te, die Grund­ge­dan­ken des Theo­rie­ge­bäu­des ent­wickel­te, das spä­ter »mate­ria­li­sti­sche Geschichts­auf­fas­sung und wis­sen­schaft­li­cher Sozia­lis­mus« genannt wer­den soll­te. Witt­stock beschreibt Marx’ Ein­tritt in den »Bund der Kom­mu­ni­sten« in Brüs­sel (1847), in des­sen Auf­trag er das »Kom­mu­ni­sti­sche Mani­fest« ver­fass­te, in dem der Kern­ge­dan­ke for­mu­liert ist, die Geschich­te aller bis­he­ri­gen Gesell­schaf­ten sei die Geschich­te von Klas­sen­kämp­fen gewe­sen (Erst­ver­öf­fent­li­chung Febru­ar 1848). Die Jah­re der Fami­lie Marx im Exil in Lon­don (ab 1849) schlie­ßen sich an.

Die­se Etap­pen ver­knüpft Witt­stock mit der Ent­ste­hung, Dar­stel­lung und Erklä­rung der scharf­sin­ni­gen Ana­ly­sen und Schrif­ten, der phi­lo­so­phi­schen Ideen, des intel­lek­tu­el­len Ver­mächt­nis­ses des Den­kers Karl Marx, und die­ser Mix aus Rei­se­be­richt und Bio­gra­fie macht das Buch beson­ders reizvoll.

Der Auf­satz »Zur Kri­tik der Hegel­schen Rechts­phi­lo­so­phie« des 25-Jäh­ri­gen aus den Jah­ren 1843/​44 ist für Witt­stock »der Auf­takt zu Marx’ Genie-Pha­se«. Über die Fra­ge, war­um Marx sein Haupt­werk, das »Kapi­tal«, unvoll­endet lie­gen ließ, kann auch Witt­stock nur spe­ku­lie­ren. 1867 erschien der erste Band, der zwei­te und der drit­te Band wur­den post­hum und unvoll­endet von Fried­rich Engels herausgegeben.

Eben­so kann nur spe­ku­liert wer­den, woher der vehe­men­te Anti­se­mi­tis­mus kommt, wie er beson­ders in der Schrift »Zur Juden­fra­ge« (1844) her­vor­tritt. Witt­stock: »Marx ließ sich zu Sät­zen hin­rei­ßen, die schon auf Zeit­ge­nos­sen einen wenig dif­fe­ren­zier­ten Ein­druck gemacht haben dürf­ten und die heu­te schlicht kata­stro­phal klin­gen. (…) Das alles liest sich, als habe Marx einen gan­zen Kata­log klas­si­scher lin­ker anti­se­mi­ti­scher Res­sen­ti­ments mög­lichst lücken­los abar­bei­ten wollen. «

Trotz alle­dem, Witt­stock posi­tio­niert sich, wenn er schreibt, Marx’ »prä­zi­se Dar­stel­lung des Kapi­ta­lis­mus als eines ten­den­zi­ell eben­so gren­zen- wie gna­den­lo­sen Ver­wer­tungs­sy­stems sei noch heu­te über­zeu­gend«. Vor allem aber habe er »der Moder­ne einen Gedan­ken hin­zu­ge­fügt, der heu­te so selbst­ver­ständ­lich gewor­den ist, dass er kaum noch wahr­ge­nom­men wird: Die Ana­ly­se jedes belie­bi­gen Phä­no­mens der mensch­li­chen Exi­stenz bleibt unvoll­stän­dig, solan­ge die mate­ri­el­len Grund­la­gen im Wirt­schafts­ge­fü­ge der Gesell­schaft nicht berück­sich­tigt wer­den.« Damit habe Marx »für alle nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen ein Instru­ment des Den­kens (geschaf­fen), das ihren intel­lek­tu­el­len Hori­zont ent­schei­dend erwei­tert hat«.

Zurück nach Algier. Der zehn­wö­chi­ge Kur­auf­ent­halt geht zu Ende, ohne durch­schla­gen­den Erfolg. Das Dampf­schiff Pel­u­se ist schon aus Mar­seil­le ein­ge­trof­fen. In die­sen letz­ten Tagen des April 1882 fasst der berühm­te Revo­lu­tio­när den Ent­schluss, sich rasie­ren und die Fri­sur stut­zen zu las­sen, sich von Bart und Mäh­ne zu tren­nen, die »längst zum Abbild eines mäch­ti­gen Haup­tes ver­schmol­zen waren« und ohne die ihn nie­mand kann­te, auch nicht die eige­ne Fami­lie. Daher geht Marz zunächst zu einem Foto­gra­fen. Das dort ent­stan­de­ne Foto, schreibt Witt­stock, »zeigt Marx mit lächeln­dem, leicht iro­ni­schem Blick. (…) Marx wirkt dar­auf wie ein selbst­be­wuss­ter, aber güti­ger Groß­va­ter, nicht wie ein Den­ker, der mit grund­stür­zen­den Ideen die Welt ver­än­dern will.« Nach dem Foto­gra­fen ist der Bar­bier an der Reihe.

War­um ließ Marx sich sei­ne Mäh­ne sche­ren und den Rau­sche­bart abneh­men? Als Ein­ge­ständ­nis, »sich nicht mehr als Pro­phe­ten betrach­ten (zu wol­len), da die eige­nen Zwei­fel an sei­nen poli­ti­schen Pro­gno­sen zu groß« gewor­den waren, wie Witt­stock spe­ku­liert? Oder hat er es mit dem latei­ni­schen Schrift­stel­ler Aulus Gel­li­us gehal­ten, für den »ein Bart noch lan­ge kei­nen Phi­lo­so­phen« mach­te? Viel­leicht ist die Ant­wort aber doch viel bana­ler, viel­leicht war dem alten, kran­ken Marx die Pfle­ge der dop­pel­ten Haar­pracht zu umständ­lich, zu lästig, zu müh­se­lig geworden.

Wie es auch sei, die »Raben von Lon­don« wer­den ihren »Mohr« nicht wie­der­erkannt haben.

 Uwe Witt­stock: Karl Marx in Algier. Leben und letz­te Rei­se eines Revo­lu­tio­närs, C.H.Beck, Mün­chen 2025, 249 S., 26 €. – Sie­he auch Ossietzky 11/​2024, Witt­stock: Mar­seil­le 1940. Die gro­ße Flucht der Lite­ra­tur. – »Mohr und die Raben von Lon­don« war ein erst­mals 1962 in der DDR erschie­ne­ner Jugend­ro­man des Schrift­stel­ler-Ehe­paa­res Ilse und Vil­mos Korn. Mit den »Raben« waren Kin­der gemeint, die Marx wegen des­sen dunk­lem Bart und der üppi­gen Mäh­ne den Spitz­na­men »Mohr« gege­ben hatten.